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Entlang den Hecken

Paris, Febr. 18..

Freund!

In mein Traumleben hinein fiel – wie der Stein in einen schlafenden Teich – Dein Brief aus der Sommerzeit. Sofort fesselte mich jene Kraftstelle, die da lautet:

»Ich beglückwünsche Dich, daß Du wiederum zu dem Entschlusse gekommen, die Ferienzeit auf dem Gute Deines Onkels zuzubringen. Ich beglückwünsche Dich, weil ich annehmen muß, daß Du nun endlich Ernst machen, Cousine Annie bei der Hand nehmen und sie bitten wirst, Dir besagte kleine Hand gnädigst fürs Leben überlassen zu wollen. Nach erhaltener Erlaubnis wirst Du guttun, niederzuknien und Verzeihung dafür zu erflehen, daß Du bisher ein blinder, blöder Tor gewesen, der jahrelang dahingeschlendert ist, ohne das Geheimnis eines vollen, scheuen Frauenherzens, sowie die Wünsche der guten, alten Eltern im mindesten erraten zu haben, durch welche Traumduselei – Duselei ist stark, lieber Freund, – er allen und vornehmlich sich selbst auf unverantwortliche Weise im Wege gestanden. Danke ferner Gott, daß er das Frauenherz so geduldig im Harren, Cousine Annie für mich viel zu reich erschuf, und Dir noch gerade in der zwölften Stunde ein Licht aufgehen ließ. Merke Dir, Querido: Das Leben ist zum Wachen und nicht zum Dahindämmern geschaffen; zur Ruhe überhaupt wenig geeignet. Es verträumen, heißt so viel als es verlieren, und verträumtes Leben kehrt ebensowenig wieder, als verscherztes Glück.«

Als ich Deine Zeilen gelesen, steckte ich nachdenklich die Partitur meiner Sinfonie, vor der ich sinnend gesessen, in das Schubfach, wo sie gewöhnlich zu ruhen pflegt (seit drei Jahren bemühe ich mich nämlich erfolglos, den geeigneten Schlußsatz aufzufinden); dann trat ich ans Fenster. Cousine Annie meine Frau! Wie konnte es zugehen, daß sie's nicht schon längst war? Ich überflog im Geiste die Zeit, die ich in ihrer Nähe gelebt, verträumt, versungen – eine Fülle kleiner Begebenheiten, die mir unwichtig erschienen und halb entfallen waren, gewannen plötzlich neue, tiefe, holde Bedeutung. Cousine Annie war ja eigentlich für mich erzogen worden … war ich denn betört gewesen, betäubt und blind, daß ich so lange hingehen konnte neben ihr, ohne niederzufallen und zu sagen: Annie, sei mein? Und die Jahre rannen, während ich's nicht tat, und sie scherzte, lachte und litt doch heimlich, wurde immer schöner, immer stiller …

O, hab Dank, Freund, für Deine kaustische Mahnung, und Dank Dir, mein Gott, daß es noch nicht zu spät ist!

Ich schlug die Vorhänge zurück in seligem, tiefem Sinnen. Um die Dächer zwitscherten Schwalben, mit schwachem Schrei durchs Abendrot schießend; vom Simeonsturm klang tief und leise das Ave. Als es ganz dunkel geworden war, setzte ich mich an den Flügel, um ausstürmen zu lassen, was in mir wogte. Es stürmte auch breit genug aus den Tasten, doch eine Weise kehrte immer und immer wieder. Es war eine neue Melodie zu einem alten Liede, das da endet:

»Es redet die trunkene Ferne
Mir von künftigem, großem Glück.«

Doch genug davon. Reiseselig vertraute ich mich am nächsten Morgen der Extrapost an, frischen und leichteren Herzens als je. Ich freute mich über Dinge, die ich früher nie beachtet haben würde: über die dicken, schweifwedelnden Pferde, über die vorlauten, streitsüchtigen Sperlinge im Posthofe, über die Gesichter vornehmlich, welche beim Rasseln des Wagens schlaftrunken, die verschiedenartigsten Stimmungen widerspiegelnd, an den Fenstern erschienen. Den Straßenkindern warf ich Kupfermünzen zu, und tauschte Grüße mit den Frauen, die zu Markte zogen; selbst die schnurgerade, langweilige Chaussee, auf der wir langsam dahinrollten, vermochte nicht meinen unzerstörbaren Frohsinn herabzustimmen. Bald wurden die Pferde gewechselt, und plötzlich verließ der Wagen die Chaussee, mit sanftem Stoße in einen gut gehaltenen Landweg einbiegend. Und dann ging's durch das wohlbekannte, liebe Gelände mit seinen Höhenzügen, darauf unabsehbar das schwere, goldene Korn wogte. Durch dieses zog sich fernab eine bunte, gestreckte Linie; das waren Schnitter, die sich gegen die wogende Mauer bewegten, eine gelbe, staubdurchzitterte Leere hinter sich lassend. Dann blitzte, bei einer Biegung, der See hervor aus dem Grunde, und drüber hob sich das Schlößchen mit seinen spitzen Dächern, glänzend herauslachend aus den Blättermassen, aus dem dunklen Wipfelgewirr des Parkes. Schon ging es die Steinmauern entlang, vorüber an offenen Gittertoren … in der Gartentiefe sah ich's aufleuchten, wie von einem weißen Kleide, sah gleich darauf über dem Einfahrtstor ein vom Laufen gerötetes Köpfchen lugen, welches, als es den Insassen der Kutsche erkannt, fast erschrocken in der Rankenwildnis untertauchte … dann bog der Wagen rasselnd in den stillen Schloßhof; ich schwenkte zum Schlage hinaus den breiten Kalabreser, am Erkerfenster erschien die Tante mit dem guten, ängstlichen Gesichte, sah mich, erhob die Hände und verschwand; aus ihrer Mittagsruhe geschreckt, bellten die Hofhunde, rissen wie toll an ihren Ketten, und über alles hinweg blies der Postillon mit den schmetterndsten Klängen:

»Wann ich komm', wann ich komm', wann ich wiederum komm',
Dann soll die Hochzeit sein –«

Das war mein Einzug in Schloß Friedeck. Eine halbe Minute später zerknitterte ich auf unheilbare Weise das zierliche, gesteifte Häubchen der Tante, die ihr »liebes, liebes Kind« diesmal ganz besonders innig begrüßte, und ging alsdann in die Arme des Onkels über, der sichtlich überrascht, sehr atemlos und mit einer zerstochenen, hochaufgeschwollenen Backe von seinen Bienenkörben herbeigeeilt kam. Nach dem ersten Begrüßungssturme deutete ich lachend auf meine Reisebekleidung, sowie auf die Stutzuhr, deren Zeiger bedenklich der üblichen Tischzeit entgegenrückten, und eilte dem Pavillon zu, dessen unteres Stockwerk ich seit Jahren zu beziehen gewohnt war.

Diesen Pavillon trennten vom Hauptgebäude nur ein paar Kieswege und Blumenbeete. Ich konnte mich nicht enthalten, über eins der letzteren einen Freudensprung zu wagen, auf die Gefahr hin, in eine Masse starkduftender, blauroter Levkojen zu fallen; dann blieb ich verwundert stehen. Die Gastzimmer, welche über den meinen lagen, waren entschieden bewohnt; die Fenster standen weit offen, aus einem derselben zog, gegen die Sonnenstäubchen anspielend, eine feine blaue Tabakswolke. Eine schöne weißgelbe Bracke lief auf mich zu, blieb stehen, witterte, zog die Nase kraus und lief wedelnd nach dem Hause zurück. »Ist Besuch gekommen?« frug ich den alten Joseph, der meine Sachen trug, halblaut und nicht zum angenehmsten überrascht.

»Besuch gekommen, zu Befehl«, meldete dieser. »Der Herr Assessor sind schon seit einigen Tagen hier, werden aber, wie ich gehört habe, bald wieder abreisen.«

»So, der Assessor«, sagte ich aufatmend und erfreut.

Der Assessor, mußt Du wissen, ist ein liebenswürdiger, talentvoller Mensch, dessen Ratschlägen der Onkel, welcher ja infolge seiner Gutmütigkeit ewige Scherereien und Prozesse hat, manches verdankt. Der Assessor soll eine brillante Zukunft haben, dennoch ist er die Harmlosigkeit selbst. Über die Schüchternheit, Zerstreutheit und Träumerei, die er oft an den Tag legt, habe ich früher zuweilen herzlich lachen müssen.

Ich beschloß, ihn von meiner Anwesenheit sofort in Kenntnis zu setzen. Rasch waren zwei Handvoll der prächtigen Levkojen zusammengebunden, und gleich darauf sauste der schwere Strauß mit großer Gewalt durch die windgeblähten Fenstervorhänge. Kaum hatte ich den Aufschlag vernommen, als auch bereits der Assessor zwischen besagten Vorhängen erschien, in wilder Hast, und mit einem Gesichte, das mir höchst erwartungsvoll vorkam, bei meinem Anblicke jedoch sämtliche Phasen der verschiedenartigsten Gefühlsregungen durchlief, worauf es den Ausdruck ganz unendlicher Verblüfftheit annahm und zum Schlusse heiß errötete.

Ich weiß nicht, wie mir der tolle Einfall kam, allein ich rief ihm laut lachend zu:

»Cousine Annie hat's getan, Cousine Annie.«

»Annie … Annie …« antwortete das Echo; einmal mitflatternd um die Zinnen, das zweite Mal fernher, tief aus dem Parke. Der Assessor drückte die Hände verlegen an die Brust, und schickte einen Blick zum Himmel, in welchem deutlich der Wunsch zu lesen war, daß meine frevelhafte Behauptung ohne fernere unnötige Wiederholung und besonders, ohne von drüben aus vernommen zu werden, verhallen möge.

Eine Stunde später trat ich frisch und strahlend ins Gartenzimmer, woselbst man sich vor Tische zu versammeln pflegt. Tante und Onkel waren pünktlich zur Stelle, gleich darauf rauschte Annie herein, ging gerade auf mich zu und reichte mir mit herzlichem Blicke beide Hände. Sie trug ein weißes, schleppendes Kleid, an der Schulter einen Strauß von Heliotrop und Stechblättern. Sie war schöner als je, in ihrer Art zu reden lag etwas ungewöhnlich Weiches und Liebes. Während wir plauderten, lief der Onkel mit einer Unruhe auf und ab, welche ich daraufhin zurückzuführen suchte, daß die übliche Tischzeit bereits um volle zehn Minuten überschritten war. Von dem unglücklichen Assessor war noch nichts zu sehen, offenbar hatte er wieder einmal die Zeit verpaßt. Endlich erschien er, vom alten Joseph herbeigeholt, und küßte, vermutlich um seine Verzeihung zu erflehen, der Tante und sogar Cousine Annie wortlos die Hand. Mich erfreute er durch einen äußerst heftigen Druck der Rechten, wobei er seltsamerweise abermals und anhaltend errötete.

Dann gings in den Eßsaal, auf dessen grauleinene Jalousien die Nachmittagssonne brannte. Ein mächtiger Blumenkorb zierte die Tafel, in den tönernen Kühlern fror der leichte Landwein, einzelne geschliffene Karaffen voll dunklem Bordeaux warfen rote Lichter über die schimmernden Gedecke. Ich erhielt den lieben, gewohnten Platz an Annies Seite und fühlte mich glücklich und sicher wie nie zuvor. Fortgerissen von göttlichem Frohsinne, sprach ich von hundert Dingen, pries meine berühmte, unfertige Sinfonie, nach deren Ergehen man nicht unterließ sich teilnahmsvoll zu erkundigen, und neckte den Assessor, der dem Feuerwerke gegenüber, das ich versprühte, ziemlich trübselig dasaß. Wenn Cousine Annie besonders hell auflachte, durchschauerte es mich, und ich schwieg ganz plötzlich, um in einem Bilde zu schwelgen, das beseligend vor mir aufstieg. Ich sah einen ähnlichen, frohsinnumwalteten Tisch, dran Onkel, Tante und Assessor als liebe Gäste, ein trauliches, reizendes Heim, und in ihm, als guten Geist, Schön-Annie zu mir auflächelnd, klug mit mir plaudernd, Schön-Annie als mein Weib – und dann überbrauste mich eine Flut von Glück, ich schwor im stillen, noch heute mit ihr zu reden, sie an mich zu reißen für immer, mit diesem so selig angebrochenen Tage ein seliges, neues Leben zu beginnen.

Ich schrak zusammen, denn ein gefüllter, eisiger Champagnerkelch hatte meine Hand gestreift. Während Joseph die perlende Flut vorsichtig in die Gläser goß, folgte der Onkel diesem Vorgange mit sichtbarer Spannung, indessen helle Tropfen auf seine Stirn traten, Tante und Cousine in ihre Teller schauten und der Assessor seine geballte Serviette krampfhaft zermarterte. Sofort erkennend, daß der Onkel im Begriffe sei, eine Rede zu halten, und aus Erfahrung wissend, daß besagte Rede in ihrer Mitte Schiffbruch erleiden würde, beschloß ich, ihm wie uns das bevorstehende Leid zu ersparen. Da ich ein neugekommener Gast war, berechtigte mich eine weitere Erfahrung aus früheren Jahren zur sicheren Annahme, daß der geplante, mühsam vorbereitete Toast mir gelten werde. Im kritischen Augenblicke schlug ich daher an mein Glas und brachte, Tante und Onkel für ihren lieben Empfang dankend, den konfusesten, aber besten Trinkspruch, den ich je gehalten. Ich begann vom verlorenen Sohne zu reden, dem soeben in Gestalt des so überaus vortrefflichen Diners ein ganz besonders fettes Kalb geschlachtet worden sei, verließ dann den launigen Ton und sagte in überwallender Freude und Dankbarkeit alles, was mir das glückliche Herz auf die Lippen trieb. Was es gewesen, erinnere ich mich nicht; nur weiß ich, daß Annies dunkle Augen, die zu Anfang fest auf meinen Zügen gelegen hatten, als fürchteten sie, Spott darauf lesen zu müssen, immer weicher wurden, daß der Onkel, nachdem er mich eine Weile gänzlich verblüfft angestarrt, kläglich mit den Lippen zu zucken begann, und daß, als ich geendet, die gute Tante, die überhaupt leicht gerührt war, mir quer über den Tisch und durch zwei Fruchtschalen hindurch die Hand reichte.

»Mein liebes, liebes, armes Kind«, flüsterte sie sehr bewegt.

Den Hals vom herabgestürzten eisigen Champagner noch zugeschnürt, glaubte ich, diesen Ausspruch dahin berichtigen zu müssen, daß ich nicht arm sei, daß ich in meinem ganzen Leben niemals glücklicher gewesen, als gerade heute, und daß mir gerade jetzt gar nichts, auch wirklich gar nichts fehle – worauf Onkel und Assessor sehr verlegen wurden und die Tante noch einmal und noch gerührter sagte:

»Gott gebe, das dem so sei, mein armes, liebes, liebes Kind …«

Gleich darauf erhoben wir uns und schritten nach dem Gartenzimmer. Als der Kaffee serviert war, verschwand unhörbar die Tante.

»Hast du dem Assessor schon deine Bienenkörbe gezeigt, lieber Onkel«, frug ich, einer plötzlichen, etwas boshaften Eingebung folgend.

»Nein, wahrhaftig noch nicht«, erwiderte eifrig der Gute, indem neues Leben in sein Gesicht kam. »Sehr, sehr gerne bin ich jedoch dazu bereit, denn es muß für jeden von Interesse sein, einen Blick ins Leben jener klugen, freundlichen Geschöpfe tun zu können. Kommen Sie, lieber Assessor, jetzt ist gerade die Stunde, wo nach vollbrachtem Tagewerke jene gutmütigen Tierchen honigbeladen ihrer Zelle zueilen.«

Der Assessor machte ein wenig erfreutes Gesicht, indem er die zerstochene Wange des Bienenfreundes scheu betrachtete. Ihn rettete aber nichts, und betrübt folgte er dem Onkel, der unterdessen ein Paar riesige Fausthandschuhe angezogen und einen breiten Strohhut nebst einer ungeheuren Drahtmaske von der Wand geholt hatte.

»Drüben im Teiche hat man Seerosen gefunden,« sagte Annie leise; »willst du mit mir gehen, Vetter, um zu sehen, ob sie blühen?«

Als wir heraustraten, flog der Staub über die Kieswege, die Bäume des Parkes rauschten im Sommerwinde; ich fühlte, daß mein Leben nun seiner Entscheidung, seinem Wendepunkte entgegengehe. Wir schritten durch eine Allee mit dichten, niederhängenden Zweigen, einen Weg, der nach den Hecken führt; sie hatte leise meinen Arm genommen, ihr braunes Haar hob sich im Winde und streifte zuweilen meine Schulter, ich aber ging neben ihr, die Füße mechanisch vom Boden lösend, Schritt um Schritt, und rang nach Mut, die schlanke Gestalt zu umfassen und ihr ins Herz zu stammeln, was in dem meinen wogte und stürmte … ich ging schwer atmend an ihrer Seite, glückselig und doch unsagbar bange, wie in schwülem Traum.

Und die Sekunden rannen, wir kamen den Hecken immer näher. »Jetzt muß es sein,« sprach's zwingend in mir – »mein Gott, verlasse mich nicht« – ich blieb stehen, nach Atem ringend …

»Annie,« stammelte ich, »meine süße, liebe Annie …«

»Wie findest du den Assessor?« fiel sie mir tonlos ins Wort.

»Sehr nett,« sagte ich, tiefaufatmend, – »ein guter, lieber Mensch, nur viel zu unbestimmt, – ein unverbesserlicher Träumer …«

Ein Lächeln flog über ihre Züge, doch war es kein Lichtblick, weit eher ein Schatten.

»Ich bin verlobt mit ihm,« sprach sie, indessen ihre Hand in meinem Arme schwer wurde, »verlobt seit Stunden.«

Verlobt – ich stand reglos und sah über sie hinaus auf die Felder, tiefer im Traume als je. Sie sagte noch einiges, das aber drang zu mir kaum hörbar, wie aus weiter Ferne. Ich wußte nicht sicher, ob's ihre Stimme war, oder der Ruf eines Vogels, weit drüben im Korn.

»Es ist nicht möglich,« sagte ich, endlich erwachend, »denn ich liebe dich und habe dich geliebt seit meiner ersten Jugend, ich kann nicht von dir lassen, und du selbst mußt es fühlen, Annie!«

»Ich weiß es und wußte es seit Jahren«, sagte sie mit fester Stimme. »Ich habe gehofft und geharrt, daß du mir's sagen würdest, ich hab' darauf gewartet, bis daß ich alt geworden bin; sieh mich nicht so betroffen an – volle vierundzwanzig Jahre sind viel für eine Frau. Du aber scherztest und gingst vorüber, ohne zu beachten, daß die Eltern, die uns beide so liebhaben, immer ernster und müder wurden. Und das zwang mich, dir eine Frist zu stellen. Wer ein Glück versäumt und verträumt, begeht eine Schuld, die sich nur dann nicht fürs Leben rächt, wenn dem Erwachten dieses Glück zerschlagen wird. Und das tat ich heute. Schilt mich nicht hart und grausam; es geschah zu deinem Besten, und es mußte so kommen.«

»Du willst mich strafen«, sprach ich schüchtern. »O, glaube mir, daß ich tief und bitter bereue, was ich verschuldet. Vergib mir, Annie – du kannst nicht so grausam sein, ein Glück verloren zu nennen, das in deiner Hand ruht, das du mir wiedergeben kannst, sobald du's immer willst –«

»Zu spät,« sprach sie tiefernst, »und wenn ich's auch vermöchte, ich täte es doch nicht. Du bist nicht Mensch allein, du bist auch Künstler, vergiß das nie. Im Leben wie in der Kunst gingst du bisher träumend entlang den Hecken, statt einfach und frei hereinzutreten in den blühenden Garten. Du drohtest zu versinken in Unklarheit und Müßiggang – es mußte ein Sturm in dein Leben kommen, um dich aufzurütteln, dich endlich frei und wach zu machen. Diesen Sturm – ich bin's, die ihn dir sendet. O, zürne mir nicht; wenn dir einmal, vielleicht nach Jahren, ein großes Werk gelingt, wird dein Herz höher schlagen, als wenn du ein liebendes Weib, als wenn du mich im Arme hieltest. Drum gebe ich dir jetzt statt des Glücks, das du an meinem Herzen fändest, den Schmerz. Und ob ich auch nur eine Frau bin, so ahnt es mir doch, daß Schmerz zuweilen besser und segenbringender sei, als Liebe.«

»So hast du mich sehr, sehr lieb, Annie«, brach's bitter von meinen Lippen.

»Ja,« sagte sie einfach, »sehr lieb, und gerade deshalb müssen wir scheiden.«

Ein schwüler Duft kam von den Gärten drüben, wir gingen auf schmalem Wege den Hecken entlang, die sie umschlossen. Es waren Ligusterhecken, die sich weithin erstreckten, drauf schräg die Sonne fiel und drüber Sommerfalter schwirrten. Sie schienen endlos, doch plötzlich teilten sie sich, ein Tor stand breit offen, und vor uns lag der Garten mit seinen Wegen und allen Beeten, darauf die Blumen samtweich und massig blühten. Sie hemmte leicht den Schritt, ich aber ging an der Pforte vorbei, und sie folgte mir, in meinem Arme dahingezogen, noch ein Stück Weges, weiter den Hecken entlang. Ein halbes Lächeln umsäumte flüchtig ihren Mund, dann verflog es, und ihre Augen begannen zu dunkeln, wie von verhaltenen Tränen.

Uns entgegen kamen, weitab noch im Korne, zwei wohlbekannte Gestalten; die kleinere derselben trug einen riesenhaften Strohhut und gestikulierte heftig, indessen die andere gesenkten Hauptes, ergebungsvoll folgte.

»Was ist's, Annie?« frug ich, aus meinen Gedanken geschreckt, und vom Abendgewölke den Blick zu ihren schwimmenden Augen wendend.

Sie deutete leicht auf die Kommenden.

»Dein alter Fehler«, sagte sie, ihre Stimme zu einem munteren Klange zwingend. »Soeben zogst du wieder am Tor vorüber, zugleich dem Ende – einem vielleicht verfrühten Ende dieser Stunde – entgegen. Oder hattest du mich bereits vergessen und gingst wieder entlang den Hecken, träumend, auf der Jagd nach Schmetterlingen und halbvollendeten Sinfonien …«

»Scherze nicht, Annie,« sprach ich mühsam; »meine Sinfonie ist beendet, früh, mit einem jähen Übergang nach Moll. Doch verdamme mich nicht. Siehe, selbst an den Hecken blühen Blumen, spärlich und wild zwar, schmerzlich süß an Duft, wie unser letztes Zusammensein … aber es sind trotzdem Rosen, rote Rosen sogar, und die künden, wenn sie nicht Liebe bedeuten, doch wenigstens Vergebung.«

Es waren zwei verspätete Rosen, die ich tief aus dem Dornengeranke gerissen; ehe sie meine Lippen berührt, lösten sich matt ihre Kelche und die Blätter rannen niedergleitend über Annies weißes Kleid.

»Ja,« rief sie aus tiefstem Herzen, »ja, ich vergebe dir! Und da du Rosen fandest entlang den Hecken, wilde, frühverblätterte Rosen, so darfst du mich küssen, so sollst du eine Sekunde des verträumten Glückes leben, ehe es versinken muß für immer.«

Sie hatte die Arme um meinen Nacken geworfen und lag reglos an meiner Brust; indessen ihr tiefbraunes Haar mich umwehte, blühten ihre Lippen heiß und voll auf den meinen.

»Und nun«, sagte sie, »geh hin und werde ein rechter Mensch, ein echter Künstler. Ich segne dich und will zu Gott beten, daß er das Andenken an diese Stunde nie aus deinem Herzen löschen möge. Leb wohl.«

Sie löste sich aus meinen Armen. An des Weges Biegung erschien eine hohe Gestalt, es war ihr Verlobter. An seiner Seite schaute sie eine Weile still übers wogende Korn, drin schon die Sichel klang, und schritt dann langsam, auf seinen Arm gelehnt, hinein in den Garten. Die Vögel schwiegen, die Sonne warf im Todeskampfe noch einen letzten glutroten Schein über Schloß Friedeck …

So, Freund, war meiner Jugend Sonnenuntergang. Er war heftig genug, doch fühle ich's klar, daß ich diese Jugend wohl verträumt, doch nicht verloren habe. Aus der Saat jener Träume soll mir Schmerz erstehen und Genesung, wie Annie es gewollt.

An Deiner Seite will ich das Werk beginnen: laß uns gemeinsam streiten, Du vollendend, ich erstrebend. Laß uns auf Reisen gehen, auf weite Reisen, denn ich will nichts von Einsamkeit wissen: man büßt eine Schuld nicht in der Klosterzelle ab, sondern auf hoher See, auf den rollendsten Wogen des Lebens. Und beide, Kunst sowie Leben, sind tiefernst. Zu ihren Höhen führen Pfade, die wache Augen, festen Sinn erfordern, doch niemals, und winkte die Gegenwart auch noch so schön, sich verlieren dürfen im Abendrot – entlang den Hecken.


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