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2. Sokrates vor Gericht

Sokrates wurde im Jahre 399 v. Chr. vor Gericht gezogen. Der formelle Hauptankläger war Meletos, ein junger, unbedeutender Mensch, Mitankläger waren Lykon und Anytos. Der erstere war ein Berufsredner von schlechtem Leumund, dagegen war Anytos ein angesehener Führer der Demokratie, der mit Thrasybul in die Verbannung gegangen war und zur Vertreibung der dreissig Tyrannen wesentlich mitgewirkt hatte. Er war ein erbitterter Feind der Sophisten, zu denen man Sokrates vielfach rechnete, und hasste diesen auch aus politischen und persönlichen Gründen. Sein grosses Ansehen hat namentlich zur Verurteilung des Sokrates beigetragen. Dass er formell nicht als der Hauptankläger auftrat, hatte wohl darin seinen Grund, dass man das politische Motiv der Anklage verdecken wollte. Meletos brachte die Anklage bei dem Basileus, dem Könige, ein, d. h. bei dem Archon, in dem das hohepriesterliche Amt des abgeschafften Königtums weiterlebte, und zu dessen Wirkungskreise infolgedessen alle Prozesse gehörten, die zu der Religion in Beziehung standen. Dieser hatte also den Prozess des Sokrates einzuleiten und dann vor die Geschworenen zu bringen. Sokrates kam zu der Voruntersuchung ohne jede Vorbereitung, unmittelbar nach einem wissenschaftlichen Gespräche über ganz andere Dinge, und ebenso hielt er seine Verteidigungsrede aus dem Stegreife, die, getragen von einem edlen Stolze, wie ihn das Bewusstsein der Unschuld und hoher Verdienste erzeugt, auf die Stimmungen der Richter und auf die drohende Gefahr keine Rücksicht nahm. Damit verletzte er seine Richter tief und trug selbst wesentlich zu seiner Verurteilung bei.

Die Klage, die noch lange Zeit nachher im athenischen Staatsarchiv aufbewahrt wurde, lautete: »Sokrates tut unrecht dadurch, dass er nicht an die Götter glaubt, an die der Staat glaubt, sondern andere, neue Gottheiten einführt; er tut aber auch dadurch unrecht, dass er die Jugend verdirbt. Strafantrag: Tod.«

Gegen diese schweren Anklagen verteidigt Plato in seiner »Apologie des Sokrates« seinen Lehrer und Meister, aber zugleich und zwar zuerst verteidigt er ihn auch gegen die Verdächtigungen und Verleumdungen, die viele Jahre vor dem Prozesse hinter seinem Rücken ausgesprochen und immer weiter verbreitet worden waren. Es hatte sich über ihn eine ganz unbegründete ungünstige Meinung gebildet, im Vertrauen auf die denn auch, wie die Apologie selbst sagt, Meletos es wagte, Sokrates vor Gericht zu ziehen, und die hauptsächlich zu seiner Verurteilung beitrug. Diese ungünstige Meinung bestand auch nach dem Tode des Sokrates fort. So galt es denn, die erhobenen Anschuldigungen zu widerlegen, die schlimmen Vorurteile zu zerstreuen und darzutun, dass Sokrates nicht so war, wie man sich ihn vorgestellt hatte und immer noch vorstellte, vor allem aber zu zeigen, wie der so arg verleumdete Sokrates in Wirklichkeit war. Dieser Nachweis war ja die beste Verteidigung.

Plato hat der weltgeschichtlichen Gerichtsverhandlung beigewohnt, aber bei der Abfassung seiner Apologie ging sein Streben nicht darauf, die von seinem Lehrer gehaltene Stegreifrede mit historischer Treue wiederzugeben, sondern den edlen Charakter desselben, die Reinheit seiner Gesinnung und das erhabene Ziel seines Strebens in das rechte Licht zu stellen. Allerdings machte es die in der ganzen Schrift festgehaltene Fiktion, dass sie die wirkliche Rede des Sokrates sei, notwendig, die Darstellung enger an die Weise des Sokrates anzuschliessen, und legte es auch nahe, Züge aus der wirklichen Verteidigungsrede herüberzunehmen. Aber trotzdem ist und bleibt die Apologie das Werk Platos, und wir haben in ihr eine von Plato künstlerisch abgefasste »Rettung« des Sokrates vor uns. Dass Plato dabei die ernste Absicht hatte, ein der Wahrheit vollkommen entsprechendes Bild von seinem Lehrer zu geben, geht schon daraus hervor, dass er ihn im ersten Kapitel seiner Apologie zu den Richtern sagen lässt: »Meine Ankläger haben so gut wie nichts Wahres gesagt, von mir aber werdet ihr die lautere Wahrheit hören.«

Mit grossem Geschick hat Plato für seine Apologie die Form einer wirklich vor Gericht gehaltenen Verteidigungsrede gewählt. Damit wurde seine Darstellung wirkungsvoller und war ihm die Möglichkeit zu reicher Entfaltung seines Stoffes gegeben. Der Gedankengang ist folgender: Sokrates war nicht so, wie ihn die Athener sich vorgestellt haben und noch vorstellen. Er war kein Naturphilosoph und kein Sophist, er meinte auch nicht die Kunst zu verstehen, Menschen heranzubilden. Weit entfernt von dem Glauben, weise zu sein, war er ein nach der Wahrheit Suchender und Forschender, einer, der sich selbst und andere prüfte im Dienste Gottes, dem er seine ganze Zeit und seine ganze Kraft widmete. Er war also auch kein Gottesleugner und kein Verderber der Jugend. Das hat aus gekränkter Eitelkeit hervorgegangene Bosheit aufgebracht und anderen vorgeredet, und leichtfertige Menschen haben, indem sie die böswilligen Verleumdungen nachredeten, sie noch weiter verbreitet. Sokrates war ein durchaus guter und frommer Mann, der erkannt hatte, dass dem Menschen das eine nottut, Sorge zu tragen für seine Seele, dass sie so gut als möglich werde, und der damit erkannt hatte, dass es nur ein Übel gibt, nämlich unrecht tun, denn das schädigt die Seele, während alles andere, Tod, Verbannung, Entziehung der äusseren Ehren, Verlust des Vermögens, keine Übel sind, da sie nicht an die Seele heranreichen. Es gibt nur ein Gut, das ist das Heil der Seele, und es gibt nur ein Übel, das ist das Unrecht, nach christlicher Ausdrucksweise die Sünde, die der Leute Verderben ist. Das hatte Sokrates erkannt, aber nicht seine Mitbürger, die Macht und Reichtum als die höchsten Güter ansahen und darum sittlich verkamen. Deshalb hielt es Sokrates für seine ihm von der Gottheit gestellte Aufgabe, seine Mitbürger zur Erkenntnis der Wahrheit zu bringen. So dachte Sokrates, und seiner sittlichen und religiösen Überzeugung ist er treu geblieben in allen Lagen des Lebens, in der Schlacht, in den Stürmen der Volksversammlung, gegenüber der Gewaltherrschaft der Dreissig, ebenso auch denen gegenüber, die seine Verleumder für seine Schüler ausgaben, ihr ist er auch im Angesichte der richterlichen Entscheidung über sein Leben treu geblieben. Er hat es verschmäht, die Richter um Gnade und Mitleid anzuflehen, hat, als er den Strafantrag stellen sollte, offen erklärt, dass er für sein Tun nicht Strafe, sondern Lohn verdiene, und hat das Todesurteil mit voller Seelenruhe hingenommen. Auch zum Tode verurteilt, hat er an der Überzeugung festgehalten, dass der Tod kein Übel sei, vielmehr wahrscheinlich ein grosses Gut, der Eingang zu einem besseren Dasein, und auch jetzt noch war es ihm eine unumstössliche Gewissheit, dass er, wie jeder Gute, in der Hand Gottes stehe und ihm daher nichts Schlimmes widerfahren könne, demnach auch mit seiner Verurteilung zum Tode nichts Schlimmes widerfahren sei.

So zeigt die Apologie in der Entwickelung der Gedanken zugleich eine schöne Steigerung, und sie endet mit dem, was nach Plato die Gestaltung unseres ganzen inneren Lebens bestimmen muss, mit dem Glauben an ein Jenseits. Wie die Platonische Ethik erst von hier aus ihr rechtes Licht erhält, so wird es uns auch nur unter diesem Gesichtspunkte recht begreiflich, dass Verlust des Vermögens, Verbannung, Kerker und Tod keine Übel sind, und dass es nur ein Übel gibt, nämlich die Sünde.

Apologie Kap. 16-24. 29-31. 33. Stephanus I, pag. 28 A-35 D. 38 C-40 C. 41 C-42 A.

Kap. 16. Doch, ihr Männer von Athen, daß ich nicht im Sinne der Klageschrift des Meletos mich vergangen habe, das bedarf meines Erachtens keines langen Nachweises, sondern das Gesagte reicht schon hin. Wenn ich aber vorhin hervorhob, daß mir in hohem Grade und bei vielen Feindschaft erwachsen ist, so beruht das, wisset es wohl, auf Wahrheit. Und das ist es auch, was mich zu Falle bringen wird, wenn ich verurteilt, werde, nicht Meletos und auch nicht Anytos, sondern die üble Meinung und die Mißgunst der Menge. Das hat auch schon viele edle und brave Männer zu Falle gebracht und wird, glaube ich, noch viele zu Falle bringen; es ist gar nicht zu besorgen, daß ich der letzte bin.

Vielleicht dürfte nun einer sagen: »Und da schämst du dich nicht, Sokrates, dich mit Dingen abgegeben zu haben, durch die du jetzt in Gefahr schwebst, den Tod zu erleiden?« Einem solchen könnte ich mit Recht erwidern: Das ist keine schöne Rede, mein Lieber, wenn du meinst, ein Mann, der auch nur ein wenig nütze ist, dürfe nach Leben oder Sterben fragen und müsse nicht vielmehr bei all seinem Tun lediglich darauf sehen, ob er recht oder unrecht handelt und die Werke eines guten oder bösen Mannes vollbringt. Elende wären ja nach deiner Rede alle Heroen, so viele ihrer vor Troja den Tod gefunden haben, besonders der Sohn der Thetis, der alle Gefahr durchaus verachtete, gegenüber der Schande, die er auf sich nehmen könnte. Zu ihm, der heißes Verlangen trug, Hektor zu töten, sprach seine Mutter, die doch eine Göttin war, ungefähr also: »Mein Sohn, wenn du den Tod deines Freundes Patroklos rächst und Hektor tötest, wirst auch du sterben; denn alsbald nach Hektor ist dir das Schicksal bereitet.« Der Sohn aber achtete Tod und Gefahr gering, und weit mehr besorgt, als ein schlechter Mann zu leben und einen Freund nicht zu rächen, sprach er: »Möge ich sogleich sterben, nachdem ich den Frevler bestraft habe, damit ich nicht verlacht hier bei den geschweiften Schiffen bleibe, eine Last der Erde.« Meinst du denn, der habe sich um Tod und Gefahr gekümmert? Ja, so verhält es sich in Wahrheit, ihr Männer von Athen: Wohin einer sich gestellt hat, in der Überzeugung, es sei so am besten, oder von einem Oberen gestellt worden ist, da muß er, denke ich, ausharren und jeder Gefahr trotzen, indem er lieber den Tod auf sich nimmt als die Schande.

Kap. 17. Arges, in der Tat, hätte ich verübt, ihr Männer von Athen, wenn ich zwar bei Potidäa, Amphipolis und Delion, als die von euch eingesetzten Befehlshaber mir einen Posten anwiesen, auf diesem ausharrte, wie so mancher andere auch, und der Gefahr des Todes ins Auge sah, als aber der Gott, wie ich bestimmt glaubte, mir den Posten anwies, ich sollte im Suchen nach der Wahrheit mein Leben hinbringen und in der Prüfung meiner und anderer, wenn ich da aus Furcht vor dem Tode oder einem anderen Übel meinen Platz verlassen hätte. Arg fürwahr wäre das, und dann könnte einer mich wahrhaftig mit Recht vor Gericht ziehen und die Klage erheben, daß ich nicht an Götter glaube, da ich dem Spruche des Gottes ungehorsam wäre und den Tod fürchtete und mich weise dünkte, ohne es zu sein. Denn den Tod fürchten, ihr Männer, das heißt gewiß nichts anderes als glauben, man sei weise, während man es nicht ist. Von dem Tode wissen die Menschen nicht einmal das, ob er nicht etwa das größte aller Güter für uns ist, sie fürchten ihn aber, als ob sie ganz genau wüßten, daß er der Übel größtes sei. Ist das nicht jene schmachvolle Unwissenheit, daß man zu wissen glaubt, was man nicht weiß? Ich aber, ihr Männer, unterscheide mich vielleicht auch hierbei von der großen Menge der Menschen, und wenn ich nun sagen wollte, ich sei durch etwas Weiser als ein anderer, so dürfte es hierdurch sein, daß ich ein ausreichendes Wissen von dem Jenseits, das ich nicht besitze, auch nicht zu besitzen vermeine. Daß es aber ein Übel und eine Schande ist, unrecht zu tun und dem Besseren, mag es nun ein Gott oder ein Mensch sein, nicht zu gehorchen, das weiß ich. Mehr als die Übel nun, von denen ich weiß, daß sie Übel sind, werde ich niemals Dinge fürchten und fliehen, von denen ich nicht weiß, ob sie nicht vielleicht Güter sind.

Wenn ihr mich nun jetzt losgebt und auf Anytos nicht hört, der erklärte, da ich einmal vor Gericht gezogen sei, so müsse ich unbedingt zum Tode verurteilt werden, sonst hätte ich überhaupt nicht vor Gericht kommen dürfen, denn wenn ich der Verurteilung entginge, so würden fortan eure Söhne die Lehren des Sokrates befolgen und alle zusammen ganz und gar verdorben werden, – wenn ihr dem gegenüber sagtet: »Sokrates, jetzt wollen wir Anytos nicht folgen, sondern geben dich los, jedoch nur unter der Bedingung, daß du dir nicht mehr mit solcher Nachforschung zu schaffen machst und auch nicht mehr philosophierst; wirst du aber wieder dabei betroffen, so mußt du sterben«, wenn ihr mich also, wie gesagt, auf solche Bedingung hin losgeben wolltet, so würde ich zu euch sagen: »Ihr Männer von Athen, ihr seid mir lieb und wert, doch werde ich dem Gotte mehr gehorchen als euch, und solange noch ein Hauch in mir ist und ich die Kraft dazu habe, werde ich ganz gewiß nicht aufhören, nach der Wahrheit zu suchen, euch zu ermahnen und jedem von euch, den ich treffe, Vorhalt zu machen und in meiner gewohnten Weise zu ihm zu sagen: »Mein Lieber, du bist ein Athener, Bürger einer so großen und durch Intelligenz und Tüchtigkeit hoch berühmten Stadt und schämst dich nicht, dich um Gelderwerb zu sorgen und um Ruhm und Ehre, für die Erkenntnis aber und die Wahrheit und für deine Seele, daß sie so gut als möglich werde, sorgst und kümmerst du dich nicht?« Und wenn einer von euch das bestreitet und behauptet, er kümmere sich wohl darum, so werde ich ihn nicht gleich loslassen und meiner Wege gehen, sondern werde ihn fragen und ausforschen und prüfen, und wenn mich dünkt, er besitze keine Tugend, sondern behaupte es nur, so werde ich ihm den Vorwurf machen, daß er das Wertvollste am geringsten achtet, das minder Wertvolle aber höher. So werde ich mit einem jeden verfahren, den ich treffe, mit Jüngeren und Älteren, mit Fremden und Bürgern, vorzüglich jedoch mit den Bürgern, da ihr mir durch Abstammung näher steht. Denn solches gebietet der Gott, wisset es wohl, und wie ich glaube, ist euch und dem Staate noch nie ein größeres Gut zuteil geworden als mein dem Gotte geweihter Dienst. Denn zu keinem anderen Zwecke gehe ich umher, als um Jüngere und Ältere von euch zu bestimmen, weder für den Leib noch für das Vermögen früher zu sorgen und auch nicht in so hohem Maße wie für das Heil der Seele. Und ich weise darauf hin, daß nicht durch Geld der Mensch die Tugend gewinnt, sondern durch die Tugend Geld und alle anderen Güter im privaten wie im öffentlichen Leben. Wenn ich nun mit solchen Reden die jungen Leute verderbe, so müssen diese Reden schädlich sein; wenn aber einer sagt, ich führe andere Reden als diese, so ist seine Rede nichtig. Darum, ihr Athener, möchte ich sagen, folgt Anytos oder folgt ihm nicht, und gebt mich los oder gebt mich nicht los, seid aber überzeugt, daß ich nicht anders handeln werde, und wenn ich zehnmal sterben soll.

Kap. 18. Macht keinen Lärm, ihr Männer von Athen, sondern folgt meiner Bitte und hört meiner Rede ruhig zu; ihr werdet ja auch, denke ich, Gewinn davon haben. Allerdings bin ich im Begriff, euch auch sonst noch manches zu sagen, worüber ihr vielleicht Geschrei erheben werdet; aber tut das ja nicht; denn wißt es wohl, wenn ihr mich tötet, einen Mann von meiner Art, so werdet ihr mir keinen größeren Schaden zufügen als euch selbst, denn mir wird weder Meletos noch Anytos irgendwie schaden; er vermag es ja auch nicht. Ist es doch, wie mich bedünket, gegen die göttliche Ordnung, daß der bessere Mann von einem schlechteren geschädigt werde. Töten allerdings kann er mich wohl oder in die Verbannung treiben oder der bürgerlichen Ehren berauben, und solches hält er vielleicht, und wohl auch mancher andere, für große Übel; ich aber halte es nicht dafür, sondern weit mehr sein Beginnen, nämlich den Versuch, widerrechtlich den Tod eines Mannes herbeizuführen.

Wahrlich, ihr Männer von Athen, ich bin jetzt weit davon entfernt, mich um meinetwillen zu verteidigen, wie wohl mancher glaubt, sondern ich verteidige mich um euretwillen, damit ihr euch nicht etwa durch meine Verurteilung an der euch verliehenen Gabe des Gottes versündigt. Denn wenn ihr mich tötet, werdet ihr nicht leicht einen anderen von meiner Art finden, der geradezu, wenn es auch etwas komisch klingt, der Stadt beigegeben ist wie eine Bremse einem großen und edlen Rosse, das infolge seiner Größe etwas träg ist und der Anregung durch irgend einen Stachel bedarf. Und so scheint in der Tat der Gott mich der Stadt beigesellt zu haben als einen, der unaufhörlich einen jeden von euch durch Zuspruch und Tadel anregt, indem er den ganzen Tag über allerorts euch auf dem Nacken sitzt. Wahrhaftig, einen solchen werdet ihr nicht leicht wiederfinden, darum folgt mir und schont meiner. Doch ihr werdet vielleicht im Ärger, gleich denen, die aus dem Schlafe aufgestört werden, nach mir schlagen, und werdet mich, gehorsam dem Anytos, leichten Sinnes töten und dann die ganze übrige Lebenszeit schlafend hinbringen, wenn sich nicht der Gott euer erbarmt und euch einen anderen schickt.

Daß ich aber ein Mann bin, den die Gottheit der Stadt geschenkt hat, könnt ihr aus folgendem erkennen. Es gleicht doch nicht menschlicher Weise, daß ich alle meine Angelegenheiten verabsäumt habe und die Vernachlässigung meines Haushaltes bereits so viele Jahre ruhig mit ansehe und immer nur für euch tätig bin, indem ich persönlich an einen jeden von euch herantrete wie ein Vater oder älterer Bruder und ihm zurede, daß er sich der Tugend befleißige. Und wenn ich einen Gewinn davon hätte und eine Bezahlung für solche Ermahnungen erhielte, dann hätte die Sache noch einen Grund, so aber seht ihr doch wohl selbst, daß meine Ankläger, die alle anderen Anklagen in so schamloser Weise erhoben, doch die Unverschämtheit nicht fertig gebracht haben, einen Zeugen dafür aufzustellen, daß ich jemals Bezahlung genommen oder auch nur verlangt hätte; der Zeuge aber, den ich für die Wahrheit meiner Worte ausstelle, ist, denke ich, vollgültig, nämlich meine Armut.

Kap. 19. Vielleicht dürfte es seltsam erscheinen, daß ich den einzelnen solche Ratschläge erteile, indem ich von dem einen zu dem andern gehe und mir viel zu schaffen mache, es aber nicht über mich gewinne, öffentlich vor dem Volke aufzutreten und der Stadt zu raten. Den Grund hiervon habt ihr mich schon bei vielen Gelegenheiten anführen hören, daß sich nämlich in mir etwas Göttliches und Dämonisches offenbart, was denn auch Meletos in seiner Anklage mit komödienhafter Verdrehung vorgebracht hat. Das regt sich in mir seit meiner Jugendzeit gleich einer Stimme, die, sooft sie sich vernehmen läßt, mich jedesmal abhält von dem, was ich im Begriffe bin zu tun, niemals aber mich antreibt. Das ist es, was mich daran hindert, mich mit den Angelegenheiten des Staates zu befassen, und meines Erachtens mit gutem Grunde. Wisset, ihr Männer von Athen, wenn ich mich mit den Angelegenheiten des Staates befaßt hätte, so wäre ich längst umgekommen und hätte weder euch noch mir irgendwie genützt. Und zürnt mir nicht, wenn ich die Wahrheit sage: Niemand auf der Welt wird erhalten bleiben, der euch oder sonst einer Volksmenge freimütig entgegentritt und ungerechtes und gesetzwidriges Tun im Staate zu hindern sucht, sondern wer in Wahrheit für das Recht kämpfen will, muß ganz unbedingt, auch wenn er nur kurze Zeit erhalten bleiben soll, sich von dem öffentlichen Leben fernhalten.

Kap. 20. Gewichtige Beweise werde ich euch hierfür vorbringen, nicht Worte, sondern, worauf ihr Wert legt, Tatsachen. Vernehmt also, was mir begegnet ist, auf daß ihr wißt, daß ich aus Furcht vor dem Tode vor keinem zurückweichen würde gegen das Recht; das aber wäre schon längst mein Tod gewesen. Was ich euch sagen werde, wird zwar prahlerisch klingen, wie so vieles, was vor Gericht vorgebracht zu werden pflegt, aber es wird wahr sein. Ich habe, ihr Männer von Athen, sonst nie ein Amt im Staate bekleidet, nur Mitglied des Rates bin ich gewesen, und unsere Phyle hatte gerade den Vorsitz, als ihr die zehn Feldherren, die die in der Seeschlacht Verunglückten nicht geborgen hatten, alle auf einmal verurteilen wolltet. Das Ungesetzliche dieses Verfahrens habt ihr ja später selbst eingesehen. Damals trat ich allein von den Prytanen euch entgegen, und während die Redner bereit waren, mich dem Gerichte zu überliefern und in Haft zu bringen und ihr unter lautem Geschrei dazu auffordertet, meinte ich, lieber auf seiten des Gesetzes und Rechtes die äußerste Gefahr bestehen zu sollen, als euch in eurem ungerechten Tun zu unterstützen, aus Furcht vor Kerker und Tod. Und das war zu der Zeit, als der Staat noch eine demokratische Verfassung hatte; als aber ein oligarchisches Regiment aufgekommen war, da beschieden mich die Dreißig mit vier anderen nach der Tholos und beauftragten uns, den Salaminier Leon aus seiner Heimat zur Hinrichtung zu holen, wie sie denn solche Aufträge auch vielen anderen erteilten, in der Absicht, möglichst viele in Verschuldungen zu verstricken. Damals habe ich wahrlich nicht mit Worten, sondern durch die Tat gezeigt, daß ich mir aus dem Tode, mag's auch derb klingen, gar nichts mache, daß mir aber alles daran gelegen ist, kein Anrecht und keine Sünde zu begehen. Jenes Regiment, das doch so gewaltig war, vermochte nicht, mich so einzuschüchtern, daß ich ein Unrecht begangen hätte, sondern als wir aus der Tholos kamen, gingen die vier anderen nach Salamis und holten Leon, ich aber ging ruhig nach Hause. Wenn jenes Regiment nicht bald gestürzt worden wäre, so hätte mich dies wohl das Leben gekostet. Die Wahrheit dieser Worte werden euch viele bezeugen.

Kap. 21. Meint ihr nun, ich wäre so viele Jahre erhalten geblieben, wenn ich mich dem öffentlichen Leben widmete, dabei, wie es eines braven Mannes würdig ist, dem Rechte zu Hilfe kam und hierauf den höchsten Wert legte? Dieses Los wäre weder mir, noch sonst einem zuteil geworden.

Mein ganzes Leben hindurch werde ich in jeder Beziehung als ein Mann erfunden werden, der sich von keinem bestimmen ließ, gegen das Recht zu handeln, auch nicht von denen, die meine Verleumder für meine Schüler ausgeben. Ich bin aber niemals jemandes Lehrer gewesen. Wenn allerdings einer Verlangen trug, mich reden und meinen Beruf ausüben zu hören, so habe ich das keinem verwehrt, weder einem Jüngeren noch einem Älteren, und es ist auch nicht so, daß ich mich unterrede, wenn ich Geld dafür bekomme, im anderen Falle aber nicht, sondern in gleicher Weise stelle ich mich dem Armen wie dem Reichen zur Verfügung, daß er hört, was ich sage, indem ich die Rolle des Fragenden, und wenn einer will, auch des Antwortenden übernehme. Ob nun einer von ihnen tüchtiger wird oder nicht, dafür kann ich nicht mit Recht verantwortlich gemacht werden, denn ich habe niemals einem von ihnen irgend welchen Unterricht versprochen noch erteilt. Wenn aber einer behauptet, er habe jemals unter vier Augen von mir für sich etwas Besonderes gelernt oder gehört, so ist das, darauf verlaßt euch, nicht wahr.

Kap. 22. Doch warum haben denn manche ihre Freude daran, mit mir oft und lange zu verkehren? Ihr habt es gehört, ihr Männer von Athen; ich habe euch die volle Wahrheit gesagt: weil sie Wohlgefallen daran finden, zu hören, wie die geprüft werden, die sich weise dünken, während sie es nicht sind; denn das ist gar nicht unangenehm. Mir aber ist diese Tätigkeit, wie ich meine, von der Gottheit aufgetragen durch Orakelsprüche und Traumgesichte und in jeder Weise, in der auch sonst einmal ein Mensch durch eine göttliche Schickung den Auftrag zu irgend welcher Tätigkeit erhalten hat.

Das ist, ihr Männer von Athen, wahr und leicht zu erweisen. Denn wenn ich wirklich die einen von den jungen Leuten verderbe, die anderen verdorben habe, so müßten doch wohl diejenigen, die etwa im Laufe der Jahre zur Einsicht gekommen wären, daß ich ihnen in ihrer Jugend zu Schlechtem geraten habe, jetzt mit einer Anklage gegen mich auftreten und meine Bestrafung herbeiführen; wenn sie aber selbst nicht wollten, so müßten welche von ihren Angehörigen, Väter und Brüder und sonstige Verwandte, wenn anders ich auf ihre Angehörigen einen schlimmen Einfluß ausgeübt hätte, jetzt dessen gedenken. Auf jeden Fall sehe ich viele hier vor mir, von denen doch Meletos gleich in seiner Klagerede einen hätte als Zeugen anführen sollen; hat er es damals vergessen, so mag er es jetzt tun; ich gestalte es ihm, und hat er etwas derartiges vorzubringen, so mag er es nur sagen. Aber ganz im Gegenteil werdet ihr alle bereit finden, mir beizustehen, mir, der ihre Angehörigen verdirbt und schädigt, wie Meletos und Anytos sagen. Denn die Verdorbenen selbst hätten allerdings Grund, mir beizustehen, die Unverdorbenen aber, bereits ältere Männer, die Anverwandten dieser, welchen anderen Grund haben diese, mir beizustehen, als den rechten und gerechten, daß sie ganz genau wissen, Meletos lügt, ich dagegen sage die Wahrheit?

Kap. 23. Nun gut, ihr Männer! Was ich zu meiner Verteidigung zu sagen habe, ist ungefähr das und vielleicht noch einiges andere dieser Art. Es wird wohl nun mancher von euch bei dem Gedanken an sich unwillig werden, wenn er selbst, noch dazu in einem weniger gefährlichen Prozesse als dem meinigen, die Richter bat und unter vielen Tränen anflehte, auch seine Kinder mit herbrachte, um nur ja recht viel Mitleid zu erregen, und sonst Verwandte und Freunde in Menge, ich aber gar nichts derart tun werde, während ich doch, wie es wohl den Anschein hat, in der äußersten Gefahr schwebe. Vielleicht nun wird mancher bei solchen Erwägungen sich gegen mich verhärten und, dadurch aufgebracht, seine Stimme im Zorne abgeben. Wenn nun einer von euch so gesinnt ist, ich behaupte es ja nicht, aber wenn es doch der Fall ist, so kann ich wohl billigerweise zu ihm sagen: »Mein Bester, ich habe doch wohl auch Angehörige und stamme nicht, wie es bekanntlich bei Homer heißt, von einer Eiche oder einem Felsen ab, sondern von Menschen, auch habe ich Söhne, ihr Männer von Athen, drei, von denen einer schon herangewachsen ist, zwei aber sind noch klein. Gleichwohl habe ich keinen von ihnen mit hierhergebracht, um euch um meine Freisprechung zu bitten. Warum denn tue ich so etwas nicht? Nicht aus Selbstgefälligkeit und auch nicht aus Geringschätzung gegen euch; ob es aber Mut dem Tode gegenüber ist oder nicht, die Frage gehört nicht hierher. Hinsichtlich der Ehre jedoch ist es meines Erachtens für mich und euch und die ganze Stadt nicht gut, wenn ich solches tue, ein Mann in diesem Alter und von solchem Rufe, mag er nun begründet sein oder nicht; auf jeden Fall haben es sich die Leute nun einmal in den Kopf gesetzt, Sokrates zeichne sich durch etwas vor der Mehrzahl der Menschen aus. Wenn nun diejenigen von euch, die durch Weisheit oder Tapferkeit oder sonst eine Tugend ausgezeichnet erscheinen, sich so benehmen, so ist das eine Schande. Solcher habe ich viele gesehen, die, trotz ihres hohen Rufes, sich vor Gericht gar wunderbar gebärdeten, wie wenn sie meinten, es werde ihnen etwas ganz Erschreckliches widerfahren, wenn sie den Tod erleiden müßten, gleich als ob sie unsterblich sein würden, wenn ihr sie nicht zum Tode verurteiltet. Diese bringen meines Erachtens Schande auf die Stadt, und auch manchem Fremden wird der Gedanke kommen, daß durch Tüchtigkeit ausgezeichnete Athener, denen ihre Mitbürger bei der Verleihung von Ämtern und anderen Ehren einen Vorzug vor sich einräumen, sich gar nicht von Weibern unterscheiden. Solches, ihr Männer von Athen, dürfen weder wir tun, denen man in irgend einer Beziehung einige Bedeutung beimißt, noch dürft ihr es zugeben, daß wir uns so benehmen, sondern ihr müßt gerade zeigen, daß ihr weit eher geneigt seid, einen zu verurteilen, der solche Jammerszenen aufführt und damit die Stadt lächerlich macht, als einen, der sich ruhig verhält.

Kap. 24. Abgesehen von der Ehre, ihr Männer, scheint es mir auch nicht gerecht zu sein, den Richter zu bitten und durch Bitten der Verurteilung zu entgehen, sondern ihn zu belehren und zu überzeugen. Denn nicht dazu ist der Richter da, daß er nach Gunst Recht spricht, sondern daß er des Rechtes waltet; auch hat er geschworen, nicht Gunst zu erweisen, wem ihm gerade beliebt, sondern nach den Gesetzen zu richten. Darum dürfen weder wir euch an Meineid gewöhnen, noch dürft ihr euch daran gewöhnen lassen; denn das wäre von uns beiden nicht fromm. Verlangt also von mir nicht ein Verhalten, das nach meiner Überzeugung weder ehrenwert, noch gerecht, noch fromm ist, namentlich da ich gerade der Gottlosigkeit von Meletos hier angeklagt bin. Denn das ist klar: wenn ich euch, die ihr doch geschworen habt, betörte und durch Bitten nötigte, so würde ich euch lehren, nicht an Götter zu glauben, und würde mich durch meine Verteidigung geradezu anklagen, daß ich nicht an Götter glaube. Aber dem ist durchaus nicht so; denn ich glaube an sie, ihr Männer von Athen, wie keiner von meinen Anklägern, und ich stelle es euch und der Gottheit anheim, über mich zu entscheiden, wie es für mich und für euch das Beste sein wird.

Mit diesem Kapitel ist die Verteidigungsrede des Sokrates zu Ende. Es folgte nun ohne vorhergehende Debatte die Abstimmung der Richter über Schuldig oder Nichtschuldig. Von den 500 Geschworenen, die über Sokrates zu Gericht sassen, stimmten 220 für Sokrates, 280 gegen ihn. Sokrates war wegen Gottlosigkeit angeklagt. Bei solchen Prozessen war die Strafe nicht durch das Gesetz bestimmt, sondern sie wurde in jedem einzelnen Falle erst festgesetzt. Der Kläger stellte einen Strafantrag, der Angeklagte einen Gegenantrag, und der Gerichtshof entschied für den einen der beiden Anträge. Die gegen Sokrates eingereichte Klageschrift schloss mit den Worten: »Strafantrag: Tod.« Sokrates stellte nunmehr in einer zweiten Rede seinen Gegenantrag. Den auf Schuldig lautenden Spruch der Geschworenen hatte er mit Gleichmut aufgenommen, und im Bewusstsein, seinen hohen Beruf treu erfüllt zu haben, erklärte er, wenn er beantragen solle, was er verdiene, so müsse er etwas beantragen, was einem armen und um den Staat wohlverdienten Manne zukomme, der frei von Geschäften sein müsse, um seine Mitbürger zur Tugend hinzuführen. »Das Angemessene für einen solchen«, sprach er, »ist Speisung im Prytaneum, weit mehr als für einen, der zu Ross oder Wagen den Sieg in Olympia davongetragen hat; denn der verschafft seinen Mitbürgern nur ein scheinbares Glück, ich aber ein wirkliches, und der bedarf des Unterhaltes nicht, wohl aber ich.« Strafen, die Übel seien, wie Kerker und Verbannung, könne er nicht beantragen. Nach seiner Überzeugung habe er noch keinem Menschen unrecht getan, und so werde er auch sich kein Unrecht zufügen; auch sei er nicht gewohnt, sich eines Übels für würdig zu erachten. Eine Geldbusse sei keine wirkliche Schädigung, und so beantrage er die Zahlung einer Mine Silbers (ungefähr 75 Mark), denn so viel könne er vielleicht bezahlen. Auf das Zureden Platos und drei seiner anderen Freunde beantragte er schliesslich eine Strafe von 30 Minen (gegen 2250 Mark), für deren Bezahlung diese Bürgschaft leisten würden.

In diesen Erklärungen sah ein grosser Teil der Richter strafwürdige Überhebung, und so erkannte der Gerichtshof mit einer weit grösseren Mehrheit als bei der Entscheidung über Schuldig oder Nichtschuldig auf Tod. Hierauf sprach der Verurteilte nach Platos Apologie folgendermassen:

Kap. 29. Um einer kurzen Zeit willen werdet ihr Athener in den üblen Ruf kommen, und von denen, die die Stadt schmähen wollen, beschuldigt werden, daß ihr Sokrates zum Tode verurteilt habt, einen weisen Mann; denn ganz gewiß werden mich die, die euch einen Vorwurf machen wollen, weise nennen, obwohl ich es nicht bin. Hättet ihr nun eine kleine Weile gewartet, so wäre euch das von selbst zugefallen; ihr seht ja, daß ich bei meinem Alter auf der Bahn des Lebens bereits weit vorgeschritten und dem Tode nahe bin. Das sage ich nicht zu euch allen, sondern zu denen, die mich zum Tode verurteilt haben. Zu diesen sage ich auch das Folgende: Vielleicht meint ihr, ihr Männer, daß ich aus Mangel an Worten unterlegen bin, an solchen, durch die ich euch für mich gewonnen hätte, wenn ich glaubte, alles tun und sagen zu sollen, um nur der Verurteilung zu entgehen. Dem ist aber nicht so. Allerdings bin ich infolge eines Mangels unterlegen, jedoch nicht an Worten, sondern an Dreistigkeit und Unverschämtheit und an dem Willen, Dinge zu euch zu sagen, wie ihr sie am liebsten gehört hättet. Weinen hätte ich sollen und jammern und sonst vieles tun und sagen, was meiner nicht würdig ist, wie ich meine; das wäre euch recht gewesen. Solches seid ihr eben von anderen zu hören gewohnt. Allein wie ich vorhin nicht glaubte, der Gefahr wegen etwas Unedles tun zu sollen, so reut es mich auch jetzt nicht, mich so verteidigt zu haben, wie ich es getan, sondern weit lieber will ich nach einer solchen Verteidigung sterben, als leben nach einer Verteidigung jener Art. Denn weder vor Gericht noch im Kriege darf ich oder sonst einer darauf bedacht sein, um jeden Preis dem Tode zu entgehen. Auch in den Schlachten ist es oft genug ganz klar, daß einer dem Tode entrinnen kann, wenn er die Waffen wegwirft und seine Verfolger um Gnade anfleht, und so gibt es in allen Gefahren Mittel in Menge, dem Tode zu entrinnen, wenn man sich nicht scheut, alles mögliche zu tun und zu sagen. Dem Tode zu entfliehen ist gewiß nicht schwer, weit schwerer ist es, der Schlechtigkeit zu entgehen, denn sie läuft schneller als der Tod. Und so bin ich langsamer und alter Mann jetzt von dem Langsameren erreicht worden, meine Ankläger dagegen, kräftige und rasche Männer, von dem Schnelleren, der Schlechtigkeit. So werde ich jetzt hingehen, von euch des Todes schuldig befunden, diese aber von der Wahrheit der Schlechtigkeit und Ungerechtigkeit für schuldig erkannt. Und wir beide verbleiben bei dem Spruche, ich und sie. Das mußte wohl auch so kommen, und ich glaube, daß es so gut ist.

Kap. 30. Sokrates sagt den Richtern, die ihn verurteilt haben, voraus, dass sie von seiner Verurteilung nur Nachteil haben werden. Darauf wendet er sich an die Richter, die ihn freigesprochen haben.

Kap. 31. Mit denen aber, die mich freigesprochen haben, möchte ich mich gern über dieses Ereignis unterhalten, solange die Behörden beschäftigt sind und ich noch nicht dahin gehen muß, wo ich sterben soll. So bleibt denn, ihr Männer, so lange noch bei mir. Es besteht ja kein Hindernis, daß wir uns ruhig miteinander unterhalten, solange es erlaubt ist. Euch will ich als meinen Freunden dartun, was denn das Schicksal zu bedeuten hat, das mir zugestoßen ist. Etwas Wunderbares ist mir begegnet, hochgeehrte Richter, denn euch dürfte ich mit Recht Richter nennen. Mein gewohntes Orakel wurde mir in der ganzen früheren Zeit bei jeder Gelegenheit häufig zuteil und trat mir auch bei ganz geringen Anlässen abmahnend entgegen, sooft ich im Begriff stand, etwas nicht Richtiges zu tun; jetzt aber ist mir, wie ihr selbst seht, das zugestoßen, was von manchem für das äußerste Übel gehalten wird und allgemein dafür gilt. Aber weder heute morgen widerstand mir das Zeichen des Gottes, als ich mein Haus verließ, noch als ich hierher zu dem Gerichtshofe heraufstieg, noch an irgend einer Stelle meiner Rede, wenn ich im Begriff stand, etwas zu sagen, während es mich bei anderen Gelegenheiten vielfach mitten in der Rede angehalten hat. Jetzt aber, bei diesem Prozesse, ist es mir bei keinem Tun und bei keinem Worte in den Weg getreten. Was nehme ich nun als Grund hierfür an? Ich will es euch sagen. Das, was mir begegnet ist, scheint mir etwas Gutes zu sein, und auf keinen Fall haben wir die richtige Auffassung, so viele von uns meinen, der Tod sei ein Übel. Ein vollgültiger Beweis ist mir hierfür geworden; denn auf jeden Fall wäre mir mein gewohntes Zeichen hindernd in den Weg getreten, wenn ich nicht etwas Gutes erfahren sollte.

Kap. 32. Inhalt: Es besteht begründete Hoffnung darauf, dass der Tod ein Gut ist. Denn der Tod kann nur zweierlei sein. Entweder ist er ein Zustand derart, dass der Tote nichts ist und von nichts eine Empfindung hat, vergleichbar einem so festen Schlafe, dass der Schlafende nicht einmal einen Traum hat. Dann ist er ein Gewinn, denn selbst der Grosskönig würde nicht viele Tage und Nächte angeben können, die er besser und angenehmer verlebt hat als eine solche Nacht. Oder der Tod ist eine Wanderung von, hier nach einem anderen Orte, und es ist wahr, dass die Verstorbenen alle im Hades sind. Dann gibt es gar kein grösseres Glück als den Tod. Die Seligkeit im Jenseits findet Sokrates in der Gerechtigkeit, die dort herrscht, in dem Verkehr mit gerechten Männern, mit Männern, die ein ähnliches Schicksal erlitten haben, und mit bedeutenden Männern und Frauen, und auch hier wiederum in der Prüfung seiner selbst und anderer, dem Hauptmittel zur Förderung eigener und fremder Erkenntnis und damit zur sittlichen Vervollkommnung, der eigenen sowohl als der anderer. Diese Prüfung ist ein frommes Tun, das, ungehemmt vollzogen, zur Quelle eines unendlichen Glückes wird.

Bei dieser ganzen Erörterung blickt die Vorstellung durch, dass die Art des Lebens und Wirkens auf Erden sich in der Unterwelt fortsetzt.

Kap. 33. Aber auch ihr, sehr geehrte Richter, mögt gute Hoffnung hegen hinsichtlich des Todes, und müßt vor allem an der Wahrheit des Gedankens festhalten, daß es für einen guten Mann kein Übel gibt weder im Leben noch im Tode, und daß seine Sache von den Göttern nicht verabsäumt wird. Auch mein jetziges Los ist mir nicht von ungefähr gefallen, sondern es ist mir offenbar, daß es für mich besser ist, nunmehr tot zu sein und befreit von den Mühen des Lebens. Darum hat mich auch die innere Stimme an keiner Stelle abgemahnt, und ich zürne denen, die mich verurteilt haben, und meinen Anklägern keineswegs. Allerdings haben sie nicht in diesem Sinne mich verurteilt und angeklagt, sondern sie vermeinten, mir zu schaden. Das kann man ihnen zum Vorwurf machen. Diese eine Bitte jedoch richte ich an sie: Wenn meine Söhne herangewachsen sind, dann übt an ihnen Vergeltung, ihr Männer, dadurch, daß ihr ihnen genau denselben Verdruß bereitet, den ich euch bereitete. Wenn ihr meint, sie sorgen sich um Geld oder sonst etwas eher als um die Tugend, und wenn sie glauben, etwas zu sein, während sie nichts sind, so verweiset es ihnen, gerade so wie ich euch, daß sie sich nicht um das kümmern, was nottut, und sich einbilden, etwas zu sein, während sie nichts wert sind. Und wenn ihr das tut, so ist mir Gerechtigkeit von euch widerfahren, mir selbst und meinen Söhnen. Doch es ist ja nunmehr Zeit, wegzugehen, für mich, um zu sterben, für euch, um zu leben. Wer aber von uns dem besseren Lose entgegengeht, das weiß niemand als Gott allein.


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