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2. Die Sophistik

War mit der ganzen Weltanschauung der Eleaten die Wahrheit der Sinneswahrnehmung geleugnet, so leugneten die Sophisten die Wahrheit des Denkens. Für den eigentlichen Begründer der Sophistik gilt Protagoras aus Abdera, ein älterer Zeitgenosse des Sokrates, der als Lehrer der Redekunst in vielen griechischen Städten, besonders in Athen wirkte. Indem er Heraklits Lehre vom ewigen Flusse aller Dinge auch aus das erkennende Subjekt als solches übertrug, stellte er die Behauptung auf: »Der Mensch ist das Maß aller Dinge, der seienden, daß sie sind, der nicht seienden, daß sie nicht sind«, d. h. eine wirkliche (objektive) Erkenntnis der Dinge gibt es nicht, Wesen und Wert der Dinge bestimmt der Mensch, nämlich der einzelne Mensch. Sein Urteil über die Dinge, mag es nun ein positives oder ein negatives sein, ist wahr, nämlich für ihn; wenn ein anderer über dieselbe Sache das entgegengesetzte Urteil fällt, so ist das Urteil dieses zweiten ebenso wahr, nämlich wiederum für ihn. Also bestimmt jeder einzelne nach eigenem Ermessen und nach eigenem Belieben das Wesen und den Wert der Dinge. Was das bekannte Wort, daß über den Geschmack nicht zu streiten sei, vom Essen und Trinken behauptet, das behauptet die Sophistik von allen Gebieten der menschlichen Erkenntnis und Wertschätzung, also auch von dem Gebiete des sittlichen und religiösen Lebens. Wenn einer sagt: »Was sich jemand durch Fleiß und Sparsamkeit erworben hat, das ist sein rechtmäßiges Eigentum«, so ist dieses Urteil wahr, und wenn ein anderer sagt: »Alles Eigentum ist Diebstahl, denn es ist der Gesamtheit entwendet«, so ist dieses Urteil ebenso wahr, nämlich das erste Urteil ist für den ersten wahr und das zweite Urteil für den zweiten. Und wenn einer an dem ersten Urteile lange Jahre festgehalten hat, dann aber dieses fallen läßt und dem zweiten, zustimmt, so hat er beide Male in gleicher Weise recht. Bei dieser Auffassung gibt es keine objektive oder allgemein gültige Wahrheit, sondern alles ist rein subjektiv.

Wir begegnen gleich hier einem Widerspruche. Während behauptet wird, alles sei subjektiv, wird diesem Satze selbst objektive Wahrheit zugesprochen. Und es wiederholt sich diese Erscheinung, daß die Sophistik trotz ihrer subjektiven Grundlage für ihre Behauptungen allgemeine Gültigkeit in Anspruch nimmt.

Indem der Sophistik der Glaube an die Wahrheit fehlt, fehlt ihr auch der Glaube an die Wissenschaft, denn diese hat den Glauben an die Wahrheit zur Voraussetzung. Im Zusammenhange hiermit zeigt sich bei den Sophisten eine auffällige Vernachlässigung der Mittel wissenschaftlicher Behandlung und Beweisführung. An die Stelle der wissenschaftlichen Methode der Darstellung tritt bei ihnen der lang ausgedehnte, glänzende Vortrag, den sie mit allen Kunstmitteln der Rhetorik reich ausstatteten. Sie wandten sich nicht an den Verstand und das wissenschaftliche Denken, suchten nicht zu belehren und zu überzeugen, sondern waren darauf aus, Gemüt und Gefühl ihrer Zuhörer gefangenzunehmen. Und dieses Ziel haben sie in hohem Maße erreicht, namentlich auf die vornehme Jugend Athens haben sie durch die prunkenden Mittel ihrer Darstellung eine bezaubernde Wirkung ausgeübt.

Zu diesen Mitteln gehörte namentlich auch die Behandlung von Dichterstellen und die Form des Mythus. Mit beiden wandten sie sich an das poetische Empfinden, mit dem zweiten zugleich an das religiöse. In seinem Dialoge Protagoras zeigt Plato, daß beide Male wissenschaftlich nichts erreicht wird. Die Erklärung von Dichterstellen unterliegt dem Gefühle und subjektivem Ermessen; schließlich versteht sie ein jeder so, wie er sie verstehen will. Der Mythus andererseits ist doch nur eine Erzählung, keine Beweisführung. So ansprechend die Erzählung von Prometheus und Epimetheus ist, bewiesen wird damit gar nichts, ja, sieht man näher zu, so ergibt sich aus ihr das Gegenteil von dem, was bewiesen werden sollte; denn wenn auf Befehl des Zeus Rechtsgefühl und sittliche Scheu an alle Menschen ausgeteilt werden, so sind alle Menschen von vornherein tugendhaft, und können es nicht erst durch Belehrung werden, da sie es schon sind. Ebensowenig hat die darauf folgende verstandesmäßige Erörterung wissenschaftlichen Wert, denn sie kommt einfach darauf hinaus: So machen es die Athener, daraus folgt, daß sie die Tugend für lehrbar halten, also ist die Tugend lehrbar. Ob das Tun der Athener und die dabei zugrunde liegende Anschauung richtig ist, danach wird nicht gefragt. Für die meisten Athener besaß natürlich ein solches Verfahren, bei dem ihre eigene Anschauung zur Grundlage des Beweises wurde, sehr viel überzeugende Kraft. Auch diese Weise, die sich an die Anschauung des zu Belehrenden selbst anschloß und sie von vornherein als richtig anerkannte, trug viel zu den großen Erfolgen der Sophisten bei.

Wenn es keine allgemeingültige Wahrheit und darum keine Wissenschaft gibt, so gibt es auch keine Ethik. Da nach der Sophistik alles subjektiv und dem Belieben des einzelnen anheimgegeben ist, so kann sie auch keine an sich wahren und für alle verbindlichen Sittengesetze anerkennen. Das bleibt bestehen, obwohl die Sophisten sich für Lehrer der Tugend ausgaben. Es ist dabei festzuhalten, daß das griechische Wort areté Tugend und Tüchtigkeit bedeutet. In diesem zweiten Sinne nahmen es die Sophisten. Hiermit stimmt die Erklärung des Protagoras, er lehre seine Schüler, wie man am besten sein Hauswesen verwalte und die Fähigkeit sich aneigene, im politischen Leben zu handeln und zu reden, d. h. im Staate eine einflußreiche Stellung einzunehmen. Nicht ein jeder zieht gleich die letzten Folgerungen seines Prinzips und betätigt sie im praktischen Leben. Auf diese Tatsache weist Plato in seinem Dialoge Gorgias hin. Gorgias, einer der vier berühmtesten Sophisten, hervorragend durch seine Redekunst und seinen außerordentlichen Einfluß auf die Entwicklung der griechischen Rhetorik, erklärt hier die Redekunst für die bedeutendste aller Künste, denn sie schaffe Freiheit und Macht. Wird schon durch Aufstellung dieses Zieles die Redekunst in eine in sittlicher Beziehung gefährliche Richtung gebracht, so wird diese Gefahr noch durch die Lehre erhöht, sie habe nicht zu überzeugen, sondern zu überreden, nicht eine Kenntnis der Dinge zu vermitteln, um die es sich handelt, sondern nur Meinungen und Ansichten hervorzurufen, und brauche von der Sache selbst nichts zu verstehen. So ist die griechische und namentlich die attische Rhetorik ein echtes Kind der Sophistik, ist es auch immer geblieben und hat bei ihrer überaus großen Bedeutung für das öffentliche und private Leben in den griechischen Staaten unendlichen Schaden angerichtet. Die große Gefahr, die mit einer Beredsamkeit, wie er sie selbst wollte, verbunden ist, erkennt Gorgias an unserer Stelle an, er sieht, daß von ihr ein schlimmer und unheilvoller Gebrauch gemacht wird, aber er möchte das nicht und hält für seine Person an den sittlichen Begriffen Gerecht und Ungerecht, Schön und Häßlich, Gut und Böse fest. Sein Schüler Polos geht auf der schiefen Ebene einen Schritt weiter, die Frage nach der Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit erklärt er für gleichgültig und überflüssig, aber etwas sittliches Gefühl ist doch noch in ihm: unrecht tun hält er für häßlicher als unrecht leiden. Erst Kallikles macht vollsten Ernst mit dem sophistischen Prinzipe und hebt ungescheut alle sittlichen Begriffe auf. Nach seiner Anschauung ist es Naturgesetz, daß der Starke über den Schwachen herrscht und von ihm Vorteil hat, denn der Stärkere ist auch der Bessere. Torheit ist es von den Starken, wenn sie sich durch die Redereien der Schwachen von Mäßigung und Gerechtigkeit beirren lassen und von ihrer Macht nicht vollen Gebrauch machen. Diese Tugenden sind ja nur etwas Gemachtes, das die Schwachen erdichtet haben und aufrechtzuerhalten suchen, um daran einen Schutz gegen die Starken zu haben. Das Naturgemäße ist es, daß der Mensch die Triebe und Begierden, die in ihm angelegt sind, so viel als möglich steigert und nach den Mitteln trachtet, sie zu befriedigen, mit einem Worte unserer Zeit, daß er sich auslebt. Die Mäßigung preist die große Mehrzahl nur deswegen, weil ihnen die Mittel zu dieser Befriedigung fehlen. Schwelgerei, Zügellosigkeit und Ungebundenheit, wenn die ausreichenden Mittel vorhanden sind, das ist Tugend und Glückseligkeit, alle schönen Reden und der Natur zuwiderlaufenden Vereinbarungen sind nichtsnutziges Geschwätz. Zu den in dem Starken herrschenden Trieben gehört vor allem der Trieb nach Macht, und es ist sein natürliches Recht, diesem Triebe ohne jede Rücksicht auf die Schwachen volle Genüge zu leisten.

Wer so denkt, glaubt natürlich auch an keinen Gott. Protagoras wurde der Gottlosigkeit angeklagt, und seine Schriften wurden wegen ihres gottlosen Inhaltes von Staats wegen auf dem Markte von Athen verbrannt. Auf jeden Fall war sein Prinzip, daß der einzelne Mensch das Maß der Dinge sei, gottlos, denn es führt mit Notwendigkeit zum Atheismus. Gibt es keine Wahrheit, dann gibt es auch keine Vernunft im Menschen, denn eine der Wahrheit bare Vernunft ist ein Widerspruch, eine contradictio in adjecto. Gibt es aber im Menschen keine Vernunft, keinen Geist, dann ist auch die Welt vernunft- und geistlos, dann gibt es auch keinen Gott. Wer also die Wahrheit im menschlichen Geiste leugnet, vernichtet die Möglichkeit der Wissenschaft, hebt die sittliche Natur des Menschen auf und leugnet das Dasein des Geistes, des menschlichen sowohl als des göttlichen. »Verachte nur Vernunft und Wissenschaft, des Menschen allerhöchste Kraft«, ruft Mephistopheles dem unerfahrenen Schüler nach, dem er den Glauben an die Wissenschaft geraubt hat. Er spricht die Worte mit Hohn und mit satanischer Befriedigung; denn wer Vernunft und Wissenschaft verachtet, der ist dem Mephistopheles verfallen, verfallen dem Geiste, der stets verneint. Diese Verneinung aber ist das Verderben der einzelnen und der Staaten.

Die Sophistik hat seit ihrem ersten Auftreten immer fortbestanden, hat aber in unserer Zeit neue Kraft bekommen und hat wiederum das Verderbliche ihres Wesens in erschreckender Weise gezeigt. Der Mann, der sie ihrem Inhalte und zum guten Teile auch ihrer Form nach hat wiederaufleben lassen, ist Friedrich Nietzsche. Freilich sind verschiedene Anschauungen durch den Kopf des unglücklichen Mannes gegangen, glauben doch manche, daß durch sein Unvermögen, das Widersprechende zu einen, sein Gehirn zertrieben worden sei, aber seine wesentlichsten Anschauungen stimmen mit der alten Sophistik überein. So stammt, wie wir schon oben sahen, seine Theorie von den Herrenmenschen und den Sklavenmenschen, von dem natürlichen Rechte des Starken und von dem Sittengesetze als einer Erfindung der Schwachen aus dem Platonischen Dialoge Gorgias.

Dem Athen und ganz Griechenland von der Sophistik drohenden Verderben trat Sokrates entgegen.


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