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Die Kerze

Es ist eine erste Septembernacht. Sie liegt kühl und still auf dem großen Strome, der in breiter Sicherheit seine Wasser dem nahen Meere zutreibt. Die Lichter vorbeiziehender Schiffe werfen dunstige Farbenpunkte in den Nebel, der die Ufer überzieht. Das sind feuchte Wiesen, auf denen es liegt wie lose weiße Elfenschleier, dann und wann kommt ein schwarzer Fleck – ein Schlagbaum mit fetten Rindern davor, welche träg in die Nacht hinausglotzen. Diese Wiesen führen mählich hinauf bis zu parkumgebenen Villeggiaturen, welche Ausläufer der nahen Großstadt sind.

Über dem Ganzen liegt der Vollmond starr und still wie bei einer Theaterdekoration. An den Bäumen rührt sich kein Blatt, ihre schwarzen Kronen greifen ineinander und umrahmen kreisförmig einen nassen englischen Rasenplatz, in dessen Mitte eine Marmorfigur steht, welche aussieht, als ob sie fröre. Dann schließen sich die Baumkronen wieder und ragen dicht an eine sehr elegante, aber etwas überladene Villa heran. Sie enden an einem Balkon von grauem Sandstein mit goldenem Gitterwerk und leiten hinüber in das Boudoir von Fräulein Helene, einziger Tochter des Herrn Kommissionsrats, Konsuls irgendwelcher amerikanischen Republik und Besitzers eines Grundstückes in bester Lage der ihrer Schönheit halber bekannten Umgebung der Großstadt.

Fräulein Helenens Boudoir ist typisch. Die Fenster haben drehbare Spiegelscheiben mit schwerseidenen Gardinen davor; ferner ist es vollgestopft mit einer Masse imitierter Boulemöbel. Außerdem vermissen wir keineswegs den Anflug von Unordnung, noch den matten, unbestimmbaren Parfüm, welcher Räumen, die von Damen bewohnt werden, eigentümlich ist. Auf dem Erardschen Flügel, der eine Ecke des Zimmers einnimmt, liegt aufgeschlagen die Quadrille aus den »Glocken von Corneville«, unter ihr schaut ein Zipfel von Richard Wagners »Götterdämmerung« hervor.

Über den sandigen Vorhof rollt schnell und kaum hörbar ein Wagen. Einige Türen werden auf- und zugeschlagen, einige Worte gewechselt, aus denen wir entnehmen, daß die Tochter des Hauses einer Vorlesung des neuen jungen Privatdozenten Dr. Kuno Rosenhain über das »eigentlich Ungreifbare in der Greifbarkeit des Uneigentlichen« beigewohnt und darauf bei einer Freundin den Tee genommen hat, – dann wird der Vorhang hastig zur Seite geschoben, und Fräulein Helene tritt ein. Sie wirft das Hütchen mit dem Schneehuhnflügel in eine Ecke und zündet eine durchsichtig-schlanke, allerliebste blaue Wachskerze an, die in verkrümmt geformtem Leuchter auf ihrem Schreibtische steht. Nachdem dieses gelungen ist, senkt sie sich in den Sessel und schaut in den Mond hinein, der wie festgenagelt am Himmel steht und weiße Lichter in die halbdunklen Ecken des Zimmers wirft.

Dank der Kerze erkennen wir, daß Fräulein Helene sehr hübsch ist. Ihr eigen nennt sie ein elegantes, blasses Gesicht mit großen dunklen Augen, schmalen roten Lippen und kleinen Ohren, in deren jedem eine graue Perle sitzt. Über dem Ganzen ist eine Flut von wirren, weichen Haaren, welche eigentlich tiefblond sind, aber so aussehen, als seien sie braun, von einem leichten Puderhauche überflogen.

Fräulein Helene beginnt den Mond langweilig zu finden. Sie wirft das Köpfchen zurück und bemerkt vor sich einen silbernen Teller, darauf zwei Briefe liegen. Beide tragen männliche Schriftzüge, doch sind sie ihrem Äußeren nach sehr verschieden. Der eine ist viereckig schlicht, mit einem kleinen Siegel geschlossen, und das Petschaft ist so tief und heftig eingeprägt, als habe der Absender mit dem Drucke ein Leben gesiegelt. Des andern Hülle ist von fettem, wolligem Papier, dreieckig gefaltet, mit einem ungeheuren, bunten Namenszuge darauf.

Fräulein Helene zögert keinen Augenblick. Merkwürdigerweise greift sie nach dem ersten Briefe, sei es, daß ihr die Handschrift bekannt, sei es, daß sie willens, die wollige Epistel zum Nachtische aufzuheben. Sie rückt die kleine, freundlich brennende Kerze näher und liest:

 

»Fräulein Helene!

»Nicht ohne tiefe Bewegung lege ich diesen Brief in Ihre Hände.

»Ich habe fast nie das Glück, Sie zu sehen – so kommt es, daß ich die Worte schreiben mußte, welche ich Ihnen gerne Aug' in Auge gesagt hätte, und so offen, wie es sich geziemt, wenn man eine schwere Frage tut.

»Wir haben uns als Kinder gekannt, Fräulein Helene, und Sie waren stets gut zu mir, selbst dann noch, als wir nicht mehr Kinder waren und Sie bereits beneidet und bewundert wurden, während ich anfangen mußte, für meine Existenz, für mein tägliches Brot zu sorgen. Sie schenkten mir aus Ihrem Leben voll Glanz zuweilen einen freundlichen Blick, obschon ich Ihnen fernstand und zwischen dem Kind des Glückes und dem Kinde der Armut eine unausfüllbare Kluft lag. Sie waren vielleicht aus Mitleid so gut, Fräulein Helene, und wußten nicht, daß Sie der Jugendtraum des armen elternlosen Knaben und später das einzige Glück des Jünglings waren, welcher, durch harte Arbeit gebeugt, nur in seiner Liebe die Kraft fand, auf den mühevollsten Pfaden fortzuschreiten.

»Nun, ich bin ein Mann, Fräulein Helene, und meine Liebe ist nicht erloschen, sondern nur tiefer und heiliger geworden. Ich habe mich rastlos mit dem Leben herumgeschlagen und habe ihm eine bescheidene, aber sichere Existenz abgerungen. Um keinen Preis hätte ich Ihnen nahen mögen, arm und gebeugt von Mißerfolgen – jetzt aber darf ich ehrlich fragen: Wollen Sie meine geliebte Frau sein, Helene? Ich liebe Sie mit der besten Kraft einer sturmgeprüften Seele, und will Sie fest und treu in dem Herzen halten, welches von jeher für Sie geschlagen hat und welches ganz das Ihre ist.

»Und nun leben Sie wohl, Helene; mir ist, als müßte es Frühling werden. Gott sei mit meinem Briefe.

Ihr
Dr. Herbert Stein.«

 

Die kleine Kerze brennt strahlend-heiter und bescheint ein reizendes Bild. Fräulein Helene hat sich in den Sessel zurückgelehnt, indessen ihre kleine, ringblitzende Hand, worin der Brief mit den festen Schriftzügen ruht, wie Espenlaub zittert. Ihr Gesichtchen überkommt eine seltsame Weichheit und ihre Augen werden bald tiefer, bald lichter, weil zwei große Tränen darin stehen. Sie denkt zurück an ihre Kindertage, worin der trotzige Herbert sich mit den Knaben schlug, die das Kaufmannsprinzeßchen quälten oder verhöhnten, dann an die gemeinsamen Tanzstunden im Rathaussaal, wo der hochaufgeschossene Gymnasiast ihr schüchterner, aber begeisterter Verehrer war. Sie sieht ihn noch vor sich stehen im ausgewachsenen Konfirmandenrock, wie er ihr mit leuchtenden Augen vom Homer erzählte, vom Parzival, von allem, was gar nicht in die Tanzstundenunterhaltung paßte, aber was groß und schön war und seine Seele erfüllte – sie denkt auch an die Redoutenbälle, die einige Jahre später kamen und wo der stille Studiosus nur erschien, um ihr mit glückseligem Gesicht ein äußerst bescheidenes Veilchenbukett überreichen zu können – sie denkt zurück, lieber und immer lieber, und überall sieht sie den ernsten Kopf mit dem herben Auge darauf und jenen Augen, die nie das Glück gekannt, die fest und unentwegt ins Leben sahen, um nach gewonnenem Kampfe sich zurückzuwenden auf das geliebte Weib und ihr zu sagen: Alles, was ich tat, tat ich um dich! Und dieser Tag wäre nun gekommen, der Erntetag eines Lebens voll Kraft und Entsagung, und Herbert würde seine kleine, schwer erkämpfte Helene in die Arme nehmen und sie festhalten für die Ewigkeit, und der vollste Sonnenschein des Glückes würde über Herbert und Helene sein!

Herbert und Helene … wie das hübsch lautet! Helene lächelt unter Tränen und sagt leise vor sich hin: »Herbert … Herbert … Herbert …«

Die kleine Kerze ist zu dreiviertel herabgebrannt. Ihr Licht ist stark und voll und sie scheint glücklich zu sein, im Untergange noch ein aufgehendes, großes Glück bestrahlen zu dürfen. Plötzlich leckt ihre Flamme unruhig in die Höhe. Helene hat, halb in der Zerstreuung, den zweiten Brief zur Hand genommen und erbrochen. Während sie ihn liest, wird sie bald blaß, bald rot, und Gott weiß, was in die Kerze gefahren ist, denn ihre Flamme wankt und schwankt, ihr Docht sprüht und knistert, als trieben eine Legion Teufelchen ihr Wesen darin.

Der Brief lautet:

 

»Mein hochverehrtestes Fräulein!

»Entschuldigen Sie, daß ich es wage, ein Schreiben an Sie zu richten, dessen Inhalt ich Ihnen, da mir das Glück zuteil wird, Sie oft genug in unserm high life zu sehen, leicht mündlich hätte mitteilen können. Ich habe jedoch sehr feste Grundsätze und zu diesen gehört, daß sowohl in kaufmännischer als in jeder anderen soliden Beziehung das schwarz auf weiß fixierte Wort den Vorrang besitzt.

»Ich bin, wie Sie wissen, erst unlängst von weiten Reisen, die ich in Angelegenheiten unserer bekannten und angesehenen Firma zu unternehmen gezwungen war, zurückgekehrt und habe daher leider nur seit kurzer Zeit die Ehre, Sie zu kennen. Ihre vielseitigen persönlichen Vorzüge aber, unterstützt von dem Wunsche meines Prinzipals und Vaters, haben in mir den Entschluß wachgerufen, mich zu vermählen, zumal in diesem Falle der Kommerzienrat, mein Vater, gesonnen wäre, mir die Leitung unseres großen, mit den besten Referenzen versehenen Geschäftes zu übertragen.

»Der Zweck dieses Briefes, mein hochverehrtes Fräulein, ist also, Sie um Ihre Hand zu bitten. Lediglich um Ihnen zu beweisen, wie sehr ich Sie liebe, will ich in Kürze eines delikaten Umstandes erwähnen. Ihr Herr Vater hat, wie wir in maßgebenden Kreisen wissen, neuerdings etwas stark spekuliert und ist nicht mehr reich, höchstens nur noch wohlhabend zu nennen, wohingegen unser bestrenommiertes Haus vorteilhafter operiert hat. Ich bin reicher als je, liebe Sie unvermindert, und bitte Sie, durch Ihr Jawort meinem Leben die Krone aufsetzen zu wollen. Ich schließe also, indem ich noch diskret durchschimmern lasse, daß der Kommerzienrat, mein Vater, sich ohne allzu lange Debatte mit dem Ihrigen geeinigt hat und somit die Chancen für unsere Vereinigung als definitiv gesichert erscheinen dürften.

»Unsere Hochzeitsreise könnte via Paris nach London gehen, wobei ich die Gelegenheit benützen würde, einige neue Verbindungen anzuknüpfen.

»In der angenehmen Hoffnung, mich Ihrer Genehmigung schmeicheln zu dürfen, zeichne ich mich, mein hochverehrtestes Fräulein, als

Ihr Sie anbetender

Aloys Zander,
von der Firma Zander & Sohn.«

 

Fräulein Helene ist aufgesprungen. Ihre Augen sind klein und blitzend geworden, auf ihren Wangen liegen zwei heiße rote Flecken. Sie setzt sich kurz und energisch nieder, um zu schreiben. Dazu rückt sie die Kerze näher. Diese ist aber fast abgebrannt, ihre Flamme steigt und fällt und wirft flackernde Lichter über das Papier und über Helenens Gesicht, welches gar nicht mehr hübsch ist. Demungeachtet schreibt Helene mit fiebernder Hast:

 

»Hochverehrter Herr Zander!

»Ihr Antrag überrascht und ehrt mich zugleich. Welches Mädchen könnte wohl blind sein gegen Ihre vielseitigen und eminenten Vorzüge? Sprechen Sie mit meinen Eltern und empfangen Sie hiermit mein Jawort …«

 

Sie kann nicht fortfahren. Die heruntergebrannte Kerze ist unausstehlich. Sie schwelt nur noch mühsam und erstickt in übelriechendem Rauche. Über die gesprungene Manschette rieseln dicke, heiße Wachstränen und der Rest von Flamme windet sich und ringt wie eine verdammte Seele.

Die junge Dame rückt mit großer Anstrengung das Papier näher und zeichnet:

»Ewig die Ihre –«.

Die Kerze verlischt.


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