Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

VII.

Am nächsten Mittag in Reddish's Hotel, Byron war kaum den Federn entschlüpft, klopfte es an seine Tür, und herein trat Herr Charles Dallas.

»Guten Tag, Mylord!« rief er und eilte auf Byron zu. »Wie freue ich mich, Sie wieder zu sehen. Soeben erfahre ich zu meinem Erstaunen, daß Sie wieder in England sind. Und wie gut Sie aussehen, ganz vorzüglich.«

»Und wie geht es Ihnen?« fragte Byron.

Herr Dallas ließ sich trübselig in einen Stuhl fallen.

»Nicht gut, Eure Lordschaft, nicht gut. Sie wissen ja, in diesem England gelingt es immer nur einigen Wenigen, die Gunst des Lesepublikums zu erringen. Wer am lautesten brüllt, der hat sie. Mir liegt das leider gar nicht.« Er rieb verzweifelt die Hände.

»Was machen meine »Englischen Barden und schottischen Rezensenten«?« erkundigte Byron sich belustigt. Er war heut in einer selten guten Laune. Bis tief in die Nacht hatte er mit den Freunden beim Becher gesessen und mit stillem Frohgefühl den Odem der Heimat empfunden.

»Die Satire« – Herr Dallas breitete resigniert die Arme aus – »war leider durchaus nicht das Geschäft, das ich erwartet hatte. Durchaus nicht. Die erste Auflage, die, wie Eure Lordschaft wissen, anonym erschien, war freilich im Nu vergriffen. Jeder wußte, daß Eure Lordschaft der Verfasser war. Die zweite ging auch noch ganz schön. Aber dann haperte es. Wenn man große Reklame gemacht hätte, hätte man das Buch vielleicht lanzieren können. Aber mir fehlten leider die Mittel. Das Buch brachte ja nichts. Wo sollte ich das Geld hernehmen? Aber darum, Mylord, lassen Sie den Mut nicht sinken. Das nächste Mal wird's besser gehen. Sie sind jetzt bekannt, das Publikum erwartet etwas von Ihnen. Ich bin überzeugt, Sie haben einen Schlager von der Reise heimgebracht.«

Byron schritt stolz zum Schreibtisch und ließ einige Bogen eines Manuskripts wie eine Flagge der Verheißung wehen.

»Ja, ich habe etwas mitgebracht. »Winke nach Horaz«, heißt es. Ich wurde dazu angeregt durch die ars poetica des Horaz. Es ist wieder eine Satire im Popestil, gewissermaßen die Fortsetzung der »Englischen Barden«.«

Erfolgssicher legte er das Konvolut in die Hände des Gastes. Der freilich teilte die Begeisterung seines Wirtes nicht ganz. Sein schmales Gesicht ward noch schmäler vor bitterer Enttäuschung.

»Das bringen Sie von dieser Reise heim!« stammelte er. »Verzeihen Sie, wenn ich etwas konsterniert bin. Aber, Mylord, Sie werden mein Erstaunen darüber begreifen, daß man in den fernen Osten reisen muß, um sich von Horaz anregen zu lassen. Ich hatte erwartet, Sie würden irgendeine sensationelle Ausbeute des Orients mitbringen. Irgend etwas ganz Unerhörtes. Etwas, das den Hauch der fremden Welt atmet. Und nun bringen Sie mir diese »Winke nach Horaz«!« Er schnippte verächtlich mit dem Mittelfinger gegen die Blätter.

»»Winke nach Horaz«, wie das schon klingt! Viel zu gelehrt, da beißt doch kein Hund an. Und dann wieder eine Satire! Mein Gott, wir haben doch wahrhaftig genug Satiren gehabt. Das Publikum will endlich mal was Neues haben. Irgend etwas Originelles, das noch kein anderer vor Ihnen geschrieben hat. Ach, und ich hatte solche Hoffnungen auf Ihre Rückkehr gesetzt!«

Er sank zerschmettert in sich zusammen.

Byrons Blicke hingen an seinen Schuhen. Er sah, daß die Sohlen zerrissen waren. Und plötzlich tat ihm der Mann leid.

»Ja,« sagte er betreten, »ich glaubte nun gerade, daß eine neue Satire –«

»Sie glaubten,« fuhr Dallas schmerzlich dazwischen, »und ich muß es ausbaden. Was tue ich nun bloß! Ich bin in der allergrößten Verlegenheit. Mit dem Zeugs da ist doch nichts zu machen.«

Er blätterte grimmig in den »Winken«. Byron stand unschlüssig vor ihm.

»Lesen Sie doch erst,« bat er.

»Ich lese ja, ich lese ja fortwährend,« klagte Dallas. »Nun ja, Verse, ganz brave Verse. Ja, aber das ist doch kein Geschäft. Haben Sie wirklich nichts anderes mitgebracht?«

»Ich hätte schon noch etwas,« gestand Byron schüchtern. »Aber das taugt sicher nichts. Meinem Freunde Hobhouse hat es auch nicht gefallen. Es sind ein Bündel Spencer-Stanzen.«

»Was behandeln sie?« fragte Dallas hoffnungslos.

»Ein junger Edelmann verläßt nach einer wilddurchstürmten Jugend seine Heimat. Er hat mit seiner Jugend gewüstet, in Spiel und in Leidenschaft, und verläßt jetzt voller Ekel England und wandert hinaus in die Welt. Er durchstreift Portugal und Spanien und sieht dort das Volk im gewaltigen Ringen aufstehen gegen Napoleons Herrschaft. Dann zieht er weiter nach dem Orient. Kurz, ich habe meine ganze Reise mit allen ihren bunten Erlebnissen darin geschildert.«

Dallas starrte den jungen Dichter an.

»Mensch!« schrie er, »Mylord, das sagen Sie erst jetzt! Aber mein Gott, das ist doch gerade so was, wie ich's meine. Das ist doch was Neues. So was interessiert doch heutzutage. Ein Wüstling, das ist doch was für die Weiber. Und die Schilderung von fernen Gegenden, in die selten ein Engländer kommt! Und diese aktuellen Kämpfe auf der iberischen Halbinsel! Mensch, geben Sie es doch her, geben Sie es doch endlich her!«

Lächelnd entnahm Byron das Manuskript der Tischlade.

»Es sind nur zwei Gesänge,« entschuldigte er.

»Aber das Ganze ist als ein großes Epos angelegt. Ich habe es nur nicht vollendet, weil ich es nicht der Mühe wert hielt.«

Dallas war aufgesprungen und entriß dem jungen Freunde das umfangreiche Manuskript.

»Childe Buren's Pilgerfahrt«, las er auf dem ersten Blatt.'

»Childe?« fragte er, »was soll das bedeuten? Kind Buren?«

Byron schüttelte den Kopf. »Childe« bedeutet hier nicht »Kind«, sondern ist ein altenglischer Ausdruck für »Ritter.«

»Ach so,« rief Dallas befriedigt. »Sehr hübsch. So etwas ist gut, das mutet gleich romantisch an. »Buren« das heißt wohl Byron?«

Der Dichter nickte. »So nannten sich meine Vorfahren, die mit Wilhelm dem Eroberer nach England kamen. Ich habe den Namen gewählt, weil das Gedicht nur von mir handelt.«

Dallas hatte inzwischen beutelüstern in den Bogen geblättert.

»Darf ich Ihnen vorlesen?« bat Byron, nahm ihm das Manuskript aus den Händen und las:

»Es lebt ein Knab' in Albions Inselland,
Dem nicht der Pfad der Ehrbarkeit behagte,
Der seinen Tag verlor mit wüstem Tand,
Der Nächte müdes Ohr mit Jubel plagte.

Er war ein Wicht, der aller Scham entsagte,
Ein Freund gemeiner Lust und Schwärmerei,
Der nicht nach andern Erdendingen fragte,
Als lockrer Frauen üpp'ge Kumpanei

Und flotter Brüderschaft, wie niedrig sie auch sei.«

Er hielt inne.

»Sie müssen es allein lesen, es ist zu lang. Hören Sie nur noch Ritter Burens Abschiedslied von der Heimat:

»Ade, ade, die Woge hüllt
Der Heimat Strand mir ein.
Der Nachtwind seufzt, die Brandung brüllt,
Die wilden Möwen schrein.

Der flieh'nden Sonne folgen wir,
Sie sinkt, eh wir's gedacht
Ein Lebewohl noch ihr und dir,
O Heimat! – Gute Nacht.

Nur kurze Zeit und wieder her
Kommt sie im Morgenlicht,
Und ich begrüße Luft und Meer,
Doch Mutter Erde nicht.

Mein Schloß ist öd', an seiner Wand
Rankt wildes Grün empor;
Verlöscht ist meines Herzens Brand,
Mein Hund heult vor dem Tor.

Nun bin ich in der Welt allein
Auf weiter, weiter See.
Was seufz' ich viel um fremde Pein,
Wer seufzt um all mein Weh?

Mein Hund vielleicht wehklagt nach mir
Bis fremde Hand ihn speist,
Wer weiß, ob nicht das treue Tier
Beim Wiedersehn mich beißt.

Mit dir, mein Schifflein, will ich ziehn
Durch schäumend Flutgebraus;
Was kümmert's mich, wohin wir fliehn,
Ziehn wir nur nicht nach Haus!

Sei mir gegrüßt, du blaue See!
Und wenn die Fahrt vollbracht,
Willkommen, Wüst' und Alpenschnee,
O Heimat! – Gute Nacht.«

Herr Dallas stand sprachlos.

»Aber,« stammelte er endlich, »aber das ist ja famos. Das ist ja im höchsten Grade originell. Das muß ich sofort lesen.«

Er riß das Manuskript wieder an sich und klemmte es fest unter den Arm.

»Auf Wiedersehen, Mylord!« Er hastete zur Tür. »Erwarten Sie mich heute Abend. Erwarten Sie mich ganz bestimmt. Mir scheint, wir werden zu sprechen haben.«

Schon war er im Korridor. Byron sprang ihm nach.

»Herr Dallas!« rief er, »wollen Sie nicht auch die »Winke« mitnehmen? Ich bin überzeugt, wenn Sie sie erst lesen werden, werden Sie anders darüber urteilen.«

Herr Dallas aber war schon an der Treppe: »Behalten Sie Ihre »Winke«, die lese ich ein andermal.«

Sein Kopf verschwand hinter der Treppenbrüstung. Als er nach wenigen Stunden zurückkehrte, traf er den Dichter nicht zu Hause. Doch der Portier teilte ihm mit, daß Seine Lordschaft ihn gebeten habe, zu warten. Mit erregten kleinen Schritten lief Herr Dallas in dem Zimmer auf und nieder, blieb von Zeit zu Zeit am Fenster stehen und blickte kopfschüttelnd hinab in das Getriebe von St. James' Street. Das Manuskript hielt er fest an die Brust gepreßt, das hätte er nicht mehr hergegeben um 100 Pfund Sterling. I, nicht um 200 Pfund. Endlich öffnete sich die Tür und Byron trat herein.

Der Gast stürzte ihm entgegen, steckte schnell das Manuskript in die Rocktasche, und schüttelte ihm enthusiastisch beide Hände.

»Mylord,« ächzte er vor Erregung, »Mylord, das ist ja ein Meisterwerk. So was ist in England noch nicht geschrieben worden. Das ist ja der Ausdruck eines ganz neuen Gefühls, das in der englischen Literatur noch niemals Worte gefunden hat. Das ist interessant, das ist romantisch. Das ist nicht nur eine Erzählung, das ist ein Manifest. Das pfeift auf alle Konvention, das reißt Masken herunter. Das ist einfach unerhört. Diese Blasiertheit in dem Ding. Die trifft die Stimmung der Zeit. Wir leben im Zeitalter der Blasierten. Und dieser Weltschmerz, der in jedem Worte heult! Das ist das Gefühl unseres Zeitalters, das ist das erlösende Wort der Zeit. Und Ihre Pose darin. Das ist das Beste daran. Jeder Mensch wird wissen, das sind Sie, das sind Sie. Denken Sie mal an, was das für die Frauen ist. Wie sie das Buch verschlingen werden. Jede Leserin wird sofort wissen, dieser ruchlose, blasierte, weltschmerzlich angehauchte junge Mann, das ist Byron, das ist ein Lord von England. Das ist ja gar nicht auszudenken, was für'n Aufsehen das Buch erregen wird.«

Byron lächelte wortlos und verlegen.

»Aber »Childe Buren« dürfen Sie es natürlich nicht nennen,« fuhr Dallas hastig fort. »Das ist ein Fehler. Die Kunst des Erfolges liegt im Verhüllen. Man darf dem Leser nicht alles unter die Nase reiben. Man weiß auch so schon, daß Sie es sind, und nur Sie. Aber man darf es nicht sagen. Der Leser freut sich immer, wenn er was erraten kann und fühlt sich dann Gott weiß wie klug. Nennen wir's« – er überlegte – »nehmen wir irgendeinen xbeliebigen englischen Namen, meinetwegen Harold. Klingt sogar sehr schön. Klingt ganz famos. »Childe Harolds Pilgerfahrt«. Der Titel allein ist unter Brüdern 100 Pfund wert.«

Byron lächelte wieder. Herr Dallas aber sprudelte weiter. »Natürlich muß man die Geschichte nun geschickt drehen. Die Reklame muß ganz raffiniert inszeniert werden. Aber das werde ich schon machen. Ehe das Buch erscheint, müssen Notizen in die Zeitungen lanziert werden. Das Publikum muß eines schönen Tages beim Morgentee lesen, daß der Dichter des demnächst erscheinenden Gedichtes soeben von seiner gefahrvollen Reise aus dem Innern Afrikas zurückgekehrt ist –«.

»Afrikas?«

»Ja, natürlich, Afrika. Klingt doch viel romantischer als Konstantinopel. Dann muß man die Aushängebogen einigen zuverlässigen Kritikern geben, ehe es erscheint, damit sie es womöglich vor dem Erscheinen schon besprechen und Neugier erregen. Dann müssen es auch vor dem Erscheinen einige Damen bekommen, denen man mitteilt, daß man ihrem literarischen Geschmack besonders vertraut und sie um ihren Rat fragt, ob man das Buch herausgeben soll oder nicht. Sie sollen mal sehen, Mylord, wie das die Eitelkeit der Weiber kitzelt. Sie werden den Mund natürlich nicht halten und werden allen guten Freunden mitteilen, daß man ihnen ein wunderbares Gedicht vor dem Erscheinen zur Prüfung übergeben habe, und die Neugier wird rasen. Besonders geeignet erscheinen mir die Lady Caroline Lamb und Lady Holland.«

»Wenn ich mich recht entsinne,« sagte Byron, »so haben Sie damals im Chapter-Café gerade auf diese beiden Damen weidlich geschimpft.«

»Kann sein, Mylord, kann sein, aber deshalb können sie doch als Werkzeuge des Erfolgs im höchsten Grade nützlich werden. Gerade die exzentrische Lady Caroline ist ausgezeichnet für einen Boom und Lady Holland unbezahlbar als Herrin des ersten Zirkels von London. Lassen Sie mich nur machen. Die Hauptsache ist dann natürlich auch der Verleger. Cawthorne, bei dem Ihre »Englischen Barden« erschienen sind, kommt gar nicht in Betracht. Der Mann tut ja nichts. Miller oder Murray muß gewonnen werden, nein, kein anderer als Murray darf das Buch haben. Er ist jung und unternehmend, er ist der Verleger der Zukunft und hat Geld. Er wird ins Portemonnaie greifen, um den Dichter der Zukunft zu bekommen.«

»Ja,« bedachte Byron, »wenn ich offen sein soll, gefällt mir diese Art Reklame nicht. Sie geht gegen mein Gefühl.«

»Papperlapapp,« machte Dallas. »Mit Gefühl erringt man keinen Erfolg. Im übrigen haben Sie doch mit der ganzen Geschichte nichts zu schaffen. Im Gegenteil, Sie müssen hoch oben auf Ihrem Piedestal stehen bleiben. Wir bringen eine kleine Notiz in die Zeitung, daß durch die Indiskretion eines Freundes des Dichters –« Dallas verneigte sich und sagte scherzhaft: »das bin ich – die Aushängebogen an die Kritiker und die Damen gelangt sind. Sie haben damit gar nichts zu tun.«

»Es gefällt mir nicht,« wehrte Byron.

Da legte Dallas die Maske ab und gestand: »Lieber guter einziger Lord, machen Sie doch bloß jetzt keine Geschichten. Nun haben Sie endlich mal ein Werk geschrieben, das auch klingenden Lohn verspricht, nun lassen Sie mich für die viele Mühe, die ich mit Ihnen gehabt habe, auch mal etwas verdienen. Ich bekenne Ihnen ganz aufrichtig, meine Familie hat es blutnötig.«

Da siegte Byrons Gutherzigkeit. »Nun, meinetwegen,« gab er nach, »aber wahren Sie den Anstand.«

Frohgemut sprang Herr Dallas die Treppe hinab, nahm eine Hackney-coach und fuhr nach Fleet Street zu dem Verleger John Murray. Der hörte gelassen Herrn Dallas Bericht, las sofort den ersten Gesang, überflog den zweiten und stellte einen Scheck aus über 500 Guineas. Guinea = ca. 21 Mark.

Kaum hatte Herr Dallas das Zimmer verlassen, da klopfte es abermals. Es war der rote Briefträger. Der Portier hatte ihn zu Seiner Lordschaft hinaufgeschickt, weil er nicht wußte, ob Byron den Brief mit dieser grob gekritzelten Aufschrift gegen Erlegung des hohen Portos annehmen wolle.

Byron betrachtete verwundert die Adresse.

»Nanu,« dachte er, »das ist doch Fletchers Handschrift. Wie kommt der dazu, mir zu schreiben?«

Er bezahlte die drei Schillinge Gebühr und öffnete das Schreiben, während der Briefträger die Treppe hinabstolperte.

Er las:

»Eurer Lordschaft zeige ich hiermit gehorsamst an, daß dero Mutter, die ehrenwerte Frau Byron, heute schwer erkrankt ist. Dies zeige ich Ihnen ehrerbietigst an. Morgen nachmittag werde ich mit dem Jagdwagen in Newport Pagnell warten, wenn Eure Lordschaft dort die Post verlassen wollen. Der Doktor meint, sie wird nicht mehr lange leben.

Eurer Lordschaft
gehorsamster
für immer treu ergebener Diener
William Fletcher.«

Byron las und glitt auf einen Stuhl nieder. Die Mutter war krank, sterbenskrank. Da stand es schwarz auf weiß. Er saß und lauschte in sich hinein. Lauschte, ob sich nicht irgendein Schmerz in ihm rege. Doch es blieb still in ihm, ganz still und steif. Er suchte seine Gedanken zum Schmerz zu zwingen. »Sie ist krank,« sprach er hartnäckig laut vor sich hin ... Sie liegt dort in Newstead Abbey und ringt mit dem Tode.«

Er suchte es sich vorzustellen. Doch er sah nur die öde Wand des Hotelzimmers. Schließlich erhob er sich seufzend und begann die Koffer zu packen. Er mußte nach Newstead eilen, ja, das mußte er, daran war kein Zweifel. Sogar sein Diener Fletcher hielt das für selbstverständlich. Nun ja, er wollte es ja auch. Das verlangte wohl seine Pflicht als Sohn, daß er ihr beistand in ihrem letzten Kampfe. Wie fremd ihm die Frau war, wie völlig gleichgültig es ihn ließ, daß sie jetzt in dem dämmrigen Zimmer der Abtei lag und mit dem Würger rang! Er warf seine Sachen, die er heute morgen so heimatsfroh ausgepackt hatte, mißmutig in den Koffer zurück. Es paßte ihm gar nicht, jetzt London zu verlassen. Er mußte jetzt hier sein, mit Murray verhandeln. Er mußte – ach es paßte ihm gar nicht! Nein, er hatte nicht nach Newstead zurückkehren wollen, vorläufig nicht. Er gestand es sich nicht ein, aber im Unbewußten lag ein Bangen vor den Qualen der Nähe von Annesley. Er fürchtete die Geister seiner Liebe. In Newstead würde wieder aller Gram und alle Not dieser bösen Leidenschaft auferstehen. Auferstehen? Er blickte starr vor sich hin. War diese Not denn gestorben auf seiner langen Reise? War sie denn je zur Ruhe gegangen? Er schüttelte den Kopf und glättete das kostbare albanesische Kostüm sorgfältig in den Koffer hinein. Nein, die nagende Sehnsucht war ihm nachgegangen auf allen Irrfahrten. Er hatte vergebens versucht, sie zu betäuben. In den Armen der schwarzen Josepha von Sevilla, bei dem Lächeln der lieblichen Florence Spencer, unter den Gluten der heißen Augen des Mädchens von Athen, in Konstantinopel, in Smyrna, immer war sein letztes Gedenken bei der bleichen Frau von Annesley gewesen. Und oft hatte er seine Sehnsucht in verzweifelten Versen hinausgeschrien.

Nein, er hatte Newstead meiden wollen, diese Hölle der Tantalusqualen, in der er nur aufs Pferd zu springen brauchte, sie in wenigen Minuten zu erreichen, in der sie ihm doch ferner war als im fernsten Orient. Nein, diese Folter wollte er nicht noch einmal durchleiden. Die Koffer waren gepackt. Still setzte er sich in einen Sessel und grübelte.

»Ich muß hin zu ihr. Das kann eine Mutter verlangen, daß ihr einziges Kind bei ihr ist in der Stunde des Todes.«

Und wieder suchte er sich hineinzuzwängen in eine Trauer. Doch es gelang ihm nicht. Schließlich griff er ergrimmt zum Hute und bummelte durch die alten Stätten, in denen er vor zwei Jahren seine beste Kraft vergeudet hatte. –

Als die Post in Newport Pagnell einfuhr, stand Fletcher neben dem Jagdwagen, einen mächtigen Trauerflor um den Hut gewunden. Da wußte Byron, daß er die Mutter nicht mehr lebend antreffen würde. Langsam entstieg er der Kutsche und trat zu dem Diener. Der machte krampfhafte Anstrengungen, sein glattes Lakaiengesicht in schmerzliche Falten zu zergliedern.

»Es ist vorbei, Eure Lordschaft,« sagte er mit tränenwattierter Stimme, »es ist alles vorbei.«

Byron nickte und stieg auf den Bock. Als sie eine Weile stumm die Landstraße hinabgefahren waren, fragte er: »Wie ist es gekommen, Fletcher?«

»Ganz plötzlich, Eure Lordschaft, keiner hätte was Schlimmes vermutet. Noch vorgestern war die ehrenwerte Mrs. Byron mobil wie immer. Da kam am Vormittag Mr. Fiddlestick aus Nottingham und wollte seine Rechnung bezahlt haben. Er sagte, er müsse Frau Byron sprechen, denn nun könne er wirklich nicht länger warten. Die Rechnung sei schon drei Jahre alt. Ich führte ihn zu Mrs. Byron ins Zimmer. Da haben sie nun eine ganze Weile miteinander gesprochen. Wir konnten es in der Dienerhalle hören, daß die Unterredung sehr erregt war. Und plötzlich kam Herr Fiddlestick ganz bleich zu uns herausgerannt und rief: »Ich glaube, die Alte stirbt. Sie hat einen schrecklichen Wutanfall gehabt.«

Wir liefen nun alle ins Zimmer, und da lag Mrs. Byron auf dem Sofa, und die eine Seite des Gesichtes war ganz blau. Ich sprach zu ihr, aber sie gab keine Antwort. Da bin ich schnell nach Nottingham geritten und habe den Doktor geholt. Der kam denn auch gleich und sagte, sie hätte einen Gehirnschlag und würde es wohl nicht mehr lange machen; ich sollte an Eure Lordschaft schreiben. Das habe ich denn auch getan.«

»War ihr Tod schwer?« fragte Byron nach einer Weile.

»Nein, Eure Lordschaft, sie ist gar nicht mehr zum Bewußtsein gekommen. Sie hat gestern den ganzen Tag ganz still gelegen, und heute früh, als wir nach ihr sahen, war sie schon ganz kalt.«

Byron sagte nichts weiter. Doch je mehr sie sich Newstead näherten, desto unbehaglicher wurde ihm. Dann stand er an der Leiche. Das Gesicht der Toten war grausig entstellt. Er setzte sich neben das Bett und betrachtete sie lange. Doch kein Gefühl blutete in ihm auf. Dann klopfte es. Nanny Smith trat herein und bat den jungen Herrn, nach der langen Reise doch etwas zu essen. Er dankte. Da faßte sich die gute Nanny ein Herz und sagte: »Eure Lordschaft sollten hier nicht so allein bei der Leiche sitzen. Das ist nicht gut.«

Byron nickte trüb. »Sie mögen recht haben, Frau Nanny. Kommen Sie, zünden Sie mir die Lichter in meinem Arbeitszimmer an.«

Sie folgte ihm in das Gemach. Als die Lichter brannten, fragte sie: »Wollen Eure Lordschaft wirklich nichts essen nach der langen Reise?«

Er schüttelte den Kopf. Aber eine fremde Angst vor dem Alleinsein überkam ihn.

»Nehmen Sie einen Stuhl, Frau Nanny,« gebot er, »und erzählen Sie mir etwas.«

Nanny glättete verwirrt ihren Rock über dem Schoße und hockte auf einer Ecke des Sessels nieder.

»Was soll ich Eurer Lordschaft erzählen?« fragte sie verlegen.

»Wie ist es hier gegangen in den zwei Jahren, die ich fort war?« versuchte er ein Gespräch einzuleiten.

»Nun,« sann sie, »wie soll es gegangen sein? Wie immer. Daß der alte Joe Murray gestorben ist, wissen Eure Lordschaft doch wohl?«

Byron bejahte.

»Meine Mutter hat es mir geschrieben.«

»Ja,« erzählte Nanny, »eines Abends, als er in seinem Lehnstuhl saß, ist er so eingeschlafen.«

Und plötzlich wurde sie ganz eifrig.

»Ich habe immer gesagt, er soll nicht diese unmoralischen Lieder singen. Aber er wollte es ja nicht lassen. Und an diesem Abend, da sang er wieder das Lied von der Kathrein, das er besonders liebte. Der »böse Lord« hat es auch immer gesungen. Und mitten drin schlief er ein, und dann ist er nicht mehr aufgewacht.«

Byron schwieg und blickte sinnend auf die grinsenden Totenschädel.

»Was wurde aus dem hübschen Mädchen, ich glaube Lucy hieß sie, nicht wahr?«

Frau Nannys Züge wurden glatt vor Sittsamkeit.

»Die ist verheiratet. Schon bald zwei Jahre jetzt. Ein Gastwirt in Nottingham hat sie genommen. Eine gute Partie für sie. Sie hat sich freilich eingebildet, man wagt es kaum zu sagen, aber sie hat es sich doch nun mal eingeredet, Eure Lordschaft würden sie heiraten.«

Byron starrte verdutzt drein.

»Ich habe es ihr ja immer gesagt, daß sie eine Törin ist,« schob Nanny alle Schuld von sich.

Byron schwieg, und Mrs. Nanny Smith überlegte, mit welchen Neuigkeiten sie den jungen Herrn weiter unterhalten könne. Sie wußte die Ehre durchaus zu würdigen, mit ihrem jungen Gebieter Konversation zu machen. Endlich fand sie etwas.

»Von dem Skandal in Annesley haben Eure Lordschaft wohl schon gehört?«

Byron richtete sich in dem Sessel auf.

»Welchem Skandal?« fragte er und fühlte eine eisige Kälte im Gesicht.

»Er hat sie doch verprügelt,« berichtete Nanny wichtig.

»Wer?« fragte Byron und wußte es genau.

»Nu, der Herr Musters. Schlecht behandelt hat er sie ja immer schon« – Nanny schlug beide Hände schämig vor das Gesicht – »betrogen hat er sie vom ersten Tag der Ehe an. Kein Mädchen in Nottingham war vor ihm sicher. Wenn er in die Stadt geritten kam, sperrten alle Mütter ihre Töchter in die Zimmer ein. Solch eine Angst hatten sie vor ihm. Aber nu hat er sie geschlagen.«

»Woher wissen Sie das?« fragte Byron. Der Hals schmerzte ihn.

»Nu, Fletcher hat seinen Kollegen von Annesley in Nottingham getroffen. Der hat es ihm gesagt. Es soll eine schreckliche Szene gewesen sein. Man hat draußen die Schläge gehört, und Mrs. Chaworth hat geschrien und dann ist sie herausgestürzt aus dem Zimmer und hat das Kind angezogen und ist mit der Wärterin davongefahren.«

»Wann war das?« fragte Byron und stand auf.

»Hm, das können immerhin so an die zwei Monate her sein.«

»Wohin ist sie gefahren?« Die Äderchen in seinen Augen waren blutig angeschwellt.

»Das weiß kein Mensch,« bedauerte Nanny und sah angstvoll in das entstellte Gesicht ihres Herrn. »Manche meinen, sie ist mit der Post nach London gefahren. Andere sagen, nach dem Norden, und andere sagen wieder was anderes. Keiner weiß was Bestimmtes.«

Byron war zum Fenster getreten und wandte der Frau den Rücken. Endlich vermochte er hervorzustoßen: »Ich danke Ihnen, Frau Nanny, Sie können gehen.«

Eilig knitterte sie von ihrem Stuhl empor und huschte hinaus. Er war doch sehr unheimlich, dieser Nachfolger des »bösen Lords«. Denn wenn er sie auch einmal vor Jahren geliebt hatte. Du mein Gott, das war doch so lange schon her!

Früh am nächsten Morgen galoppierte Byron über die Felder. Mitten im Hof von Annesley sprang er aus dem Sattel, ließ das Pferd stehen und drang unangemeldet in das Haus. Herrn Musters traf er in dem altertümlichen Gemach, dem Hort der angefochtenen sagenhaften Stiefel.

»Nanu!« rief der, als der junge Lord ins Zimmer stürmte, »nanu, Herr Nachbar, Sie?«

»Wo ist Mrs. Chaworth?« keuchte Byron und umklammerte den Stiel der Reitpeitsche.

Herr Musters erhob sich gelassen aus dem Stuhle, betrachtete ruhevoll den Eindringling vom Kopf bis zu den Füßen und sagte mit breiter Sicherheit:

»Ich wüßte nicht, was Sie das angeht.«

Da trat Byron dicht an ihn heran, die Reitpeitsche zitterte in seiner Hand, und fauchte: »Wenn Sie es mir nicht sagen, dann –« Die Hand erhob sich drohend.

Herr Musters verschränkte die Arme über der breiten Brust und lachte kurz und behäbig: »Hab' also doch recht gehabt, Hab' immer gedacht, daß Sie beide was mitsammen haben. Hat ja Ihre werten Reimereien gar nicht mehr aus den Fingern gelassen. Und daß ich sie eines Tages an der Mauer von Newstead ertappte, wie sie dastand und sich die Augen aus dem Kopf starrte nach dem Schloß hin, das war auch kein purer Zufall.«

Byrons Hand sank herab.

»An der Mauer von Newstead haben Sie sie getroffen?!«

»Jawohl, Herr Nachbar. Brauchen sich aber nichts daraufhin einzubilden, denn Sie waren damals schon über alle Berge. Also, seien Sie gemütlich. Was wollen Sie eigentlich?«

»Ich möchte wissen, wo sie ist,« gestand er leise, niedergebeugt von der Kunde ihrer Pilgerfahrt nach Newstead.

»Möchte ich selber wissen, mein lieber Nachbar. Ist weggelaufen, die hysterische Person, weiß der Teufel, wohin. Von mir aus soll sie bleiben, wo sie ist, das Weibsstück das!«

Da trat Byron wieder dicht an ihn heran und zischte: »Sie haben sie geschlagen, Sie – Sie!«

»Das geht Sie doch wohl nichts an,« murrte Musters. »Lassen Sie das Gefuchtel mit dem Dings da, ja? Na, wird's bald? Herr, lassen Sie –«

Er versetzte Byron einen Stoß gegen die Brust, daß er taumelte. Ehe er wieder aufkam, war der schneidige John Musters durch eine Tapetentür entwichen. Der Schlüssel drehte sich knarrend im Schloß. Mit den Byrons war nicht gut anbinden, dieses Haus wußte von ihrer Berserkerwut.

Eine Weile blickte Byron begriffsstutzig auf die kleine Tür, die ihm den Feind entrissen hatte. Dann schlug er wutbesessen mit dem Griff der Peitsche gegen die Wand, daß es dumpf das Haus durchdröhnte, doch im Nebenzimmer blieb es still. Da ging er langsam, gebrochen hinaus in den Hof, fing sein Pferd ein und ritt zurück nach Newstead. Mit der Wut, die in ihm tobte, vermischte sich der alte Haß gegen die Welt, gegen Gott und alles Sein. Als am Nachmittag seine Mutter in der Familiengruft der kleinen Dorfkirche von Hucknall Torkard beigesetzt wurde, konnte er sich nicht bezwingen, der Urheberin seines unseligen Lebens das letzte Geleit zu geben. Als der Leichenzug sich im Park von Newstead ordnete, verbarg er sich in seinem Arbeitszimmer. Und als die Glocken vom Dorfe Hucknall Torkard herüberklangen, lief er hinaus in die Halle und befahl Fletcher, die Fausthandschuhe zu bringen. Lange boxte er mit dem kampfgeübten Diener. Doch es schien diesem, als schlage er grimmiger zu als sonst. Plötzlich schleuderte er die Handschuhe in eine Ecke, stürmte die Treppe hinan in sein Zimmer und schloß sich dort ein bis zum nächsten Morgen. –

Und über Byron kam eine neue Zeit der Verzweiflung. Er sehnte sich nach dem Tode und verfaßte sein Testament. In Erinnerung an den Schwur, den er einstmals am Grabe des Neufundländers Boatswain getan hatte, verfügte er:

 

»Ich wünsche, daß mein Leib in der Gruft im Garten zu Newstead ohne irgendwelche Zeremonien und Gottesdienst begraben und daß keine weitere Inschrift als mein Name und mein Alter auf mein Grab gesetzt werde. Es ist mein Wille, daß mein treuer Hund Boatswain nicht aus obengenannter Gruft entfernt werde.«

 

Dann trieb ihn die Liebe wieder in die Irre. Er stellte Nachforschungen an nach Marys Verbleib. Doch er fand keine Spur. Da umkrallte sein Hirn der Wahn, sie sei gestorben. Und er begann, sie wie eine Tote zu betrauern. Sie war hinüber, sie war dem Leid dieser Welt entflohen, sie hatte den großen Frieden gefunden. Da wurde es stiller in ihm. Er ging in dem herbstlichen Park umher und sang ihr unsterbliche Sterbelieder. Dem verewigten Geist, der sie ihm geworden, gab er den mystischen Namen Thyrza. So ging er umher und wiegte seinen Schmerz über ihren Verlust in trauervollen Elegien.

Doch dann kamen wieder Tage ohnmächtigen Aufbegehrens, an denen die Tote aus dem Grabe auferstand, an denen die Gewißheit, daß sie ihn liebe und daß sie an die Parkmauer von Newstead gekommen war und hinübergeblickt hatte nach dem Schlosse, in dem er einst gewohnt, ihn dem Wahnsinn der Verzweiflung in die Arme warf. Sie liebte ihn, sie hatte Hilfe und Zuflucht bei ihm, ihrem schicksalgegebenen Retter gesucht! Sie war ins Elend hinausgelaufen ohne Beistand, ohne Schutz, sie lebte in irgendeinem armseligen Schlupfwinkel und harrte auf ihn und seine Liebe. Sie harrte – harrte! –

Und wieder wurde die Einsamkeit ihm unerträglich. Da erflehte er den Besuch der Schwester. Sie kam. Er lebte auf unter dem feuchten Glanz ihrer blauen Augen und unter der Reinheit ihrer Stirn. Eine seltsame Zartheit lag über ihrem Beisammensein. Sie waren so nahe verwandt und kannten sich kaum.

Augusta war bei den Verwandten ihrer Mutter, der Marquise Carmathen, aufgewachsen und in einem französischen Kloster erzogen worden. Doch mancher Brief hatte zwischen Bruder und Schwester eine Brücke geschlagen. Jetzt saß sie in dem spukhaft weiten Speisesaal an seinem Tische und breitete die sänftigende Kraft ihrer ausgeglichenen Weiblichkeit über die Unrast seines Lebens. Sie saß da in ihrer saftvollen Schönheit und plauderte heiter und mild von ihrem Glücke daheim, von der Liebe ihres Mannes, von ihren Kindern, von dem Leben in der kleinen Garnisonstadt Six Mile Bottom. Und schon am ersten Tage war es Byron, als bringe sie ihm etwas wie eine Heimat.

»Du mußt lange bei mir bleiben,« bat er, »lange, lange,« und nahm ihre Hand.

»Ich kann doch nicht,« trauerte sie. »Ich möchte es ja so gern. Ich möchte dir so gern helfen, dein Leben glücklicher und wertvoller zu gestalten. Aber mein Haus wartet. Und dann, du weißt, daß ich ein Kind von zwei Monaten habe, das mich braucht.«

»Ja,« sagte er bitter, »die, die ich liebe, braucht immer ein anderer. Ich verliere meine Verwandten und du vermehrst die deinen.« Und düster fügte er hinzu: »Was besser ist, weiß Gott allein.«

»Sprich nicht so,« bat sie.

»Du hast recht,« nickte er vor sich hin, »alle Bemerkungen hierüber sind nutzlos. Wir wollen den Toten ihre Ruhe zu gönnen und zu dem öden Geschäft des Lebens zurückkehren, das mir freilich weder für die Zukunft noch bei der Rückschau irgend etwas Angenehmes bietet.«

»Du müßtest heiraten,« riet sie. »Eine schöne, großzügige Frau müßtest du haben.«

»Ja,« lächelte er mokant, »das muß ganz angenehm sein, verheiratet zu sein und auf dem Lande zu leben. Man hat eine schöne Frau und küßt ihre Kammerzofe.«

»Pfui,« schalt Augusta ernst und sah ihn mißbilligend an aus ihren leuchtenden blauen Sternen. Da sagte er besänftigend: »Das ist ja nur ein Scherz. Ich werde niemals heiraten. Ich bin für die Ehe nicht geschaffen. Ich glaube auch fest daran, daß das Unglück in der Ehe in unserer Familie erblich ist.«

»Das ist Unsinn,« wies sie mild zurück. »Sieh doch mich an.«

Ein froher Glanz lag auf der schönen Mütterlichkeit ihrer 27 Jahre.

»Unseres Vaters Ehe war unglücklich, das ist richtig. Sowohl die mit deiner Mutter, wie die mit der meinen. Doch das lag an seinem Charakter. Er war ein Wüstling.«

»Ich bin sein Sohn,« posierte Byron.

Da lachte sie herzhaft, sprang empor und fuhr ihm mit den Händen durch das braune Gelock.

»Du machst dich viel interessanter, als du bist, mein lieber George. Laß nur die rechte Frau kommen, und du sollst sehen, welch braver Ehemann du noch wirst.«

Da gestand er ihr seine Liebe zu Mary Chaworth. Sie hörte still und verstehend zu. Und dann sprach sie nicht mehr davon, daß er heiraten solle.

Es waren schöne, friedliche Tage, die sie in Newstead blieb. Sie gingen durch den Park, sie ruderten auf dem Teich und sprachen über Gott und Welt und Leben und Tod. Und sie sprachen über sein Dichten.

»Wie ist das?« fragte sie immer wieder. »Ich möchte alles wissen, was in dir vorgeht. Ich bin so stolz auf dich und möchte, daß du den Namen Byron wieder zu Ehren bringst. Es ist viel an ihm durch seine letzten Träger gesündigt worden. Einmal habe ich geträumt, du wärest nach Shakespeare der größte englische Dichter geworden. Aber ein großer Dichter muß ein großer Mensch sein. Und deshalb möchte ich so gern, du würdest ein ganzer Mann.«

Er zog die Brauen zusammen.

»Man kann ein großer Dichter sein,« murrte er, »und ein jämmerlicher, zerfahrener Wicht. Es gibt Beispiele genug. Die dichterische Begabung eines Mannes ist eine ganz bestimmte absonderliche Fähigkeit, eine eigene Seele und hat mit der Alltäglichkeit des Weichen ebensowenig zu tun, wie die Begeisterung der pyrischen Seherin mit ihrem eigenen Selbst, nachdem sie den Dreifuß verlassen hat.«

Doch Augusta schüttelte den Kopf.

»Das ist eine billige Entschuldigung,« wehrte sie. »Du mußt an dir arbeiten, mußt dich herausringen aus dieser Blasiertheit und diesem Schmerz, der nicht echt ist. Ein Mensch, der seinem Volke als Dichter etwas geben will, muß ein stahlharter Recke und kein weinerlicher Weichling sein. Und dann muß er, glaube ich, sehr viel wissen. Seine sittliche Tüchtigkeit und sein Wissen müssen der Urgrund seiner Dichtung sein.«

»Ach Wissen!« höhnte er, »man sagt, Wissen ist Macht. Nun ja. Und ich dachte ebenso. Jetzt aber weiß ich, daß Geld Macht ist. Wenn Sokrates erklärte, er wisse, daß er nichts wisse, so wollte er damit nur sagen, daß ihm keine Drachme in der Athenischen Welt gehörte. Ich weiß, daß jede Guinea ein Stein der Weisen ist.«

Sie blickte ihn lange an und sagte traurig: »Manchmal sprichst du nicht wie ein Dichter.«

Doch wenn er von seiner Reise erzählte, dann war sie mit ihm zufrieden. Er sprach von dem neuen Griechenland und seiner Bedrückung und von dem alten Griechenland und seinen Helden und Dichtern. Sophokles war sein Liebling.

»Der Mann ist mir verwandt!« rief er. »Er ist ein Pessimist wie ich. Sein Glaubenssatz ist wie der meine: Nicht geboren zu sein, ist das Beste. Da glauben die Leute, im Ödipus habe er den Frevel und seine Bestrafung schildern wollen. Das meinen die guten Schulmeister. Aber ich bin davon überzeugt, er hat zeigen wollen, wie die Götter die Menschen ins Leben hineinführen und dort im Elend verlassen.«

Und wenn sie abends am Feuer des Kamins saßen, dann erzählte er manch romantisches Liebesabenteuer.

»Während meines Aufenthalts in Athen war ich sehr verliebt in ein türkisches Mädchen. So verliebt, wie ich in wenige Weiber gewesen bin. Alles ging sehr gut bis zum Ramazan, einem Fest, das 40 Tage dauert, während dessen jegliche Annäherung der Geschlechter verboten ist. Während dieser Fastenzeit dürfen die Frauen ihre Gemächer nicht verlassen. Wir hatten uns mehrere Tage nicht gesehen, und all mein Sinnen ging dahin, eine Zusammenkunft zu veranstalten.

Aber das Unglück wollte, daß gerade die Mittel, die ich dazu ergriff, zur Entdeckung unseres Geheimnisses führten. Die Strafe war der Tod – Tod ohne Erbarmen – ein furchtbarer Tod, an den man nicht ohne Schaudern denken kann.«

Er schwieg und blickte auf die knisternden Holzscheite, dann fuhr er fort:

»Während der ganzen Zeit wußte ich von allem, was vorgefallen war, nichts. Ein bloßer Zufall gab mir die Möglichkeit, der Vollziehung des Urteils zu begegnen.«

Er schwieg wieder.

»Weiter,« bat Augusta, »erzähle weiter.«

»Ich machte wie gewöhnlich einen Spazierritt am Meeresufer, als ich einen Haufen Volk, aus dem die Waffen der Soldaten hervorglänzten, sich hinab an den Strand bewegen sah. Sie waren nicht so entfernt, daß ich nicht dann und wann ein unterdrücktes Schreien hören konnte. Meine Neugier ward heftig erregt, und ich sandte einen meiner Diener hin, um nach der Ursache der Prozession zu forschen. Male dir meinen Schreck aus, als ich hörte, daß sie ein unglückliches Mädchen, in einen Sack genäht, hinschleppten, um es in die See zu werfen. Eine Ahnung sagte mir sofort, wer das Mädchen war. Ich wußte, daß ich mich auf meine treuen Diener verlassen konnte, ritt an den Offizier heran, der den Trupp befehligte, und befahl ihm kurzerhand, seine Gefangene herauszugeben. Der Mann hatte keine Freude an dem Geschäft oder vielleicht an den entschlossenen Blicken meiner Leibgarde und willigte ein, mich in die Stadt zurückzubegleiten samt dem Mädchen. Kurz und gut, ich habe sie gerettet. Ich hatte mit der ersten obrigkeitlichen Person eine Unterredung, die ich durch einen schweren Geldbeutel unterstützte. Sie wurde freigegeben unter der Bedingung, daß sie sogleich Athen verlasse und zu Freunden nach Theben gehe. Dort ist sie wenige Tage nach ihrer Ankunft gestorben. Vielleicht an den Folgen ihrer Angst, vielleicht auch an ihrer Liebe.«

Er schwieg ergriffen.

In Augustas Augen glänzten Tränen. Endlich sagte sie mit belegter Stimme: »Daraus müßtest du ein Gedicht machen.«

Er nickte. »Ich habe schon daran gedacht. Es ist ein guter Stoff.«

Da sprang sie empor. Ihr ruhiges, klares Gesicht veränderte sich, ihre stillen Augen flammten leidenschaftlich auf, sie ballte die Hände zu Fäusten und sprühte hervor: »O, wenn ich dir helfen könnte! Ich habe solche Sehnsucht danach, etwas zu leisten, irgend etwas zu tun, etwas anderes, als in dem kleinen Kreis meiner Familie zu beglücken. Ich möchte – ich möchte –« sie rang die Hände – »irgendeine große Tat einmal vollbringen, irgendein großes Opfer für einen großen Zweck bringen, das möchte ich.«

In Erregung bebend stand sie vor dem Kamin. Das Feuer warf blutrote Schatten über ihre bacchantisch wilden Züge. Da erhob sich Byron lächelnd, nahm ihre beiden Hände und sagte: »Du bist doch nicht so aus der Art geschlagen, wie ich dachte. Auch in dir rumort das Abenteurerblut unseres Vaters.« –$


 << zurück weiter >>