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Ein Romankapitel aus dem XII. Jahrhundert
In den ersten Stunden des Tages war die Reichsstadt überfallen und nach kurzer Gegenwehr genommen worden. Die aufgehende Sonne beschien keine sonderliche Verwüstung an Gebäuden und Eigentum, doch lagen die Ringmauern, der Stolz der Stadt, gebrochen, und in den Gossen floß Kaufherrenblut. Der Feind war rasch abgezogen, und die bestürzten Städter standen ratlos, denn nur einer war es, mit dem sie in Fehde lebten. Diesen einen aber wähnten sie im Morgenlande, denn es war ums Jahr des Herrn 1190, und die gesamte Ritterschaft Deutschlands hatte das Kreuz genommen und stritt gegen die Heiden.
Am Tore, wo die letzten Häuser standen, verengte sich der Weg und führte zum Tal. Hohe Buchen umschlossen die Wiese mit dem rauschenden Bach; weiter hinauf, wo die Berge zusammentraten, wurden die Stämme dichter und dichter, zwischen mächtigen Schieferblöcken wucherte Farnkraut und Belladonna, dann kam ein weiter, wilder Wald, endlich, von Felsen und schwarzen Tannen umsäumt, der See.
Es war Herbst, ein kühler nebeliger Duft lag über der Gegend. Am Himmel zogen Kraniche, die übten sich zur Reise; aus dem Walde tönte zuweilen der scharfe Schrei des Hähers. Ein Rudel Edelwild stand am Wasser, in ihrer Mitte der Leithirsch. Plötzlich nahmen sie sich auf und zogen langsam über die Hügel dem Walde zu.
Des Weges kam ein Reiter auf hohem, schwarzem Pferde. Er trug volle Rüstung, nur das Visier war zurückgeschlagen. Daß er ein Ritter sei, konnte man an der Helmzier erkennen, in größerer Nähe auch an den kostbaren Gewaffen, an dem Wappen im Schilde, das von purpurner Fürstenkrone gedeckt war. Das Panzerhemd wies klaffende Risse, der Schild trug Spuren von manch hartem Stoß und Schlage, auch schien der Reiter ermattet zu sein, wie von schwerer Wunde, denn er saß lässig zu Roß, und sein Gesicht schaute unter der Sturmhaube ernst und blaß hervor.
Unweit des Sees stand eine uralte Buche, die sturmtrotzend ihre Wurzeln in den felsigen Grund gezwungen hatte. Es schien, als ob die mächtige Krone alles erstickt habe, was in ihrem Bereich; denn schwache, verkümmerte Stämme allein gediehen in der Nähe des Waldriesen. Der aber kündete wieder, daß sein Dasein ein Kampf gewesen, und daß die Stürme der Jahrhunderte nicht spurlos über ihn hingebraust. Dichtes Moos bedeckte die geschützteren Stellen des Stammes, während die Windseite Risse zeigte, Knorren und tiefe Narben. Zwei Wunden trug der Baum vornehmlich sichtbar: eine frische, wenig über der Erde – vielleicht hatte ein Wisent sein Horn daran gewetzt –, und eine alte, höher am Stamm, aber tödlich tief. Ein Frauenname war es, dessen Züge ein Schwert mit so furchtbarer Gewalt eingetrieben haben mußte, daß die Zeit sie nicht hatte heilen, der Stamm nicht verwachsen können.
Dorthin lenkte der Reiter sein Pferd, sprang aus dem Sattel und begann ein seltsames Werk. Mit der Streitaxt fällte er die benachbarten geringeren Stämme, schleppte sie zu der Buche und häufte sie um den Baum, einen schmalen und langen Raum jedoch, in Art einer Gasse, freilassend. Das Pferd weidete indessen die späten Wiesenblumen ab. Die Fugen des Baus verschloß er mit Reisig und dürrem Grase. Als er damit zu Ende war, führte er das Pferd in die Gasse und drückte wie übermüdet das Haupt in die schwarze Mähne. So verweilte er lange, plötzlich aber war es, als nähme er seine ganze Kraft zusammen – er zuckte auf und erschlug das Tier mit dem Schwerte. Dann entledigte er sich seiner Rüstung und warf sie nebst allen Waffen auf das tote Schwarzroß, nur den Dolch Misericordia behielt er am Gürtel. Über das Ganze türmte er neue Stämme, entzündete eine Fackel und warf sie in den ungeheuren Scheiterhaufen. Als die Flammen emporloderten, wandte er sich dem See zu, setzte sich auf einen Felsblock und schaute hinaus über die regungslose Fläche.
Auf sie fielen die Strahlen der Nachmittagssonne. Zuweilen schnellte ein Fisch den glitzernden Leib aus dem Wasser, dann liefen noch lange nachher zitternde Kreise über die spiegelnde Fläche, bis sie wie ein Hauch verrannen. Einmal wollte ein verspäteter Sommerfalter über den See, allein er war wohl zu müde, denn er flatterte langsam dahin und kam dem Wasserspiegel immer näher, bis er verschwand. Es lag tiefes Schweigen über allem, denn die Luft war still, und die Flammen des brennenden Baumes stiegen hochrot und lautlos zum Geäste, kaum daß mit leisem Knistern das feuchte Laub erstarb, wenn die Lohe bis in die Krone schlug. Der Rauch kam auch nicht empor, sondern ruhte auf dem Walde, als sei der in feinen Nebel gehüllt.
Durch die Wipfel der Bäume lief ein Rauschen, die Vögel zirpten süß und leise, als ob es Frühling wäre. – Aus dem Dunkel des Waldes trat eine weiße Gestalt und schritt langsam dem See zu. Sie warf einen kurzen Blick auf den brennenden Baum, dann stand sie plötzlich vor dem Fremden und sah ihn mit dunklen Kinderaugen an. Der hob das blasse alte Gesicht, und als er die schöne Gestalt sah, wurde es jung und sonnig.
»Bist du ein Engel?« fragte er.
»Nein,« versetzte sie ernsthaft – »ich bin ein schlichtes Fräulein, des Burgherrn von Schwarzachs Tochter, warum fragst du also?«
»Weil du schön bist,« sagte der Fremde einfach, »und weil du mir kurz vor dem Tode erscheinst.«
»Vor deinem Tode?«
Sie legte die Stirn in ihre Hand. »Du willst sterben? Warum? Die Welt ist so wunderschön, und du willst sterben? Seltsam! Du bist ja noch jung, nur krank wohl, sehr krank … Komm mit auf Vaters Burg; wir sind nicht reich, aber wir wollen dich herzlich pflegen, und du wirst gewiß wieder genesen. O bitte, Fremder, willst du? Du machst uns Freude, wenn du es tust!«
In seine starren Augen kam ein Schimmer. »Du bist doch ein Engel,« sagte er, »allein du kannst mir nicht helfen. Wohl ist die Erde wunderschön und das Leben reich und groß, allein in mir ist etwas gestorben, und ich kann nicht mehr einstimmen in das hohe Lied der Natur, nicht mehr mitklingen in der ewigen Harmonie des Weltalls. Geh du zurück ins schöne Leben und werde glücklich, wie du es verdienst, mich aber laß vollenden und sei nicht gut zu mir, denn ich sehne mich zu schlafen, tief und traumlos.«
Sie stand unbeweglich. »So hast du keine Heimat auf Erden und kein Vaterland? Keinen Freund, keine Seele, die dich liebt?«
Er deutete schweigend auf den Baum, den ein Flammenmeer umwogte.
»Dort geht alles zu Ende,« sprach er mit tiefer Stimme, »was mein war. Es soll verwehen wie Rauch und kein Gedenken haben. Leb wohl!«
Sie hob plötzlich das Haupt. »Jetzt kenne ich dich,« sagte sie, »du bist Herzog Eudos Sohn, und einst …«
Eine jähe Röte schoß über die Züge des Mannes.
»Der Name gehört einem Toten. Laß ihn vergessen sein und gönne ihm den ewigen Frieden.«
»Ich hörte viel von Euch, Herr«, sagte sie schüchtern. »Fahrende Leute aus Burgund kamen auf Vaters Schloß, und alle sangen von Eurer Liebe zu des Kaufherrn schönem Kinde. Eine Weise war holdselig vor allen, sie besagte, ein Adler habe einst eine Nachtigall geliebt …«
»Die sein gespottet« – unterbrach sie der Ritter ernst. »Und weiter meldet das Lied, daß der Adler hinausgeflogen ist in die Welt, um Vergessen zu lernen. Das hat er aber nicht vermocht, sondern ist früh zurückgekehrt, um über dem Haine der Nachtigall ungesehen zu kreisen, ungesehen über ihrem Neste zu wachen. Des Liedes Sinn bedeutet, daß nichts auf Erden heiliger ist und größer als Treue, Treue bis zum Tode.«
Das Mädchen strich wie verwirrt das Haar aus der Stirn.
»So endet das Lied«, fuhr er fort. »Was es aber nicht kündet, ist das: Es kam ein Tag, da hatten die Krämer meine Nachtigall geblendet und auf ihr totes, kleines Herz einen schweren Stein gelegt mit einem frommen Sprüchlein darauf … Da aber schoß der Adler von seiner Höhe herab, lautlos wie ein Blitz, zu würgen alle, die ihr ein Leids getan. Er badete seine Fänge in Kaufherrenblut und ging vernichtend über die Spur, die seine Liebe auf Erden gelassen – dann aber breitete er die dunklen Schwingen, hob sich auf von der Erde und flog hinaus in die Nacht, in die sternenleuchtende Nacht, dem großen Erwachen entgegen.«
Sie hatte atemlos zugehört, ein Sturm ging durch ihre Brust.
»Und wenn«, sagte sie mit bebenden Lippen, »Gott nun ein Wunder tun wollte, um dich zu retten, und zu dir spräche: Hier ist ein junges gläubiges Herz, das dich geliebt hat aus deinen Liedern, das dich umfassen will mit seiner ganzen Kraft, mit allem, was gut und groß in ihm ist … das soll dein eigen sein und soll dich lieben aus seiner tiefsten Tiefe, ohn' Wanken und ohn' Ende, in alle Ewigkeit … würdest du dann noch einmal glauben, noch einmal, zum letztenmal, lieben können?«
Er schaute hinaus auf den See, in dem die Sonne versank. Ihre letzten Strahlen lagen glutrot auf den dunklen Bäumen.
»Nein«, sagte er sehr fest. »Es ist mit einer großen Liebe wie mit der Abendsonne – ehe sie untergeht, ist sie schöner als je und herrlicher als jedes Himmelslicht.«
»Ich will beten gehen,« sagte das Mädchen tonlos, »für Euch und auch … für mich.«
Sie wandte sich ab und wankte dem Walde zu, ohne einmal zurückzuschauen. Es wurde ganz dunkel, und ein Sturm erhob sich; da riß der Fremde die Misericordia aus der Scheide und schritt zur Buche, auf das Flammenmeer zu. In die Stimme der Vernichtung, in das Grollen des Sturmes hinein rief er laut das Totengebet. Dann verschwand er in der roten Lohe. –