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IV.

Erst jetzt wurde sie das Unheil seines Lebens. Bisher hatte sie als der helle Morgenstern von Annesley hoch über jeder Hoffnung des Erringens gestanden. Durch die Beichte ihres Leides und ihrer Liebe war sie hinabgeglitten aus ihrer weltenfernen Höhe zu erdennahen Möglichkeiten. Nichts trennte ihn mehr von ihr als die Schranke, die sie selbst ihm baute. Er lief des Nachts in den öden Galerien seines Hauses einher und sprach laut vor sich hin, lange Reden, durch die er ihren Starrsinn zu überwältigen suchte. In hitzigen Darlegungen überzeugte er sie immer wieder, daß sie das Recht habe, ihr Glück zu schmieden und die Bande zu sprengen, die Jugendtorheit geknüpft habe, und daß sie gegen die Pflichten ihres Menschentums frevle, wenn sie die reichen Anlagen ihres Gemütes und ihres Geistes an der Seite dieses Mannes verkümmern lasse. O, er hatte Beweisgründe, die sie überzeugen mußten!

Wenn dann der Morgen emporstieg, warf er sich aufs Pferd und preschte hinüber zu der Parkmauer von Annesley und umkreiste sie wie ein Späher und konnte doch seine überzeugenden Gründe nicht zu ihr hineintragen, weil er nicht wußte, ob er nicht auf Herrn Musters treffen würde.

Doch eines Tages, nach einer langen durchgrübelten Nacht, in der ihm so unfehlbar durchschlagende Argumente gekommen waren, daß keine Frauenlogik und keine verstiegenen Anschauungen von Pflicht ihnen gegenüber standhalten konnten, erblickte er Herrn John weit draußen auf den Feldern. Er erkannte ihn sofort an der »schneidigen Manier«, in der er trotz seiner Beleibtheit noch immer zu Pferde saß. Ach, er kannte diese Manier, die er zuerst von dem Gipfel jenes Hügels aus gesehen hatte! Da stahl er sich wie ein Dieb in den Park hinein. Als er den breiten Weg hinabgaloppierte, gewahrte er durch das Blättergewirr der Bäume hindurch die Geliebte. Sie stand auf einem Altan des oberen Geschosses und blickte – so schien ihm – hinüber nach Westen, dorthin, wo in der Ferne die Türme von Newstead standen. Da brauste ein tolles Glücksgefühl in dem jungen Menschen auf. Dort stand sie, und ihre Sehnsucht schaute aus nach ihm, nach ihm! Er kam, o, er kam! In wilder Karriere sprengte er unter das Torhaus.

Doch bald kehrte der Diener, der ihn gemeldet hatte, mit dem Bescheid zurück, die Herrin fühle sich nicht wohl und könne zu ihrem Bedauern Besuch nicht empfangen.

Da war es ihm, als bohre sich die Luftröhre hinab ein eiserner Stab, der durch die Brust tief in den Leib hineindrang und ihn zwang, sich ganz steif und starr zu halten, der schmerzend in die Eingeweide hineinstieß, als er wieder in den Sattel stieg; der ihn zwang, kerzengerade wie eine Säule auf dem Tiere zu sitzen, das eigenmächtig dem Ausgang zustrebte. Im Schritt ritt er heim. –

In Einsamkeit und Groll vergrub er sich. Doch die Qual und die Empörung, die ihn durchtobte, bedrohte seinen Verstand. Da raffte er sich mit der letzten Kraft des Selbsterhaltungstriebes auf und schrieb an die Freunde von Cambridge. Joe Murray wurde in geheimer Mission nach London gesandt. – Die Freunde kamen: Charles Skinner Mathews, die Hoffnung der Freigeister, Frances Hodgson, der junge Theologe, Scrope Berdmore Davies, der Idealist, John Camb Hobhouse, der Realist. Und die alten grämlichen Hallen blickten erstaunt auf ein absonderliches Treiben des Sturmes und Dranges.

Vormittags störte kein Laut die Kirchhofsstille der toten Abtei, denn die Dienerschaft folgte dem Beispiel der jungen Herren und machte die Nacht zum Tage. Als erster erschien nachmittags um zwei Uhr der »Frühaufsteher« Mathews zum Frühstück. Doch lange währte es, bis die anderen den Federn entstiegen. Dann wurde geboxt, gefochten, mit der Pistole nach der Scheibe geschossen oder im Parksee geschwommen. Wenn die Sonne sank, wurden die Pferde gesattelt, die durch einige Klepper aus Nottingham ergänzt worden waren. Unter Führung des Balladensammlers Davies ging es hinein in die märchenumblühte Landschaft. Jede Sage von Robin Hood, jede Kunde von den lustigen Tagen des fröhlichen Sherwood Forstes kannte der junge Schwärmer und ward nicht müde, ihr unter den Genossen neuen Odem einzuhauchen.

Und nach dem Abendessen saßen sie in der alten Halle beisammen und sprachen und stritten und debattierten, bis der Morgen bleich durch die Spitzbogenfenster hereinkroch.

Eines Nachmittags im November ereignete sich ein Unglück. Keiner wußte recht, wie es geschehen war. Man schoß in der Halle nach der Scheibe. Und plötzlich packte den schönen großen Neufundländer der Teufel. Ganz ruhig hatte er zur Seite der Halle gelegen und die Pfoten geleckt. Da, als Hodgson just die Pistole abdrückte, sprang er empor, mitten in die Flugbahn des Geschosses hinein. Mit einem kläglichen Geheul fiel er vornüber. Die Kugel hatte ihm die Gedärme zerfetzt. Byron mußte ihm den Gnadenschuß ins Herz geben. Sein bleiches Gesicht verriet den großen Schmerz.

Den Nachmittag über und auch beim Abendessen blieb er der bedrückten Schar der Freunde fern. Doch abends, als sie in beklommenem Flüstern in der Halle beisammen saßen, schritt er die Steinstufen vom Obergeschoß hinab. Eine seltsame Tracht umschloß seine Glieder. In lang herabwallender schwarzer Seidenkutte trat er unter sie. Seine Züge waren fahl, doch in den Augen brannte eine wilde, zynische Ironie.

Gravitätisch schritt er bis in die Mitte der Halle und sprach mit tönender Stimme zu dem erstaunten Kreise: »Brüder! Aus Anlaß des Todes meines besten Freundes bin ich gewillt, den Mönchsorden, der einst in diesen Mauern gehaust hat, zu erneuern.«

Die Freunde blickten einander verdutzt und neugierig an. Denn sie waren jung und bereit zu jedem Unfug.

»Ich gründe hiermit,« sprach Byron weiter, »den heiligen Orden vom Schädel. Ich ernenne mich, als den Herrn dieser Stätte, zum Abt unseres Ordens, und euch, ihr Freunde, zu seinen dienenden Brüdern.«

Er winkte und herein trat Joe Murray. Er war heute morgen aus London zurückgekehrt. Sein Zopf stand würdevoller als je in die Weite. Aber seinem Arm hingen etliche Kutten, die er noch am Nachmittag aus einer Maskengarderobe in Nottingham hatte herbeischaffen müssen.

»Joe Murray,« gebot Byron feierlich, »ich ernenne dich zum Vogt des heiligen Ordens vom Schädel und gebiete dir, die Brüder in die Tracht ihrer Würde zu kleiden.«

Ohne eine Miene zu verziehen, waltete Joe seines Amtes. Jedem der jungen Herren legte er die seidene schwarze Kutte um die erstaunt gewährenden Schultern. Endlich begriffen sie.

»Eine Lästerung,« flüsterte Hodgson, der Theologe, und schlüpfte gefügig in die weiten Ärmel. Denn er war trotz seiner ernsten Frömmigkeit kein Spielverderber.

»Die Wandlung der Materie,« lachte Mathews, der Freigeist. »Alles fließt, und ich zerfließe in die Demut des dienenden Bruders.«

»Eine freche Maskerade,« grinste Hobhouse und schnitt sein scheinheiligstes Gesicht.

Der kleine feine Davies raffte mit graziösen Fingern das faltige Gewand um seine schlanken Glieder. Ihm war es lockende Romantik. Lachend sahen sie einander an.

»Du bist der Abt,« meinte Hobhouse, »aber was sind wir? Ich verlange auch eine Charge.«

»Nein,« wehrte Byron, »ihr seid Mönche, weiter nichts. Und in seinen feierlichen Ton zurückfallend, sprach er weiter:

»Ich habe unseren Orden den »heiligen Orden vom Schädel« genannt mit tiefer Begründung. Wir wollen jetzt bei einem Trunk edelsten Champagners unser Gelübde ablegen.«

»Ach ja,« rief Mathews.

Ernsthaft gebot Byron: »Klostervogt, reiche mir den Weihetrunk!«

Und wieder schritt Joe würdevoll einher, den Becher in der Hand.

Ein Tumult erhob sich unter den dienenden Brüdern. Denn der Becher war ein Totenkopf, dessen Schädeldecke entfernt und dessen Stirnrand in Silber gefaßt war.

»Ruhe!« befahl der Abt, »Ruhe, ihr Brüder. Dieser Becher ist der Schädel eines weiland Priors dieser Abtei, den mein Gärtner im Klostergarten ausgegraben hat. Er sei das Symbol unseres heiligen Ordens.«

»Das Symbol des Fortlebens nach dem Tode,« lachte Mathews und tat einen langen Zug.

»Es ist Totenentweihung,« raunte Hodgson und nippte.

Davies blickte lange in die Hirnschale hinein und sagte: »Es ist, als ob man die Seele des Toten tränke.«

Dann schlürfte er mit geschlossenen Augen und offenem Empfinden.

Hobhouse, der Praktikus, prüfte die Bearbeitung des Schädels und erwog, ob sich die Idee wohl durch ein Privileg schützen ließe.

Als der Becher die Runde gemacht hatte, nahm Byron wieder das Wort.

»Nun hört, ihr Brüder, meinen Weihespruch auf das Symbol unseres Ordens. Im Namen des Schädels spreche ich:

»O, schaudre nicht! Noch lebt mein Geist,
Ich Schädel bin ein Unikum.
Nicht ist, was in mir schäumend kreist,
Wie bei Lebend'gen schal und dumm.

Ich lebte, liebte, trank wie du,
Ich starb; – die Erde gab mich her,
Schenk ein, mir tut's nicht weh. Nur zu!
Des Wurmes Nagen schmerzte mehr.

Wo einst vielleicht mein Geist geglänzt,
Laßt fremdem Geist mich dienstbar sein;
Und wenn das Hirn mir fehlt, ergänzt
Die Lücke jetzt durch edlen Wein.

Trink, weil du kannst, es mag geschehen,
Daß einst ein künftiges Geschlecht
Auch dich vom Grabe läßt erstehen
Und mit dem Toten liebt und zecht.

Warum nicht? – Köpfe stiften meist
Im Leben arges Unheil an!
Ein Kopf, den man dem Grab entreißt,
Hat Aussicht, daß er nützen kann.«

Ein schallendes Bravo der dienenden Brüder belohnte den sprechenden Schädel. Würdevoll Ruhe gebietend hob der Abt beide Hände über seine Gemeinde.

»Stille, o Brüder, stille. Noch ist unser Kreis nicht geschlossen. Wir wollen uns bemühen, in allem unseren würdigen Vorbildern zu ähneln. Einem glücklichen Zufall verdanken wir die genaue Kenntnis ihres frommen Gebarens. In dem Parksee ist vor einiger Zeit ein Adler aus Bronze gefunden worden, dessen Krallen in eine Bronzehülle griffen. In dieser Hülle fanden sich uralte Urkunden. Darunter ist ein sehr lustiges Stück, in dem unseren Vorgängern, den Herren Mönchen, im voraus Absolution erteilt wird für alle fleischlichen Sünden. Und in biederer Gründlichkeit werden diese fleischlichen Gelüste alle genannt. Unsere Vorgänger sollen sich unserer nicht schämen! Vogt des heiligen Ordens vom Schädel, walte deines Amtes.«

Weihevoll wallte Herr Murray zur Tür und öffnete sie weit. Und herein schwirrte ein stutzender Schwarm geschmückter Dirnen. Joe Murray hatte seine geheime Mission in London mit Kennerblick vollstreckt. Scheu folgte die kleine Lucy. Da erhob sich unter den dienenden Brüdern ein ganz unfeierliches Gejubel. Mit Stentorstimme gebot der Abt Ruhe und befahl den vier Damen, sich ihren Bruder, zu wählen. Verwirrt und staunend vollzogen sie die Wahl.

Lucy setzte sich neben ihren Herrn und Abgott und machte große verwunderte runde Augen. Dann harrte alles neugierumsummt, bis Byron sprach: »Vogt des heiligen Ordens vom Schädel, laß den Becher kreisen, auf daß wir unsere Schwestern dem Bunde weihen.«

Es war kein leichtes Werk, der Mädchen Grauen vor diesem Trinkgefäß zu bannen.

Dann kündete der Abt mit bewegter Stimme: »Nun wollen wir einen lieben Freund zu Grabe tragen. Vogt des heiligen Ordens vom Schädel, walte deines Amtes.«

Murray stelzte hinaus und kehrte mit einer Pechfackel für jeden Bruder und jede Schwester zurück. Sie wurden entzündet und in ernster Prozession schritt man hinaus in den winterlich feuchten Garten. Dort war ein schwarzes Loch gegraben. Beim Schein der Fackeln trugen sie Boatswain, den Neufundländer, zu Grabe. And als er in der Tiefe ruhte, sprach Byron mit tränenverschleierter Stimme: »Ihr Brüder und Schwestern, wir begraben hier einen, der Schönheit besah ohne Eitelkeit, Kraft ohne Übermut, Mut ohne Dreistigkeit und alle Tugenden des Menschen ohne seine Fehler. Dieses Lob, das lügnerische Schmeichelei bedeutete, wenn es menschlicher Asche gälte, ist nur ein gerechter Tribut dem Andenken Boatswains, des Hundes, der geboren wurde zu Neufundland im Mai 1803 und gestorben ist zu Newstead am 18. November 1808.«

Der Brand der Fackeln flatterte im kalten Nachtwind und warf ein schauriges Licht über die grotesk vermummten Gestalten. Keiner rührte sich; selbst die lockeren Mädchen waren im Tiefsten ergriffen. Manche Träne rann über manche buntbemalte Wange.

»Ich werde dir ein kostbares Denkmal setzen,« sprach Byron weiter, »du mein lieber, lieber Freund. Und das schwöre ich dir in diesem dunklen Augenblick, daß ich einst an deiner Seite begraben werden will. Ich gelobe dir hier, in meinem Testament diese Bestimmung zu treffen. Du lieber, lieber Freund, lebe wohl – auf Wiedersehen.«

Jetzt schaufelte Murray die Erde in das Grab. Stumm standen sie dabei in der kalten Winternacht. Dann warfen sie die brennenden Fackeln auf den gewölbten Hügel, daß ihre Feuer sich vereinigten zu einer hellaufgarbenden Trauerflamme. Langsam, mit gebeugten Häuptern, zogen sie durch das Dunkel zurück in die Halle. In bedrücktem Schweigen saßen sie um den fichtenen Tisch.

Da brach Byron die Trauer. »Das Leben geht weiter, ihr Freunde. Vogt, fülle wieder den Pokal! Und nun wollen wir ein Lied singen, das ich gedichtet habe, zu dem unser Bruder Davies die Melodie ersonnen hat. Bruder Davies, greif zur Laute und spiele die Melodie.«

Davies spielte den Rhythmus und Joe verteilte die Blätter, auf die das Lied geschrieben war. Und sie sangen, die dunkeltönenden Männerkehlen und die hellklingenden Stimmen der Dirnen, das Trinklied:

»Füllt wieder den Becher, solch freudiges Glüh'n
Nie fühlt ich zuvor mir den Busen durchsprühn.
Wir trinken! Wer trinkt nicht? Auf Erden, ihr Zecher.
Ist alles nur Täuschung und wahr nur der Becher.

Ich habe gekostet von jeglichem Gut,
Gesonnt mich in funkelnder Äugelein Glut.
Ich liebte! –Wer liebt nicht? Und was ist der Schluß?
Die Leidenschaft bleibt, und es flieht der Genuß.

Hoch lebe die Traube, wenn Sommer entweicht,
Macht alternder Nektar das Alter uns leicht.
Wir sterben! – Wer stirbt nicht? Man wird uns verzeihn,
Und müßig soll Hebe im Himmel nicht sein.

Füllt wieder den Becher, solch freudiges Glüh'n
Nie fühlt ich zuvor mir den Busen durchglühn.
Wir trinken! Wer trinkt nicht? Im Leben, ihr Zecher,
Ist alles nur Täuschung und wahr nur der Becher.«

Wilde Begeisterung lohte auf. Dann sank eine Ernüchterung auf die Runde nieder. Die Wärme der Halle nach der Kälte der Novembernacht lullte ihre Sinne ein. Sie schwiegen und die Brüder lehnten sich still an die Wärme der jungen Frauen.

Endlich fragte Byron in das brütende Schweigen hinein: »Ob Boatswains Seele nun wohl im Himmel ist? Verdient hat sie's.«

»Aber,« tadelte Hodgson sanft, »wie kann ein Christ so sprechen!«

Da beugte sich Byron mit der Lebhaftigkeit, die ihn zuweilen im Gespräch überkam, weit vor und sagte: »Ich will mit dir über die Geheimnisse deines Berufes nicht streiten. Nur eines möchte ich feststellen: Ihr glaubt, daß nur euer Glaube selig macht, und daß nur wahre Christen ins Himmelreich eingehen. Warum, mein lieber Hodgson, sind dann nicht alle Menschen Christen, und warum gibt es überhaupt Christen? Ihr sagt doch, Christus kam in die Welt, die Menschheit zu erlösen. Dann müssen doch auch solche Menschen erlöst werden, die in Timbuktu, Otahieti, Terra Incognita und so weiter von Galiläa und seinem Propheten nie etwas gehört haben. Werden sie aber erlöst, so ist das Christentum nutzlos. Können sie aber ohne das Christentum nicht erlöst werden, warum ist dann nicht die ganze Menschheit rechtgläubig?«

»Das ist –,« wollte Hodgson einwenden.

Doch eifrig fuhr Mathews dazwischen: »Kinder, streitet doch nicht über Dinge, die vergangen sind. Wer spricht heute noch von Kirchendogmen? Die neue Zeit pocht an die Tore der Tempel. Mit dem Deutschen Hutten wollen wir rufen: »Es ist eine Lust, heute zu leben.« Wir stehen alle mit einem Fuß in unserer Vergangenheit des kirchlichen Dogmas. Mit dem anderen aber auf dem Boden des naturwissenschaftlichen Zeitalters, dessen Sonne den Horizont schon rötet. Laplace, Cuvier, Lamarck, Goethe und unser Erasmus Darwin haben den Wald gerodet. Wir Jungen haben das Feld zu düngen und urbar zu machen. Wir haben die Saat zu bestellen mit dem Samen, der stäubt aus Buffons » Histoire naturelle«, seiner » Epoques de la nature«, Darwins »Tempel der Natur«. Warten wir ab, welche Offenbarungen William Herschel noch weiter seinem Riesenteleskop in Bath entlocken wird. Ich sage euch, wir werden Aufschlüsse über die andere Welt dort oben erhalten, so weisheit-stürzend und so fesseln-sprengend, wie die Auffindung des ersten Mammutskeletts.«

Und sein scharfgeschnittenes Gesicht leuchtete vor Begeisterung, als er rief: »Schon heute ahnen wir, daß die Natur eine große Einheit ist, daß alles fließt und sich auseinander entwickelt. Schon heute haben wir das Empfinden, daß auch der Mensch nur das Schlußglied einer langen, von Stufe zu Stufe fortschreitenden Reihe bildet. Ich glaube, ihr Freunde, die Zeit ist nicht so fern, da auf dem Boden unserer neuen Naturerkenntnis eine neue, wunderbare Religion der Einheit alles Seins erblühen wird, eine Religion der großen Brüderschaft alles Lebenden, der Menschen, der Tiere, der Pflanzen, der gesamten organischen und anorganischen Welt. Denkt euch, welch stolzes Bewußtsein das sein wird, Bruder dem fernsten Sternenkörper zu sein!«

Alle schwiegen ehrfürchtig, denn Mathews galt unter ihnen und seinen Lehrern in Cambridge als einer der genialsten Köpfe der Zeit.

Nach einer Weile lächelte Hodgson sanft: »Wenn alles in Entwicklung rollt, dann wollen wir hoffen, daß auch das Dogma unserer Kirche sich zeitgemäß fortentwickeln wird.«

Mathews Worte hatten gezündet. Sie fühlten sich plötzlich alle als Jünger einer neuen großen Zeit. Und da fiel der Name Napoleon.

Davies führte für ihn die Klinge.

»Er ist der Held dieser neuen Zeit,« flammte er enthusiastisch auf. »Der Geist eines gewaltigen neuen Werdens.«

»Pfui!« rief Mathews, »kann ein Engländer so sprechen!«

»Da sprang Byron empor.

»Jeder denkende Mensch müßte so sprechen,« empörte er sich. »Er ist die Verkörperung der neuen gärenden Kräfte. Er schlägt die morschen alten Throne in Stücke, zu denen die Menschheit lange genug gebetet hat.«

»– Und errichtet dafür seine blutige Gewaltherrschaft,« fiel Mathews höhnend ein.

»Ja,« nickte Byron, »mit Recht, das ist das Gesetz dieser neuen Zeit, daß nur das Starke gilt. Nieder mit diesen vertrockneten Perücken, die nichts haben, als ihr dummes Recht.«

»Nun, nun,« dämmte Davies.

Da schob Byron nach seiner Art das Thema ins Allgemeine hinüber.

»Könige, wenn sie es nicht aus eigener Kraft sind, wie Bonaparte, haben sich überlebt. Ich bin für die Republik oder die offene Gewaltherrschaft eines einzigen. Aber ich hasse dieses gemischte Regiment, nach dem einer, zwei oder alle regieren. Ich stimme für die Republik. Schaut euch um in der Geschichte der Erde, was haben Rom, Griechenland, Venedig, Frankreich, Holland, Amerika und unsere, ach nur so kurze Republik vollbracht im Vergleich zu ihren Fortschritten unter Monarchen? Der erste Mann eines Staates zu sein, nicht der Diktator, nicht der Sulla, aber der Napoleon, der Washington oder der Aristides, der erste an Genie, Talent und Ehrenhaftigkeit, das kommt gleich nach der Gottheit! Franklin, Penn – und dann entweder Brutus oder Cassius, ja sogar Mirabeau oder St. Just –«. Er senkte die Stimme, als er fortfuhr: »Aus mir wird wohl nie etwas werden oder das Höchste, was ich hoffen kann, ist etwa, daß jemand von mir sagt: ›Er hätte vielleicht gekonnt, hätte er nur gewollt.‹«

Das kam so traurig, daß alle versonnen schwiegen.

Die Mädchen, die sich arg langweilten bei diesem politischen Gespräch, gähnten schläfrig in die Stille. Da erbarmte sich liebenswürdig der zarte Davies. Er griff zur Laute und sang das schöne Lied von Thomas Moore:

Die letzte Rose.

»Letzte Rose des Sommers, die einsam hier glüht,
Ach, deine Gefährten sind lang schon verblüht,
Sie welkten und starben im Spätsommerschein.
Du leuchtest und duftest, nur du noch allein.


Allein bist geblieben in Einsamkeit du,
Die Schwestern entschliefen, geh auch nun zur Ruh,
Dein Grab dann bestreu ich mit duftendem Laub,
Geh heim zu den Schwestern, geh heim in den Staub.

Einst will ich dir folgen, wenn Freundschaft vergeht,
Und wenn, wie der Windhauch, die Liebe verweht,
Wenn das Herz, das ich liebe, im Unglück zerschellt,
Dann scheide auch ich von verdunkelter Welt.«

Die Mädchen klatschten begeistert Beifall und summten die Melodie träumerisch nach.

»Das ist aus den herrlichen ›Irischen Melodien‹, die voriges Jahr erschienen sind,« belehrte Byron.

»Moore ist ohne Frage der größte Lyriker Englands,« behauptete Hobhouse.

»Ja,« sagte Byron kleinlaut, »ich habe ihn in meiner Satire freilich angegriffen, doch nur wegen der Gedichte, die er unter dem Pseudonym »Thomas Little« im Jahre 1801 herausgegeben hat. Diese ›Irischen Melodien‹ machen alles wett. Laßt uns trinken auf das Wohl Thomas Moores.«

Sofort fiel alles ein:

»Füllt wieder den Becher, solch freudiges Glüh'n,
Nie fühlt ich zuvor mir den Busen durchsprühn,
Wir trinken! Wer trinkt nicht? Im Leben, ihr Zecher,
Ist alles voll Täuschung und wahr nur der Becher.«

»Er ist Englands größter Freiheitsdichter,« lobte dann Hobhouse, »und der kühnste. Denn es gehört in unserer Zeit der Bedrückung ein ungeheurer Mut dazu, diese ›Irischen Melodien‹ herauszugeben.«

»Welcher Mut?« fragte da Betsy, die klügste der Damen, »gehört dazu, diese »Letzte Rose« zu dichten?«

»Das will ich dir sagen,« antwortete Byron. »Diese »Irischen Melodien« sind vom ersten bis zum letzten Gedicht eine Trauer und Klage über Irlands Los. Alles, was Moores unglückliches Vaterland in den Jahren der Knechtschaft gelitten hat, all sein Leid und seine Seufzer, alles dies trauert und schluchzt unter diesen verschleierten Versen. Und dann sind sie eine Verherrlichung von Robert Emmet.«

»Wer ist Robert Emmet?« fragte eine zweite, um dem Hausherrn ihre Teilnahme an dem Gespräch zu bekunden.

»Robert Emmet?« wiederholte Byron und seine Augen wurden warm und feucht, »ihr kennt Robert Emmet nicht?«

Die Mädchen schüttelten die braunen und blonden Köpfe, und Lucy flüsterte: »Nein«.

Da lächelte Byron wehmütig und sagte leise: »Nun, dann will ich euch die Geschichte von Robert Emmet erzählen. Es ist eine traurige, erhabene Geschichte. Und auch die Liebe spielt darin eine Rolle, so daß sie auch etwas für euch Frauen ist.«

Er lehnte sich in den Sessel zurück und begann:

»Ihr wißt, wo Irland liegt. Es ist niemals uns Engländern gelungen, die Iren zu verstehen. Sie sind uns ihrem ganzen Wesen nach zu fremd. Sie haben etwas Wildes und Zartes und eine blühende Phantasie. Die Männer haben ein feuriges und erregtes Temperament und ihre Frauen eine asiatische Schönheit und Lieblichkeit. Man hat zu beweisen versucht, daß sie von Juden abstammen. Sie selbst rühmen sich ihrer orientalischen Herkunft.«

Er schloß die Augen und sprach leise: »O, ich liebe den Orient, ich möchte dorthin gehen. Ich liebe dieses Gemisch von schlaffen Gewohnheiten und stürmischer Leidenschaft, das der Orient ist.«

»Er ist wie du,« lächelte Davies.

Byron nickte ins Leere und fuhr fort:

»Sie wollten die Unterdrückung Englands nicht mehr ertragen. Ihr schwärmerischer Sinn träumte von einer Losreißung. Da führten wir unter dem Vizekönig Lord Camden eine Blutherrschaft ein. Wir sind alle Engländer, die wir hier sitzen. Aber weil wir es sind, müssen wir es ehrlich sagen, mit Schamröte im Gesicht: wir haben eine Blutherrschaft dort eingeführt. Hunderte von Unschuldigen, die kein anderes Verbrechen begangen hatten, als daß sie Irländer waren, wurden gepeitscht, bis ihnen die Haut in Fetzen vom Leibe hing, wurden gezwungen, auf einem Bein auf einem spitzen Pfahl zu stehen, wurden der genialen Methode des »Halbhängens« unterworfen, das heißt, man nahm sie kurz nach dem Hängen wieder vom Galgen. Auch der Sprung aus der Pechkappe, bei dem die Kopfhaut hängen blieb, war sehr beliebt.

Da erhob sich im Jahre 1797 das Land in gewaltsamer Empörung. Sie wurde blutig unterdrückt, doch der Haß gegen uns loderte weiter. Auch sorgten unsere Blutschergen dafür, daß die Erbitterung nicht einschlummerte. Da trat Robert Emmet auf. Robert Emmet, der Zweiundzwanzigjährige. Er war Student der Chemie, genial in seiner Wissenschaft, genial aber auch als Führer des Volkes. Trotz der Tausende von Spionen, trotz der Krallenfaust Englands, unter der das Land stöhnte, gelang es ihm, den Geist der Revolution über ganz Irland zu verbreiten. Tausende und Abertausende horchten gläubig auf das Wort dieses zweiundzwanzigjährigen Feuergeistes. Sein Plan war, Irland um jeden Preis von uns loszureißen. Im Jahre 1802 war er in Paris bei Bonaparte, der damals noch erster Konsul war, und unterbreitete ihm den Plan, mit einer Flotte in Irland zu landen. Tayllerand befürwortete den Plan. Napoleon gab das feste Versprechen, mit einer französischen Armee im August des nächsten Jahres in Dublin zu landen. Alles war auf das beste vorbereitet, keiner der Tausende von Mitwissern verriet das Vorhaben. Da traf kurz vor der Erfüllung der irischen Sehnsucht, im Juli 1803, die Verschwörung ein schwerer Schlag. Im ganzen Lande hatte Emmet Waffen gesammelt und Pulvermagazine angelegt. Durch irgendeinen unbekannten Zufall flog ein solches Magazin in die Luft.

Da erkannte die englische Regierung die Gefahr. Alles war entdeckt. Emmet hätte mit den anderen Führern noch fliehen können. Doch da – nun gebt acht, Mädchen, da – erklärte er verlegen, er müsse noch einmal nach Dublin, von jemand Abschied nehmen. Es war seine Liebste, Sahra Curran, die Tochter des großen Advokaten, des begeisterten Verteidigers der irischen Angeklagten vom Jahre 1797. Er ging zu seiner Sahra und wurde ergriffen. Man stellte ihn vor Gericht. Emmet kannte sein Los. Als er vor das Tribunal geführt werden sollte, traf ihn der Gefängnisdiener beim Flechten einer Haarlocke. Miß Curran mag sie ihm wohl geschenkt haben.«

Byron schwieg. Alles lauschte mit gespannter Teilnahme.

Da fuhr er fort:

»Was tun Sie?« fragte der Wärter.

»Ich flechte eine Locke,« erwiderte Emmet, »um sie auf dem Schaffot bei mir zu haben.«

Der Prozeß gegen ihn wurde so geführt, daß es eine Rechtsbeugung war. So oft er sprechen wollte, fuhr der Vorsitzende tobend dazwischen. Da sagte Emmet lächelnd: »Ich habe sagen hören, Mylord, daß Richter es zuweilen für ihre Pflicht halten, mit Geduld anzuhören und mit Menschlichkeit zu sprechen.« Dann hielt er seine Verteidigungsrede, die noch viele Irländer heut auswendig können, und die in Irland gelesen werden wird, so lange in irländischen Busen ein irisches Herz schlägt. Um elf Uhr abends wurde das Urteil gefällt. Es lautete dahin, daß Robert Emmet in derselben Nacht noch erst gehängt, dann geköpft werden sollte. Er wurde in seine Zelle zurückgeführt und schrieb ruhig und gefaßt einen letzten Brief an seine geliebte Sahra. Als er zum Schaffot schritt und ein Priester ihm seine Dienste anbot, sagte er: »Ich danke Ihnen für die Mühe, die Sie sich geben. Aber sie ist unnütz. Meine Ansichten über diesen Punkt sind schon lange sehr bestimmt gewesen. Dies ist kein Augenblick, in dem ich sie ändern kann.«

Byron schwieg ergriffen.

Da fragte Betsy: »Und was ist aus Sahra geworden:

»Sahra,« lächelte Byron traurig, »starb kurze Zeit danach in Sizilien, fern von des Heldenjünglings Grab. Davies, du hast die »Irischen Melodien« im Kopf. Sag uns Moores schönes Gedicht auf Sahra Curran.«

Davies sprach, fast flüsternd:

»Sie ist fern von des Heldenjünglings Grab
Von schmachtenden Freiern umgeben;
Doch sie schweigt und weint und wendet sich ab,
Denn im Grab liegt ihr Herz und ihr Leben.

Sie singt aus der Heimat manch wilden Gesang,
Die Weisen, die hold ihm erklungen.
Ach, sie wissen es nicht, die da lauschten dem Klang,
Daß der Sängerin Seele zersprungen.

Er lebte der Liebsten, er starb für sein Land,
Sie waren ihm Sterne des Lebens.
Kein Auge im Land ohne Tränen stand,
Nicht harrt er der Liebsten vergebens.
Wo den Hügel zuletzt der Sonnenstrahl küßt,
Da sollt ihr zur Erde sie betten,
Daß ein Lächeln aus West ihr den Schlummer versüßt,
Wie ein Gruß aus heimischen Stätten.«

»Und nun noch,« bat Hodgson, »gib uns das Gedicht auf Robert Emmet: »O, haucht seinen Namen nicht.«

Und Davies sang die tränende Klage Irlands:

»O, haucht seinen Namen nicht, laßt ihn im Grab,
Wo man ehrlos gesenkt seine Liebe hinab,
Und die Träne sei stumm, die vom Auge sich stiehlt,
Wie der Tau, der zur Nachtzeit das Grab ihm kühlt.
Doch der Nachttau, der stumm hinfällt durch die Luft,
Soll mit leuchtendem Schimmer umhüllen die Gruft.
Und die Träne, die heimlich vom Auge sich senkt,
Verkünde, daß stets ihr des Toten gedenkt.«

Die Töne verhallten, sie saßen stumm. Da erhob sich Byron.

»Freunde, wir füllen noch einmal den Becher und trinken auf das Andenken Robert Emmets und seiner Liebsten. Und wir trinken auf unsere Zukunft und darauf, daß wir Männer werden wie Emmet. Wir wollen geloben, zu kämpfen gegen alles, was da zehrt am grünen Baum des Fortschritts. Nieder die Knechtung! Nieder die Kompromisse! Nieder jede Feigheit! Nieder jede Kleinheit! Auf zum Kampfe für die Größe des Gewissens! Größe des Wortes! Größe des Glaubens! Größe der Liebe! Freunde, wir trinken auf die Größe der Menschheit!«

Sie ließen den Totenschädel ringsum gehen und tranken auf die Größe der Menschheit.


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