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3. Sokrates

Sokrates wurde im Jahre 469 v. Chr. in Athen geboren. Somit fiel seine Jugend und sein früheres Mannesalter in die glänzendste Zeit seines Volkes, in das Zeitalter des Perikles. Er war von niederer Abkunft. Sein Vater Sophroniskus war Bildhauer, seine Mutter Phänarete Hebamme. Sein Äußeres stand zu seinem Inneren in einem auffälligen Widerspruche, es war unschön und erinnerte an Silene und Satyrn. Er erlernte die Kunst seines Vaters, übte sie aber nur kurze Zeit aus. Verheiratet hat er sich erst in späteren Jahren mit Xanthippe. Sie war eine um ihre Familie redlich besorgte Frau, aber äußerst heftig und sehr geneigt zu derben und rücksichtslosen Äußerungen ihres Unmutes und Zornes, durch die sich aber der Gatte in seinem philosophischen Gleichmute nicht stören ließ. Er hatte drei Kinder, von denen Lamprokles beim Tode des Vaters im angehenden Jünglingsalter stand, die beiden anderen noch klein waren.

Über den Gang seiner geistigen Ausbildung wissen wir nicht viel. Den in Athen üblichen Elementarunterricht hat er sicher genossen; er machte sich aber auch mit Geometrie und Astronomie bekannt und studierte die Lehren gleichzeitiger und früherer Philosophen. Einen wesentlichen Einfluß übten auf seine philosophische Bildung auch die Sophisten aus, deren Vorträge er zuweilen hörte, und mit denen er sich oft unterredete. Außerdem konnte er als Bürger Athens an allen Bildungselementen seiner Vaterstadt teilnehmen, denn in dem damaligen Athen war auch der Geringste aus der Bürgerschaft weder von dem reichen, meist öffentlichen Zwecken dienenden Kunstleben dieser Stadt noch von dem Umgange mit Männern von der höchsten Lebensstellung ausgeschlossen. Von der Naturphilosophie kehrte er sich ab in der durch den damaligen Stand der Naturforschung bedingten Überzeugung, daß dieses Gebiet der menschlichen Erkenntnis verschlossen sei; auch meinte er, daß ein solches Wissen dem Menschen schließlich doch nichts nützen würde. Sokrates betrachtete es als seine Lebensaufgabe, an seiner wissenschaftlichen und sittlichen Vervollkommnung zu arbeiten und seine Mitmenschen, namentlich seine Mitbürger zur Erkenntnis dessen, was wahrhaft gut und nützlich ist, und damit zur sittlichen Läuterung hinzuführen. Auf wissenschaftlichem Wege sollte die Erkenntnis gewonnen und die Ethik auf der Grundlage der Wissenschaft aufgebaut werden. So waren Wissenschaft und Ethik bei ihm unzertrennlich verbunden. Die neue Richtung, die mit Sokrates die Philosophie gegenüber ihren früheren Bahnen einschlug, zeichnet Cicero ( Tuscul. V 4, 10) treffend mit den Worten: »Bis auf Sokrates beschäftigte sich die alte Philosophie mit Zahlen und Bewegungen und mit der Frage, woher alles entstehe und wohin es zurückkehre, und sie forschte eifrig der Größe der Gestirne, ihren Abständen und Bahnen nach und allem, was am Himmel vorgeht. Sokrates aber rief zuerst die Philosophie vom Himmel herab, siedelte sie in den Städten an, führte sie auch in die Häuser der Menschen ein und nötigte sie, nach dem Leben, den sittlichen Forderungen und nach Gut und Böse zu fragen.«

In einer solchen Tätigkeit sah Sokrates eine Aufgabe, die ihm nach seiner Überzeugung die Gottheit selbst gestellt hatte, und in treuer Hingabe an sie vernachlässigte er seine eigenen Angelegenheiten, lebte er ohne Geschäft arm und bedürfnislos, indem er von seinen Schülern eine Bezahlung weder verlangte noch annahm. Diese Aufgabe fesselte ihn so an seine Vaterstadt, daß er sie fast nie verließ. Auch vom Staatsleben hielt er sich möglichst fern. Dagegen suchte er die Handwerker in ihren Werkstätten, die vornehmen Jünglinge auf den Übungsplätzen auf und bewegte sich viel auf dem Markte und auf den Spaziergängen der Stadt, bemüht, Einheimische und Fremde ins Gespräch zu ziehen, um sie vor allem zur Erkenntnis ihres mangelhaften Wissens von den Aufgaben und Gütern des Lebens und von ihrer sittlichen Unvollkommenheit hinzuführen. Überzeugt, daß nur sittliche Tüchtigkeit in Verbindung mit einem gründlichen und vielseitigen Wissen zur öffentlichen Tätigkeit befähige, glaubte er, seinem Vaterlande besser zu dienen, wenn er ihm solche Staatsmänner heranbildete, als wenn er selbst staatsmännisch tätig wäre. Doch hat er die Pflichten des Bürgers redlich erfüllt. In den Kämpfen bei Potidäa 432, bei Delion 424 und bei Amphipolis 422 zeichnete er sich durch große Tapferkeit und Unerschrockenheit aus, ebenso durch eine ungewöhnliche Ausdauer und Standhaftigkeit, wo es galt, Strapazen und Entbehrungen zu ertragen. Mit gleicher Unerschrockenheit trat er auch der tobenden Menge in der Volksversammlung und ungerechtem Ansinnen der dreißig Tyrannen entgegen, ganz unbekümmert um die Gefahr, die er damit über sein Haupt heraufbeschwor. Über die Persönlichkeit des Sokrates urteilt Xenophon ( Memorab. I 1, 11 und IV 8, 10) folgendermaßen: »Niemals hat jemand von Sokrates etwas Gottloses gesehen oder gehört. Er war so fromm, daß er nichts ohne den Rat der Götter tat, so gerecht, daß er niemand auch nur im geringsten verletzte, so sehr Herr seiner selbst, daß er in der Entscheidung über das Bessere und Schlechtere nie fehlging. Er war mit einem Worte der beste und glückseligste Mann, den es geben konnte.« Trotzdem wurde er der Menge verdächtig. Man verwechselte ihn mit den Sophisten und mit atheistischen Naturphilosophen, ein Irrtum, der sich namentlich verbreitete und befestigte, seitdem ihn Aristophanes im Jahre 423 in seiner Komödie »Die Wolken« auf die Bühne gebracht hatte. Andererseits glaubte man, er führe neue Gottheiten ein. Anlaß hierzu hatte der Glaube des Sokrates gegeben, es sei ihm etwas Göttliches eigen, eine innere Stimme, die ihn warne, wenn er etwas Unangemessenes und Nachteiliges zu tun im Begriffe sei. Schon aus diesen Gründen hielt man ihn für einen Verderber der Jugend, insbesondere aber auch deswegen, weil unter seinen Schülern auch Jünglinge gewesen waren, die, wie Alkibiades und Kritias, in späteren Jahren dem Staate schwere Wunden geschlagen hatten. Die demokratische Partei verdachte ihm auch seine freie Kritik demokratischer Einrichtungen, wie z. B. seinen Tadel über die Entscheidung der wichtigsten Staatsangelegenheiten durch Stimmenmehrheit und die Wahl von Beamten durch das Los. So kam es denn, daß bald nach der Wiedereinführung der demokratischen Staatsform ihm der Prozeß gemacht wurde, der zu seiner Hinrichtung führte. Es war im Jahre 399.

Plato macht seinen verehrten Lehrer und Meister fast in allen seinen Dialogen zum Leiter des Gesprächs und zum Auffinder der Wahrheit. Damit gibt er deutlich zu erkennen, daß er seine eigene Weltanschauung im wesentlichen Sokrates zu verdanken hat, zugleich aber wird es dadurch schwer, festzustellen, was von dem Vorgetragenen sein Eigentum ist, und was von Sokrates herrührt. Mit Sicherheit können wir von diesem folgendes sagen: Sokrates war überzeugt, daß der Mensch auf dem Gebiete des sittlichen Lebens, zu dem nach hellenischer Anschauung auch das Leben im Staate gehört, die Wahrheit finden kann, wenn er sie mit Ernst sucht. Es kommt vor allem darauf an, daß sich der Mensch über die sittlichen Aufgaben des Lebens klar wird. Am gerecht und fromm zu handeln, müssen wir wissen, was Gerechtigkeit und Frömmigkeit ist; wer sich als Staatsmann bewähren will, muß wissen, was ein Staatsmann ist, d. h. welche Kenntnisse und Eigenschaften ein Staatsmann haben muß, und welches seine Aufgaben und Pflichten sind. Der sicherste Weg zu diesem Ziele ist die planmäßig geführte Unterredung, die sich in Frage und Antwort vollzieht. Bei diesem gemeinsamen Suchen und Forschen der sich Unterredenden kann die Wahrheit gefunden werden, weil sie in uns gegeben ist. Sokrates war sich bewußt, daß er durch sein dialektisches Verfahren dem andern nicht ein ihm neues Wissen übermittele, sondern ihm nur dazu helfe, sich einer in seinem Geiste bereits vorhandenen Wahrheit bewußt zu werden. Darum verglich er seine dialektische Kunst mit der Kunst seiner Mutter. Wie die Hebamme das Kind nicht schafft, sondern nur hilft, daß es aus dem Dunkel des Mutterschoßes an das Tageslicht kommt, so meinte er, schaffe er nicht die Erkenntnis in dem andern, sondern sei ihm nur behilflich, daß die in seinem Geiste bereits vorhandene, aber wie mit einer dunkeln Decke verhüllte Wahrheit in die Helle des Bewußtseins trete. Die Erkenntnis des Wesens einer Sache haben wir gewonnen, wenn wir sie definieren können. Demnach besteht die Erkenntnis der Wahrheit in der Erkenntnis der Begriffe. Zur Erreichung dieses Zieles bediente sich Sokrates bei seinen Unterredungen gern des induktiven Verfahrens, indem er an die Tatsachen des gewöhnlichen Lebens anknüpfte. Aristoteles schrieb daher mit Recht Sokrates zwei wissenschaftliche Errungenschaften zu: die Auffindung der Definition und der Induktion. Nach dem Gesagten haben wir schon bei Sokrates den Glauben an das ursprüngliche Vorhandensein von Begriffen im menschlichen Geiste, mit Kantischer Terminologie, an das a priori von Begriffen. Im Anschluß an Plato reden wir von angeborenen Ideen. Folgerichtig nahm Sokrates an, daß es einen Geist im Menschen gebe. Er meinte nun, wie die körperlichen Bestandteile des Menschen von den entsprechenden Bestandteilen der Welt genommen seien, z. B. das Wasser und die Luft in uns von dem Wasser und der Luft in der Welt, so sei auch der Geist in uns dem Geiste in der Welt entnommen, mit anderen Worten, der Geist des Menschen stamme vom Geiste Gottes. Der allgegenwärtige und allwissende Gott hat nach Sokrates in seiner Weisheit und Güte alles zweckgemäß eingerichtet, hat namentlich für die Menschen auf das beste gesorgt. Die zweckgemäße Einrichtung der Welt und der Dinge in ihr war ihm ein Beweis für das Dasein Gottes. Es ist dies der sogenannte teleologische Beweis, der seinen Namen von dem griechischen Worte telos, d. h. Zweck, hat. In Platos Apologie erklärt Sokrates, nicht zu wissen, ob der Tod ein Aufhören aller Empfindung und alles Bewußtseins sei oder eine Wanderung nach einer anderen Stätte. Andererseits geht aus derselben Schrift deutlich hervor, daß er an eine Fortdauer der Seele und an eine Vergeltung nach dem Tode geglaubt hat.

Die dargelegten Gedanken und Überzeugungen des Sokrates finden wir vertieft und erweitert bei seinem größten Schüler wieder, der das Lebenswerk des Meisters im großartigsten Stile fortgeführt hat.


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