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4. Der sterbende Schwan

Phädon Kap. 35. Stephanus I, pag. 84 C-85 B.

Personen des Gesprächs: Sokrates; Simias.

Dieses Kapitel steht an der Schwelle des zweiten Teiles des Dialogs. Sokrates hat folgendes bewiesen: Es gibt einen Kreislauf des Werdens; also kehrt die Seele, die bei dem Sterben in das Reich des Unsichtbaren geht, in das Leben zurück. – Die Begriffe sind ein ursprüngliches Besitztum des menschlichen Geistes, das er aus einem früheren Dasein in dieses Leben mitgebracht hat. So war die Seele ein denkendes Wesen, bevor sie in diesen Leib eintrat, und bleibt es auch nach ihrem Scheiden von ihm. – Die Seele ist ein einfaches, dem Göttlichen verwandtes Wesen. Darum ist sie unauflöslich und unvergänglich. – Das Dasein der Seele nach dem Tode richtet sich nach ihrem Leben auf Erden. Aus diesem Grunde streben die Philosophen darnach, schon hier ein Leben im Geiste zu führen. Nun kommt unser Kapitel, in dem Phädon folgendes erzählt:

Kap. 35. Als Sokrates dies gesagt hatte, herrschte lange Zeit Schweigen, und sowohl Sokrates selbst war, wie man ihm deutlich ansah, mit dem Gesagten beschäftigt, als auch die meisten von uns. Kebes und Simias aber redeten leise miteinander. Als das Sokrates sah, fragte er sie: »Wie? Das Gesagte erscheint euch doch nicht etwa mangelhaft? Allerdings gewährt es noch vielen Anlaß zu Bedenken und Einwänden, wenn man es recht genau durchgehen will. Denkt ihr nun über einen anderen Gegenstand nach, so will ich nichts gesagt haben; seid ihr aber über das Vorliegende in Zweifel, so sprecht es ohne jedes Bedenken selbst von neuem recht gründlich durch und nehmt auch mich hinzu, wenn ihr glaubt, im Verein mit mir irgendwie eher zum Ziele zu kommen.« Da sagte Simias: »Gewiß will ich dir die Wahrheit sagen, lieber Sokrates. Schon längst stößt jeder von uns beiden in seiner Ratlosigkeit den andern an und fordert ihn auf, dich zu fragen, da wir so gern von dir belehrt sein möchten, aber Bedenken tragen, dich zu belästigen, und besorgen, bei dem Unglücke, das über dich gekommen ist, möchte es dir unangenehm sein.« Als Sokrates das hörte, lächelte er und sprach: »Ei, ei, mein Simias! da werde ich schwerlich andere Menschen davon überzeugen, daß ich das gegenwärtige Geschick nicht für ein Unglück halte, wenn ich nicht einmal euch davon überzeugen kann, sondern ihr fürchtet, ich sei jetzt irgend übler gestimmt als in dem früheren Leben. Allem Anscheine nach bin ich in eueren Augen ein schlechterer Seher als die Schwäne, die, wenn sie merken, daß sie sterben müssen, während sie auch in der früheren Zeit sangen, dann am meisten und am schönsten ihren Sang ertönen lassen, froh, daß sie zu dem Gotte kommen, dessen Diener sie sind. Die Menschen sagen aber infolge ihrer eigenen Todesfurcht auch von den Schwänen die Unwahrheit und behaupten, daß sie, den Tod beklagend, vor Trauer ihren Gesang anstimmen, und sie bedenken nicht, daß kein Vogel singt, wenn ihn hungert oder friert oder er sonst ein Gefühl der Unlust empfindet, auch nicht die Nachtigall und die Schwalbe und der Wiedehopf, von denen man sagt, sie stimmten aus Trauer klagende Weisen an. Aber weder diese scheinen mir aus Traurigkeit zu singen noch die Schwäne, sondern als Eigentum Apollos, denk' ich, verstehen sich die Schwäne auf Wahrsagung, und da sie das Glück im Hades vorher wissen, so singen sie und freuen sich jenen Tag über mehr als in der vorhergegangenen Zeit. Ich aber glaube auch selbst wohl ein Dienstgenosse der Schwäne und demselben Gotte geweiht zu sein und in nicht geringerem Grade als sie die Seherkunst von meinem Herrn zu haben, und also auch nicht weniger freudig aus dem Leben zu scheiden. Darum müßt ihr, was das anbetrifft, sagen und fragen, was ihr wollt, solange die Elfmänner es gestatten.


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