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II.

Ein rot-goldener Herbsttag stand über Newstead Abbey. Durch die schmalen, efeuverschleierten gotischen Spitzbogenfenster drang gedämpft die sonnenwarme Helle in das kühle Schlafzimmer des jungen Lords. Er reckte sich, gähnte, sprang dann mit schnellem Entschlusse aus dem breiten Bette und huschte hinüber zu dem weit vorspringenden Erker. Suchend spähte er durch das rechte Fenster, hinein in die Ruine der alten Kapelle der Abtei. Dort atmete dämmrige Stille des Verfalls. Auf dem Fußboden der alten Sakristei, deren Dach vor Jahrhunderten schon unter der Last der Zeit niedergebrochen war, hatten mächtige Ulmen sich angesiedelt und bildeten jetzt inmitten der bleichen Ummauerung einen stillen grünen verwunschenen Hain.

»Es muß noch früh sein, die Krähen sind noch daheim«, dachte Byron und horchte durch das geöffnete Fenster auf das Schreien der Krähen, die diesen raunenden Ort zur Hausung erkoren hatten. Er stand und beobachtete, wie die schwarzen Vögel sich riefen und lockten, wie sie sich zögernd von den Zweigen erhoben, unruhig hin und her flatterten, langsam stiegen hinauf über die Wipfel der Bäume, sich kreischend und flügelschlagend zu einer Phalanx schlossen, einige Runden über dem grauen Gestein der Ruine zogen mit lautem Gekrächz und dann wie ein flimmernder Keil hineinstießen in die sonnengetränkte Klarheit des Himmels.

Byron eilte an das Mittelfenster und sah dem Schwärme nach, bis er silbern in den Horizont verglitt.

»Es ist gegen zehn,« dachte er, »meine Freunde sind ausgezogen.« Er stand und blickte verloren in die glitzernde Ferne. Die ahnungsvolle Traurigkeit, die ihn seit seinen Kindertagen verfolgte, hatte ihn jählings überfallen. »Diese schwarzen Vögel«, sann er bitter, »sind meine einzigen Freunde. Wenn sie morgens ausziehen zum Raubzug auf die Felder, bleibe ich einsam zurück, und wenn sie in der Dämmerung wiederkehren, gesättigt, müde, und behaglich schreiend zur Ruhe gehen, – dann bin ich noch einsamer.« Er sah mit feuchten Augen hinaus über die Bäume des Parkes und über die glatten grünen Rasenflächen mit ihren blinkenden Wasserläufen. Und fühlte sich einsam, unselig und verlassen.

Langsam löste er sich vom Fenster und ging zu dem majestätischen Bette hinüber, dessen vier Pfosten vergoldete Kronen zierten.

Er legte sich wieder nieder, denn er pflegte bis zum Mittag zu ruhen. Doch bald trieb eine Unrast ihn wieder empor. Er setzte sich auf den Bettrand. Das Gefühl des Unbehagens, mit dem er aus dem Schlaf emporgefahren war, lag ihm noch immer lastend auf der Brust. Etwas anderes peinigte ihn, etwas Bestimmteres, als diese unbegrenzte Melancholie, die ihn kaum je verließ. Wie die Ahnung von etwas Unheilvollem, Widrigem war es. Er saß auf dem Bettrande und wühlte sich immer tiefer in dieses schwimmende vage Mißbehagen hinein. Doch im Unterbewußtsein kannte er seinen Grund sehr wohl. Es war die Einladung zum Diner bei seinen Nachbarn, den Chaworth, die er gestern erhalten und in der ersten Überraschung angenommen hatte.

So saß er mit schmerzlich umdüstertem Gesicht lange Zeit und koste sein Unglück.

»Ich bin ein verlorener Mensch«, dachte er gramzerwühlt und sah sich mit schmerzweiten Augen um in dem uralten Gemache mit seinen wuchtigen dunklen Eichenmöbeln, »ich bin ein unseliger verlorener Mensch. Mein Vater war ein Taugenichts, der meine Mutter gleich nach der Hochzeit im Elend verlassen hat. Meine Mutter ist ein Wutteufel, die meine Kindheit vergiftet und mich so erzogen hat, daß es nicht ihr Verdienst ist, wenn ich nicht auch ein Taugenichts werde. Ich bin ein Krüppel« – er stieß den kranken Fuß so heftig gegen den eichengetäfelten Boden, daß es schmerzte – »dem alles mißlingt. In der Schule zu Harrow haben sie mich gehaßt, auf der Universität zu Cambridge waren sie froh, mich los zu werden, meine Liebe ist elend gescheitert und mein Dichten zerschellt.«

Doch hier sprang er empor. Es war der alte tägliche Kreislauf seiner Gedanken. Und, wie immer, fand hier sein gewollt wehes Grübeln ein Ende. Er ballte die Fäuste und lachte ingrimmig in sich hinein. Dann kleidete er sich hastig an, um an den Schreibtisch zu gelangen. In seinem Arbeitszimmer harrte die blutige Satire »Englische Barden und schottische Rezensenten« ihrer Vollendung.

Doch bald schwangen seine Gedanken sich wieder hinüber über die Grenzen seines Gutes zu den Nachbarn.

»Nein«, entschied er, während er sich das Gesicht trocknete, »ich gehe nicht.« Wer gab ihnen das Recht, ihn einzuladen? War das ein neuer Hohn, den die Geliebte von einst ihm antun wollte? Wollte sie sich ihm zeigen in ihrem Glück und Glanze! Nein, er ging nicht.

Er klingelte. Murray sollte sofort hinüberreiten und melden, er wäre krank. Basta. Er warf das Handtuch auf den Halter. Hm, aber sah das nicht aus, als fürchte er ein Wiedersehen, noch heute nach fünf Jahren? Würde dieser rotbäckige Fuchsjäger nicht über den feigen Nebenbuhler von dazumal zynisch schmunzeln? Würde er nicht höhnen: »Siehst du, Mary, er traut sich nicht zu uns, der Schulbub'.«

Es klopfte. Der alte John Murray trat ein, das Urbild des Dieners aus der guten alten Zeit in seiner bezopften Flachsperücke, dem langen, blauen Rocke, der Büffellederweste, den schwarzseidenen Kniehosen, den weißen Strümpfen und Schnallenschuhen und den devot starren Zügen.

»Guten Morgen, Eure Lordschaft.«

»Morgen, Joe, ich – hm –« Byron suchte nach einem Auftrage, denn er war jetzt entschlossen, nach Annesley zu gehen – »ich – Post ist wohl nicht gekommen?«

»Doch, Eure Lordschaft, ich habe sie in das Studierzimmer gelegt.«

Der Diener stand noch an der Tür.

»Es ist gut«, wiederholte der junge Herr.

Der Alte rührte sich nicht.

»Hast du noch etwas?« fragte Byron erstaunt.

»Da Eure Lordschaft schon außer Bett sind,« begann er zögernd, »kann ich es wohl sagen. Mr. Fiddlestik aus Nottingham ist unten.«

»Der Teufel soll ihn holen«, zischte Byron zwischen den Zähnen.

»Er sagt, er muß das Geld haben«, entschuldigte Joe Murray.

»Ich muß auch Geld haben«, ergrimmte der junge Lord. »Sag dem Hallunken, er soll gefälligst warten. Ich kann nicht hexen.«

»Er sagt, Eure Lordschaft, er müsse klagen, wenn er heute das Geld nicht bekäme.« Joe Murray berichtete kalt, unpersönlich, ohne Billigung oder Mißbilligung. Er war das Ideal eines Dieners.

»Was will er?« schrie Byron. »Klagen?«

»Ja. Eure Lordschaft.«

»Und du hast den Schuft nicht in den Teich geschmissen?«

»Nein, Eure Lordschaft.«

»Vom Hofe mit ihm!« schrie der junge Herr bleich vor Zorn. »Sofort, wenn er nicht freiwillig geht, hetz Boatswain auf ihn oder die Dogge Rush. Oder laß den Wolf von der Kette oder den Bären. Da wird er wohl laufen. Daß der Hallunke fort ist, wenn ich hinunterkomme!«

»Er wird fort sein, Eure Lordschaft«, versicherte Joe Murray und ging. Doch als er durch die hallenden Galerien und Klostergänge mit ihren stämmigen Säulen und niedrigen Bogen dahinschritt und die breiten Stufen zum Erdgeschoß hinabstieg, schüttelte er immer wieder den gepuderten Kopf, daß der Zopf wie ein Taktstock der Entrüstung hin und her tupfte. Und leise murmelte er zwischen den zahnlosen Kiefern: »der ist ja noch schlimmer als der »böse Lord«, goddam, der ist viel schlimmer.«

In der Gesindehalle saß Mr. Fiddlestick in klagendem Geplauder mit Misses Nanny Smith, der Wirtschafterin, und der blutjungen, blitzsauberen Magd Lucy Garlett.

Da trat würdevoll Mr. Joe Murray herein.

»Nun?« der ehrenwerte Handelsmann aus Nottingham schoß wie ein Grashüpfer empor, »haben Sie ihn gesprochen, Mr. Murray?«

»Ich habe«, entgegnete Seine Hoheit, Mr. Joe.

»Nun, und?« drängte Mr. Fiddlestick, »wird er zahlen?«

»Er wird.«

»Jetzt? Gleich? Hat er Ihnen einen Scheck gegeben?«

»Nichts dergleichen!« Joe mißbilligte stark diese aufdringliche Neugier. »Seine Lordschaft meint, er könne doch wohl einigen Kredit beanspruchen.«

»Einigen Kredit!« Herr Fiddlestick riß torartig den Rachen auf. »Sagten Sie, einigen Kredit?«

Joe bestätigte die Frage.

»Einigen Kredit! Sehr gut. Ich habe ihm das ganze Haus neu eingerichtet. Ich habe ihm alle Möbel besorgt. Ich habe ihm alle Zimmer frisch tapeziert. Ich habe den Tischler, den Tapezierer, den Schlosser, den Baumeister, alle habe ich bezahlt und habe nun ein halbes Jahr gewartet. Ist das kein Kredit, meine Damen, sagen Sie, ist das kein Kredit?!«

Er hob beschwörend die Hände »den Damen« entgegen.

»Es ist Kredit«, bezeugte Nanny Smith und breitete ihre würdige Stattlichkeit in das blaue Kattunkleid.

»Sie sind ein wackerer Mann«, lobte die schmucke Lucy, »aber wer würde nicht den letzten Schilling hingeben für einen so schönen, traurigen jungen Lord?«

»Ich«, beantwortete Herr Fiddlestick prompt diese Frage und wollte eine handelstechnische Einwendung dahin erheben, das Schönheit und Traurigkeit keine merkantilen Sicherheiten böten. Doch Joe Murray fuhr gebieterisch dazwischen.

»Seine Lordschaft wird Ihnen zahlen, Mr. Fiddlestick – aber wenn es ihm paßt. Das Geld ist Ihnen doch wohl sicher?«

»Ich weiß nicht«, der Handelsmann schüttelte bedenklich das kurzgeschorene Haupt, »gerade das weiß ich eben nicht. Man munkelt in Nottingham, er habe über 5000 Pfund Sterling Schulden.« Er spreizte demonstrativ die anmutige Gesamtheit der Finger einer Hand. Nanny Smith schlug entgeistert die Hände über ihrem rosigen Haupte zusammen: »Aber 5000 Pfund Sterling! Wer hätte das vermutet –«

»– bei einem so schönen traurigen jungen Lord«, ergänzte Lucy und zirkelte ihre hübschen braunen Augen zu staunenden Kreisen. »Er soll ja wie ein Wilder gelebt haben«, berichtete Mr. Fiddlestick.

»In Cambridge hat er sich Wagen und Pferde gehalten und in London hat er Unsummen im Spiel vergeudet, erzählt man. Man weiß schöne Geschichten von ihm in Nottingham. Und für die Weiber soll er –« »Was, was? Erzählen Sie!« drängte Nanny, und Lucys Augen drohten aus den Höhlen herauszupurzeln, gerade auf den roten, sauberen Backsteinestrich. Doch hier schob Joe Murray sein Ansehen dazwischen und Mr. Fiddlesticks sensationellen Enthüllungen einen Riegel vor. »Ich dulde nicht«, gebot er, »daß in dieser Halle Verleumdungen gegen den Herrn des Hauses laut werden. Seine Lordschaft befiehlt Ihnen, zu gehen. Ihr Geld werden Sie erhalten.«

»Wann?« terminierte Fiddlestick.

»Wann es Seiner Lordschaft beliebt.«

»Ja, hat er denn eigentlich Geld?« fragte der Handelsherr nervös.

»Nicht einen Farthing bis zu seiner nächsten Reise zu den Londoner Wucherern«, gab Joe bündig Bescheid.

»Die Schande!« seufzte Nanny entrüstet.

»Der arme schöne junge traurige Lord!« wehklagte Lucy gefühlvoll.

»Was tue ich denn da bloß?« verzweifelte Mr. Fiddlestick.

»Wenn ich mein Geld nicht bekomme – es sind beiläufig fünfhundert Pfund Sterling – dann bin ich ruiniert, dann kann ich mich aufhängen.«

»Um Gott!« schrien die beiden Damen.

»Bei Gott!« bestätigte der gebeugte Handelsmann.

»Sie brauchen den Kopf nicht gleich hängen zu lassen«, scherzte Joe. »Sie werden Ihr Geld bekommen, verlassen Sie sich auf meine Klugheit.«

»Aber wie?« Herr Fiddlestick dürstete nach Greifbarem.

»Er muß heiraten, Mr. Fiddlestick. Verlassen Sie sich auf mich. Manchmal, wenn er seinen Katzenjammer hat, spricht er sehr vertraulich mit mir. Da werde ich ihm die Idee schon schmackhaft machen, er muß eine reiche Lady heiraten. Wissen Sie, als der frühere Pächter, Lord Grey de Ruthen, im April von hier fortging und das Haus für Seine Lordschaft hergerichtet wurde, kam auch mal seine Mutter aus Southwell her, um sich alles anzusehen.«

»Mr. Joe,« entsetzte sich Nanny, »um alles in der Welt, sprechen Sie nicht von diesem Ungeheuer! Sonst träume ich am Ende von ihr!«

»Sie ist furchtbar.« Fiddlestick schüttelte sich wie im Fieber. »Sie war bei mir im Geschäft in Nottingham.«

»Das ist sie«, stellte Joe fest, »Aber eines Tages, als sie gerade bei Laune war, sagte sie zu mir: »Herr Murray,« sagte sie, »mein Junge muß heiraten, reich heiraten, sonst nimmt es mit ihm ein böses Ende. »Und das ist auch meine Meinung, obwohl ich sonst mit jener Dame nicht übereinstimme.«

Hiernach war eine nachdenkliche Pause, bis der Handelsmann aus tiefster Seele aufseufzte:

»Es ist eine böse Sorte, diese Byrons, meine Frau hat mich genug gewarnt, mit diesem da Geschäfte zu machen. Aber man will doch leben. Man denkt, ein Lord wird zahlen. Der »böse Lord« hat schließlich ja auch immer gezahlt.«

»Der »böse Lord«, mein alter Herr, Gott hab' ihn selig,« Joe blickte scheu in die Ecke des weiten Raumes, in der ein alter Steinsarg sein gruseliges Dasein fristete, »war schlimm, aber dieser da,« er deutete mit dem Zopfe nach oben, indem er das Kinn zur Brust senkte – »der ist viel schlimmer.«

»Nein!« Mr. Fiddlestick erschrak.

»Der »böse Lord« soll doch ein Mörder gewesen sein,« flüsterte Lucy, und ihre braunen Lichter irrten durch die Halle.

»Dummer Snak,« tadelte Joe. »Er hat den Chaworth im Duell erstochen. Weiter nichts. Lassen wir das. Es ist eine böse Geschichte. Aber der Neffe, was unser jetziger Lord ist –«

Da glitt ein Schatten über das Fenster der Halle. Alle blickten scheu hinaus. Der junge Lord hinkte draußen vorüber. Ahnungsreich duckte der Handelsherr sich unter den Küchentisch.

»Bleiben Sie sitzen,« beruhigte Joe, »der geht jetzt in den Park baden. Hierher kommt er nie.«

»Wie schön und traurig!« flüsterte Lucy und drückte das Stumpfnäschen an den Scheiben noch stumpfer.

»So läuft er nu herum, ohne zu frühstücken.« Nanny schüttelte den Kopf. »Und um sechs Uhr ißt er einen Happen Gemüse, weiter nichts. Er ist wohl doch ein bißchen verdreht.«

»Der »böse Lord« hatte auch seine Mucken,« nickte Joe vor sich hin, »aber ich sage, der da ist schlimmer.«

»Ein bißchen verrückt sind sie ja wohl alle, diese Byrons,« bedachte Fiddlestick mit trauriger Sachlichkeit, »das ist oft so in diesen alten Familien. Aber zahlen sollten sie trotzdem, wenn sie kaufen – – –«

Der junge Lord schritt forsch durch die breiten Wege, die sich durch die Rasenflächen hindurchschlängelten. Hier und da ragten aus dem Grün der Lawns noch die dunklen Rundungen der Wurzelstümpfe mächtiger Baumriesen hervor. Byrons Auge blieb an solch einem kläglichen Eichentorso haften. Er ballte zornig die Fäuste. Ein grimmiges Mitleid mit diesem hingemordeten alten Walde packte ihn.

»Dieser Schurke,« grollte er in sich hinein, »dieser mörderische Schurke.« Sein Zorn zielte auf den Vorbesitzer des Gutes, seinen Großoheim, den »bösen Lord«.

Und da hatte sich der Schmerz über das eigene düstere Geschick in der Seele des jungen Menschen mit der Trauer um das tragische Los der Bäume verbunden. »Alles ist gegen mich,« klagte er vor sich hin, während er weiterschritt. »Alles. Da hat dieser Unhold gemeint, den Sohn zu treffen, mit dem er verfeindet war und hat Haus und Hof verkommen lassen, und den herrlichen Forst, den dieser Park einst bildete, heruntergeschlagen. Doch den Sohn hat er nicht getroffen; der ist vor ihm gestorben. Mich hat er getroffen, mich, wie alle mich treffen. Mein Haus ist verkommen, mein Wald vernichtet.« Er hinkte langsam dahin und tat sich schrecklich leid. Gramgebeugt trug er sein Weh hinein in den dunklen Ulmenhain, den allein des Oheims wahnwitzige Axt verschont hatte. In einer seltsamen Laune hatte er hier ringsum klassische Statuen von Nymphen und Faunen aufgestellt. Jetzt waren sie in Wind und Wetter längst verwittert und verbröckelt und starrten den neuen Herrn aus entstellten, verstümmelten Gesichtern an. Sinnend blieb Byron vor einer Dryade stehen, deren einstige Schönheit noch aus der Verwüstung hervorleuchtete.

»Welch sonderbarer Mensch,« grübelte er, ist dieser »böse Lord« gewesen. Alles hat er vernichtet. Aber hier hat er sich in widersinniger Marotte eine Insel der Schönheit gebaut. Welch ein Widerspruch in dieser wüsten Seele!« Doch plötzlich glitt ein verschönendes Lächeln um des jungen Mannes Mund. »So sind wir Byrons,« nickte er.

Und jäh stürmte er durch die Wege bis zur Steinterrasse, die den Park gegen die Felder begrenzte. Dort stand er, krallte die Nägel in das alte Gestein, daß es leise bröckelnd niederrieselte, und sah hinaus in das Tal von Newstead, das sich sonnenfroh vor ihm breitete. Inmitten der herbstlichen Wiesen stand eine Gruppe junger Birken mit silberglänzenden Stämmen und Blättern wie schweres Gold. Weit hinten umsäumten die sagenumwobenen Robin Hood Berge blau den Horizont, und die roten Dächer eines Dorfes malten warme Purpurflecke in den zartgrünen Himmel.

Byron stand, die Brust gegen das Steingeländer gepreßt, blickte hinaus in die milde Landschaft und flüsterte vor sich hin: »Ja, so sind wir Byrons, zwiespältig und widersinnig.« Plötzlich streckte er die ausgebreiteten Arme in die Weite hinaus und sprach laut und leidenschaftlich in den stillen Frieden hinein: »Ich habe so große Sehnsucht nach dem Glück und nach dem Leben.«

Eine Glocke klang vom Dorf herüber. In Hucknall Torkard läutete man zu Mittag. Eine leichte segelnde Wolke glitt über die Sonne. Dem jungen Menschen sanken die Arme langsam herab auf die Balustrade. Die verwehten Klänge trugen ihm eine Ahnung zu von Trauer und Vergehen. Prophetisch durchzuckte ihn der Gedanke: »Das wird einst meine Totenglocke sein. In der kleinen verlassenen Dorfkirche dort drüben werde ich einst in die Ewigkeit hinüberstäuben.«

Da war alle Lebensbegeisterung und alle Sehnsucht nach Glück in ihm erloschen. »Ach, wäre es bald!« Er klammerte sich an den Todesgedanken, »läge ich doch bald dort drüben als wurmzernagtes Nichts!« Die Welt ringsum schien ihm wieder leer und öde, ohne Licht, ohne Freude, ohne Inhalt. Er wußte wieder nicht, weshalb er lebte und in dieser zermürbenden Einsamkeit hier hauste. Die Satire – nun ja. Ob sie geschrieben wurde oder nicht, was lag daran! Seiner Eitelkeit war sie wichtig. Aber im Grunde! Im Trubel und Ekel seines wilden Londoner Lebens hatte er geglaubt, die Einsamkeit würde ihn trösten, ihm Ruhe geben, sich zu sammeln, die lauteren Tiefen seiner Seele zu erleben. Nein, auch die Einsamkeit tröstete ihn nicht, gab ihm nicht Mildheit und Fassung, wies seinem verlorenen Leben kein Ziel. Nein, nein. So stand er bleich und verzweifelt, schaute hinaus in die Ferne, die wieder sanft im Sonnenglanz strahlte, und hütete die springenden Qualen seines Weltschmerzes wie ein treuer Schäfer die eigenwilligen schwarzen Böcke seiner Herde.

Schluchzend riß er sich endlich von dem Geländer und hinkte mühsam in den Park zurück, zu dem langgestreckten See, den die Mönche in der Blütezeit der Abtei einst als Fischteich angelegt hatten. Tief und verschwiegen lag er in der Hut alter Weiden. Auch sie hatte der »böse Lord« verschont, denn der See diente seinem tollen Geiste. Er war in jungen Jahren Seeoffizier gewesen. Und später, in der Einsamkeit, als sich nach dem gewaltsamen Ende des Gutsnachbarn jedermann von dem Wüterich zurückzog, raste sich seine junggebliebene Marineleidenschaft auf diesem stillen Weiher aus, dessen dunkle Fluten die hängenden Zweige der Weiden streichelten. Er baute Bastionen und Festungen am Ufer, ließ fernher über Land eine stattliche Fregatte herbeirollen, zum abergläubischen Staunen der braven Bauern der Grafschaft Nottingham, und führte mit diesem Kriegsschiff gewaltige Angriffe aus gegen die stolzen Landforts. Jetzt lagen sie da, in Trümmern, zerschunden und zerschossen, und genossen die wohlverdiente Ruhe ihres kriegerischen Unterganges. Doch auch die hochgetakelte Fregatte lag längst auf dem tiefen Boden des Sees. In einer grausigen Seeschlacht war sie in Grund gebohrt worden, als der »böse Lord« sie mit einer Schaluppe mutig angegriffen und mit einer kleinen Kanone in Stücke geschossen hatte.

Daran dachte Byron, während er die Kleider ablegte und auf den Mauerrest einer der massakrierten Bastionen niederwarf. »Hier hat der Irrsinn der Byrons gewütet,« sann er beklommen, »und geht mir nach auf allen Wegen.« Dann stand er in der Sonne und reckte den kräftigen Ephebenleib. Sorgfältig prüfte er jede Muskel ob sie fest sei und ohne Fettansatz. Denn er hatte Anlage zur Korpulenz. Nein, nicht die Spur von Beleibtheit war zu entdecken. Er lächelte kindlich zufrieden. Die Diät, die seine Eitelkeit ihm verschrieben hatte: so wenig Nahrung wie möglich und niemals Fleisch, schlug vortrefflich an. Wohlgefällig streckte er die Arme über den Kopf hinaus und schoß in kraftvollem Hechtsprung hinein in das herbstkühle klare Wasser.

Als er prustend aufgetaucht war, schwamm er in markigen Stößen dahin. Und jetzt war etwas Frisches, Junges an ihm. Übermütig warf er sich auf den Rücken, schlug mit den Beinen das Wasser und war plötzlich ein gesunder Bursche von zwanzig Jahren, der seine Jugend und seine Kraft in jeder Sehne fühlt.

Elastisch, arbeitsfrisch schritt er später dem Hause zu. Als er aus dem statuengeschmückten Hain heraustrat, lag das Gebäude der Abtei in seiner überraschenden romantischen Verzauberung vor ihm. Er blieb stehen und sog den Anblick in sich ein, den er so oft schon genossen hatte, der aber immer von neuem freudevoll an sein empfängliches Gemüt rührte.

»Ein herrlicher Ort,« nickte er, »und wie geschaffen für meinen großen Schmerz.«

Seine Blicke liebkosten die geborstene Vorderwand der alten Klosterkirche mit ihrem wundervollen Steinschnitzwerk und den hohen gotischen Bogen. Die Höhlen, in denen einst buntbemalte Fenster freudig-fromm in den Park hinausgeschaut hatten, starrten jetzt schwarz und tot wie erloschene Augen. Doch das graue, zerbröckelte Gestein mit seinen Verästelungen und Schnörkeln kündete die einstige Herrlichkeit. In der Mitte der Kirchwand, im Schutze einer Nische, thronte wohlerhalten eine liebliche Mutter Gottes. Rechts unmittelbar an die verfallene Kathedrale schloß sich das Schloß mit seinen kriegerischen Türmen und Söllern und Bastionen und erzählten von den ritterlichen Tagen, in denen die Byrons hier als Kriegsherren der Tudors und Stuarts gehaust hatten. »Ein prächtiger Bau,« frohlockte der junge Lord und warf stolz den Kopf zurück, denn er fühlte sich als Besitzer eines der wunderbarsten Werke gotischer Kunst auf englischer Erde.

Sein Blick blieb an den liebreichen Zügen der Muttergottes hängen. Und plötzlich schien es ihm, als gleiche sie der Geliebten seiner Jugend, Mary Chaworth. Ungestüm riß er sich los und schritt an dem phantastisch ausgemeißelten Brunnen vorbei, stieg die Steinstufen hinan und trat in die Kühle der niedrigen Halle, die mit ihren massigen Bogen an die Krypta eines Domes gemahnte. Vom Hintergrunde der Halle stiegen breite Steinstufen hinauf in das obere Geschoß. Links von der Treppe lag an einer eisernen Kette ein Wolf, rechts ein Bär. Byron koste den Wolf, der die spitze Schnauze zwischen den Vorderfüßen barg, hinter den Ohren und wollte dann dem braunen Burschen seine Reverenz erweisen. Doch Meister Petz war heut übler Laune, erhob sich auf den Hinterbeinen und machte Miene, den Herrn in seine unsanfte Umarmung zu nehmen. Unwirsch hieb der junge Mensch ihm einen Faustschlag gegen die Brust, sprang die Stufen hinauf, durchschritt die echolaute Galerie und trat in sein Arbeitszimmer. –

Es war ein kleines Gemach, dessen Spitzbogenfenster hinaus in den Garten blickten. Die Einrichtung bildete ein Gemisch von Altertümelei und neuestem Luxus. Ein eleganter moderner Schreibtisch beherrschte die Mitte des Zimmers, neue Teppiche wärmten die Steinfließen des Bodens. Mr. Fiddlestick aus Nottingham hatte sie geliefert. Zu den Bogenfenstern stimmten die uralten, hochlehnigen, grotesk geschnitzten Stühle mit ihrer verblichenen Handstickerei in den Lehnen. An der Wand breitete ein wuchtiger Schrank aus dunkler Eiche, den die Zeit mit schwarzglänzender Patina poliert hatte, seine anspruchsvolle Geräumigkeit. Ein großer Spiegel in antikem Rahmen hing über dem Kamin, den seltsame Figuren, in Hochrelief gearbeitet, schmückten. Wundersam fein war das Gesicht einer christlichen Dame, die von einer Nachbarnische aus durch einen wilden Sarazenen bewacht wurde.

Von der tiefroten Seidentapete der Wände hoben sich die schwarzen Rahmen der Bilder von Harrow und des Kollege in Cambridge, von Pferden und Hunden, sowie einiger stark gedunkelter Gemälde. Da war ein Kavalier im Van-Dyck-Kostüm, der vielleicht einmal hier gewohnt hatte, und eine Dame, die eine Samtmaske in der Hand hielt. Vielleicht hatte sie oftmals in dem Spiegel über dem Kamin ihre junge Schönheit bewundert. Aber dem Sofa hing ein alter Degen. Das Seltsamste in diesem Gemach aber waren zwei Totenschädel, die von schwarzen Postamenten her in die Bizarrheit der Stube hineingrinsten.

Byron trat an den Schreibtisch und überflog die Post. Da war ein Brief von Herrn Dallas mit vielen guten Ratschlägen und Anmaßungen. Der Mann begann ihm lästig zu werden. Dann war ein Schreiben von seinem Universitätsfreunde, dem lieben, milden Theologen Hodgson. Und hier grüßte die traute Handschrift seiner Stiefschwester Augusta. Er legte das Schreiben zurück als Freudenstück und griff zuerst zu dem mütterlichen Briefe aus Southwell. Behaglich setzte er sich in den neuen Schreibsessel und las mit mokantem Zucken der beredten Mundwinkel.

Die Frau lebte in diesem Briefe. Er hob an mit bitteren Vorwürfen und Klagen darüber, daß der Sohn ihr verboten hatte, nach Newstead zu kommen. Nicht ihretwegen wollte sie bei ihm sein, ja nicht. Sie sei nur zu froh, wenn sie nichts von diesem ungeratenen Burschen sehe. Aber sie habe gehört, welches sündhafte Leben er in London geführt habe, und daß seine Schulden ins Maßlose stiegen. Deshalb wollte sie kommen und über ihn wachen. Denn er solle ja nicht glauben, daß er ihrer Zucht entwachsen wäre. Er sei ein törichter Knabe mit verbrecherischen Anlagen. Ja, er sei ein echter Byron, ein Schuft, wie sein Vater, der mit Recht der »wahnsinnige Jack Byron« genannt worden sei. O, sie wolle nicht an diesen Halunken denken, das schade ihrer ohnehin nicht allzufesten Gesundheit. Aber sie könne und könne nicht vergessen, daß er ihr ganzes Leben vernichtet habe, dieser Unhold, der zuerst die Marquise von Charmarthen ihrem Gatten entführt und zu Tode gequält und sich dann nach einem neuen Opfer umgesehen und sie, gerade sie, die unselige Miß Gordon aus dem Geschlecht der Stuarts dazu auserkoren habe. O, sie fluche der Stunde, in der sie seinen Lockungen gefolgt war. Nie werde sie ihm verzeihen, daß er in wenigen Wochen ihr ganzes Vermögen verpraßt habe und dann nach Frankreich davongelaufen sei und sie zurückgelassen habe, hilflos und verlassen mit diesem entsetzlichen Kinde unter dem Herzen, das er, George, geworden sei. Ja, er ähnele seinem Schurken von Vater. Aber, was an ihr sei, werde sie tun, diese ruchlosen Anlagen in ihm auszurotten. Sie werde ihre Pflicht erfüllen und nach Newstead kommen, ob er sie nun dort haben wolle oder nicht. Und plötzlich mußte die Schreiberin beim Abfassen des Briefes einen ihrer häufigen wirbeligen Wutanfälle gepackt haben. Denn plötzlich erging sie sich in den wildesten Verwünschungen und unflätigsten Schmähworten gegen ihren geliebten Sohn George und drohte, sie würde ihm die Augen auskratzen, wenn er sie nicht sofort zu sich riefe, dieser lahme Hund. Dann aber kam, wie stets bei ihr, ein rascher Umschwung, und sie überhäufte ihr »einziges geliebtes Kind« mit den süßesten Zärtlichkeiten.

»Das einzige geliebte Kind« schleuderte das Papier verächtlich auf den Teppich und setzte den lahmen Fuß darauf, als ob er etwas zertrete. Sie sollte wagen, zu kommen! Dieses Weib, das ihm mit ihren Launen und tobsüchtigen Narreteien die Kindheit vergiftet hatte! Er würde Rush, die Dogge, auf sie hetzen, Ha, und der Wolf und der Bär lagen auch nicht umsonst an der Treppe. Sie würde es wohl nicht wagen, zwischen ihnen hindurchzuschreiten. Er hatte genug unter ihr gelitten. Er dachte an den Abend in Southwell, an dem sie beide in die Apotheke gegangen waren, zu fragen, ob der andere Gift gekauft hätte, weil jeder einen Mordversuch des trauten Verwandten fürchtete. Er dachte an die tausend Schüsseln, Teller, Kohlenschaufeln, die ihm im Laufe ihrer »Erziehung« an den Kopf geflogen waren. Er dachte an die tausend Male, die sie ihn vor Zeugen »lahmer Hund« geschimpft hatte. Sie, die durch ihre Ungebärdigkeit in der Stunde seiner Geburt die Verkrüppelung seines Fußes verschuldet hatte! Nein, sie sollte bleiben, wo sie war. Er wollte für ihren Lebensunterhalt sorgen, weiter hatte er nichts mit ihr zu schaffen. Über seine Schwelle schritt sie nicht. – Er stieß mit der Fußspitze den Brief unter den Tisch und griff zu Augustas Brief. Er war herzlich, klug und großzügig wie die Schwester. Sie erzählte von ihrer jungen, glücklichen Ehe mit dem Oberst Leigh und suchte einen Hauch ihrer Seligkeiten auf den fanatisch geliebten Stiefbruder hinüberzuleiten. Er lächelte beglückt vor sich hin, seufzte tief auf und schlug das Manuskript seiner Satire auf. Heiter blätterte er in den Bogen.

Hm, er hatte das halbe Jahr fleißig gearbeitet, das seit jenem Abend in London verstrichen war, an dem er den Plan gefaßt hatte, sich an der gesamten Literatur Englands zu rächen. Er hatte die Werke der zeitgenössischen Dichter noch einmal gelesen und hatte erkannt, wie recht Dallas hatte mit seinem herben Urteil. Schund war es, nichts als Schund. Er blickte hinauf zu dem dritten Gemälde über der Tür, das den ersten Besitzer von Newstead Abbey darstellte, »Sir John Byron, den Kleinen mit dem großen Barte,« der von Heinrich dem Achten mit der säkularisierten Abtei belehnt worden war. Grimmig schaute der alte Degen aus brennenden wilden Byronaugen auf den späten Enkel nieder. »Wir sind ein kriegerisches Geschlecht geblieben,« grüßte der junge Lord hinauf, »und schlagen noch heute jeden nieder, der uns Schimpf tut.«

Er blätterte in dem Manuskripte und las hier eine Zeile und dort:

»Seht, dichtgedrängt in langer, bunter Reih'
Sich spreizend zieht die Schreiberzunft vorbei;
Ein jeder spornt den lahmen Musengaul,
Und Reim und Blankvers sind gleichmäßig faul.
Sonette wimmeln, tausend Oden nah'n,
Schaudergeschichten brechen wild sich Bahn, –«

Er blätterte weiter:

»O Southey! Southey! ende den Gesang;
Man kann zu häufig singen, auch zu lang.
Du bist ja mächtig, laß denn Gnade walten;
Ein viertes Epos wär' nicht auszuhalten.«

Er schlug das Blatt um:

Da naht dein Jünger, der stupid und still
Der Dichtkunst Regeln blöd' abschaffen will,
Der simple Wordsworth, der ein Liedchen weiß,
Lau wie ein Abend seines Lieblings-Mais.
Er lehrt, und führt auch gleich die Probe bei,
Daß Prosa Vers und Vers nur Prosa sei.«

Grimmig lächelnd las er eine andere Stelle:

»Grüßt Coleridge, nun den sanften Philosophen,
Den Freund gedunsner Oden, schwülstger Strophen!«

Hui, sie bekamen ihre Hiebe, alle, auch jene, die der junge Satiriker im Grunde seines Herzens liebte und verehrte. Er wußte, daß er nicht gerecht war. Er wußte, daß er nicht objektiv Spreu vom Korn schied, doch er ballte die Fäuste und trotzte auf das Recht des Dichters, subjektiv zu sein. Und er geißelte den großen Schotten Walter Scott, den er schätzte, und den Iren Thomas Moore, den er liebte und doch mit dem unblutigen Duell verhöhnte, das er einst ausgesuchten hatte mit Jeffrey. Mit seinem Todfeinde Jeffrey, der jene Kritik in der Edinburgh Review verfaßt hatte. Man munkelte zwar, daß Brougham ihr Urheber sei. Was scherte das Byron! Er hieb blindwütig auf alle ein. Dabei traf er am zuverlässigsten auch den Schuldigen. Er nahm einen neuen Bogen und ging seinem Vormunde, dem Grafen Carlisle, zu Leibe, der einige üble Dramen verfaßt hatte. Jetzt wollte er Rache üben an diesem Mann, der sich um sein leibliches Wohl niemals gekümmert und sein Vermögen so verwaltet hatte, daß es den Verdacht erregte, er habe sich an dem Gute seines Mündels bereichert. Der Federkiel kratzte angriffslüstern über das Papier. Er schrieb:

»Und keine Muse lächelt Glück und Heil
Dem gichtigen und winselnden Carlisle.
Die Welt wird eines Knaben Reimereien,
Wenn er zum Mann gereift ist, gern verzeihen.
Doch einem Greise, der noch zirpt und girrt,
Wird nie –«

Den Reim suchend, hob er den Kopf. Da bannte sein Auge der alte Degen über dem Sofa. Und plötzlich huschten seine Gedanken von der Arbeit hinüber zu der blutigen Geschichte dieses Säbels. Er erhob sich, nahm die Waffe von der Wand und zog den Stahl halb aus der Scheide. Einige dunkle braune Flecke trübten den blauen Glanz.

»Vielleicht ist es Blut,« dachte Byron, »vielleicht Rost.«

Sinnend wetzte er die Klinge hin und her.

»Wir Byrons haben jeden Schimpf gerächt,« lächelte er satanisch und dachte seines Oheims, des »bösen Lords«, der mit dieser Waffe dereinst seinen Gutsnachbarn Chaworth niedergestochen hatte. Da klirrte der Degen zu Boden. Von dem ermordeten Chaworth war des jungen Menschen Gedenken hinüber zu der geglitten, zu der einmal die heiligste Scheu seiner Knabenjahre gebetet hatte.

Unwillig wandte er sich dem Manuskripte zu. Er wollte arbeiten. Die Jugendliebe war abgetan, lange. Nur diese plötzliche unsinnige Einladung hatte die alten Wunden wieder geöffnet. Die Zähne zusammengebissen und los!

»Doch einem Greise, der noch zirpt und girrt,
Wird nie –«

Er fand den Reim nicht.

Eine Weile quälte er sich und versuchte dies und jenes Wort, doch ihm, dem sonst die Verse fast ungewollt entsprudelten, kam kein passender Reim in den Sinn.

Suchend glitten seine Blicke an den Wänden des Zimmers hin, und da – da war es ihm plötzlich, als glichen die Züge der Dame mit der schwarzen Samtmaske dem jungen Gesicht der schönen Mary Chaworth. Es zog ihn von dem Sessel empor und trieb ihn vor das Bild. Staunend starrte er hinauf, es war ihm doch noch niemals aufgefallen. Trotz der Nachdunkelung der Farbe hatte das Gemälde eine seltsame Frische.

»Ja, das sind ihre Züge,« nickte er, »dieselbe feine, gebogene Nase, diese zartgezogenen dunklen Brücken der Brauen, dieses helle, blonde, knisternde Haar, diese großen, braunen, Lebenslust sprühenden Augen und die duftige Frische der Wangen.« Verwundert starrte er zu dem Bilde empor.

»Vielleicht war sie eine Chaworth,« grübelte er. »Auch sie wohnen seit Jahrhunderten drüben in Annesley. Vielleicht war eine Chaworth hier einmal Hausherrin. Oder vielleicht kam sie, wenn die Dämmerung fiel, herüber zu dem ritterlichen Herrn in dem Van-Dyck-Kostüm und brachte ihm ihre Jugend und ihren würzigen Liebreiz.«

Plötzlich lachte er laut auf. Das Gemälde war wieder ein totes Bild aus alter grauer längstvergessener Zeit geworden.

»Ich bin ein Narr,« flüsterte er zornig vor sich hin, »und meine Narrheit sieht überall meine Liebe.« Er stampfte mit dem Fuß auf die Erde. »Ich liebe sie nicht mehr, ich liebe sie nicht mehr,« wütete er gegen sich. »Ich will sie nicht mehr lieben.« Er setzte sich wieder an den Schreibtisch und griff zum Kiel. Doch er schrieb nicht. Die Stirn sank nieder auf das Papier. So saß er lange Zeit, und der große Schmerz seiner ersten Liebe tropfte schwer und blutig in ihm nieder. Er saß und preßte die Stirn auf das knisternde Papier und lauschte auf das Rieseln der Tropfen seines großen Schmerzes.

Vor fünf Jahren war er in den Ferien von Harrow nach Newstead gekommen. Sein Vormund Carlisle hatte das Gut auf lange Jahre an Lord Grey de Ruthen verpachtet. Doch die Sehnsucht zog den jungen Eigentümer zu dem Ahnenbesitz, der ihm so unerwartet durch das Aussterben der Peerslinie zugefallen war. Bereitwillig räumte Lord Grey ihm während der Ferien ein Zimmer im Schlosse ein. Er schritt durch die romantisch verklärten Bogengänge des Hauses, streifte durch die Felder, liebkoste jeden Stein und jeden Halm mit besitzstolzem Lächeln und träumte von der Zeit, da er hier walten und gebieten würde. In einem Anflug von Ritterlichkeit stattete er dem Gutsnachbarn in Annesley seinen Besuch ab. Mit Zagen ritt er hinüber und mit leisem Bangen. Denn lange Jahre war Newstead in Annesley verfemt gewesen. Der Gedanke, daß er zu der Brudersfrau und zu der Nichte des Mannes ging, der von der Hand seines Oheims gefallen war, jagte ihn fast noch von der Tür zurück. Doch der Empfang, der ihm wurde, verscheuchte sofort alle Befürchtungen. Und dann trieb seine Liebe ihre erste zarte Knospe, und dann sang sein junges Glück diese lieblichste Romanze seines romantischen Lebens.

Mary war zwei Jahre älter, innerlich war er weit hinausgewachsen über seine knabenhaften Fünfzehn. Die Leiden seiner Erziehung, die Qualen, die ihm die unzähligen Kurpfuscher auf Veranlassung seiner Mutter mit den vergeblichen Versuchen, seinen Fuß zu kurieren, angetan hatten, die Last, die er bewußt schon damals an der geistigen Erbschaft der Byrons trug, hatten ihn weit über seine Jahre hinaus gereift. Sie ritten zusammen über die Felder, auf denen einst der sagenumrauschte Sherwood Forst seine dunklen Wipfel gewiegt hatte. Sie wanderten durch die Gärten von Annesley. Sie saßen zusammen in Marys »blauem Zimmer«. Und die Liebe kam. Zu ihm. Sie hatte ihn lieb wie einen Bruder. Sie war gut und frisch und kameradschaftlich. Doch er hielt ihre Zuneigung für Liebe. Und wenn sie lustig neben ihm dahingaloppierte, daß das Sattelzeug knirschte, und ihre schlanke Gestalt sich in dem schwarzen Reitkleide reckte, wenn das blonde Haar im Winde flatterte und ihre braunen Augen in aufwallender Jugendfreude blitzten, dann vergaß er alles Leid seiner Kindheit, alle Qualen seiner Erziehung, allen Schmerz seiner Verkrüppelung, dann sah er nur sie, dann atmete er nur den Duft ihrer übermütigen Jungfräulichkeit. Dann öffnete sich das Leben vor ihm in Helle und Heiligkeit.

Sie saßen im Garten, und sie wand aus Blumen einen Kranz für seine braunen Locken. Und wenn sie ihm ihr Werk mit keckem Lachen auf die Stirn drückte, dann fühlte er sich wie ein gekrönter König des Lebens. Und abends rannte er durch die dunklen Wege des Newsteader Parkes und ergoß seine schwärmerische Liebe in lohende Verse und erlebte zum erstenmal die Glut des Schaffens und empfand die ringende Schöpferkraft in seiner Brust und fühlte sich als Gott.

Er vergaß die Schule, als die Ferien zu Ende gingen. Mahnbriefe kamen von Dr. Drury, dem Direktor in Harrow. Wutfletschende Episteln seiner Mutter rasten daher aus Southwell. Byron warf sie lächelnd in den Weiher des Parkes. Was scherte ihn die Mutter, dieses Symbol seines Elends, was Dr. Drury, das Symbol des Zwanges, den er so haßte. Was sollte ihm alles Wissen und alle Gelehrsamkeit! In den Augen seiner Liebsten fand er alle Klugheit, alle Schönheit, alle Weisheit der Welt.

Es war Herbst geworden, der milde, weiche Herbst des Jahres 1803. Auf einer baumbekränzten Anhöhe des Newsteader Tales zügelten sie nebeneinander die Pferde und blickten hinein ins Land. Da jauchzte das Jagdhorn, ein Fuchs brach aus dem Dickicht, hinter ihm die Meute und ein Gewirr roter Jagdfräcke. Allen voran, dicht hinter den Hunden, preschte Herr John Musters, der schneidigste Sportsmann der Gegend. Die Jagd stürmte dicht am Fuße des Hügels vorüber. Empört wandte Byron sich ab. Ihn ekelte vor dieser Todeshatz. Doch Marys große Augen funkelten vor Erregung. »Sieh nur, wie der Herr dort vorn zu Pferde sitzt, wie angegossen, welch prächtiges Bild!« jubelte sie fortgerissen.

Da fror eine Kälte um des Knaben Stirn. Eine Ahnung umklammerte sein junges Haupt wie ein eiserner Ring. Still ritten sie heim. Dann kamen Tage, die dunkel waren und weh. Denn wann er auch immer nach Annesley kam, fand er dort den »schneidigen John Musters«. Und wenn Mary auch gut und zutraulich war, wie ehedem, das erkannte die ohnmächtige Eifersucht des Jungen doch, zu diesem hübschen Sportsmann, der ihn so gönnerhaft herablassend behandelte, war sie ganz anders. Und dann traf er sie eines Tages allein. Sie saß in ihrem Zimmer. Durch das offene Fenster lächelte der Oktober den Duft der letzten Herbstrosen herein. Und sie begann zu sprechen, fröhlich, heiter, als wüßte sie nichts von seiner großen Liebe. Sie sprach davon, daß sie nun bald Frau Chaworth sein würde, denn Herr Musters werde ihren ehrwürdigen Familiennamen annehmen. Sie sprach freudevoll und zukunftsfroh. Er sah ganz still, nur das Blut strömte zum Herzen und machte es schwer wie eine Eisenkugel. Dann erhob er sich und hinkte hinaus, mühselig und still, in der schmerzlichen Würde seiner Fünfzehn. Er schwang sich aufs Pferd, schlug ihm die Sporen in die Weichen, daß das Blut herausspritzte, und stob über die Felder. Kurz vor Newstead taumelte er aus dem Sattel, warf sich zu Boden, biß die Zähne in die schwarze Erde und wühlte mit den Nägeln tiefe Gräber seines Glücks.

Am nächsten Tage kehrte er zurück in die Schule. –

Byron hob die Stirn von dem Manuskript und sah sich fremd im Zimmer um. Dann strich er mit der Hand über die Augen. Ja, so war das Heiligste und Tiefste seines Lebens gestorben. Er stand auf und wanderte verloren in dem düsteren Raume umher und rang die Hände und schrie: »Nein, nein, es ist nicht gestorben! Es ist nicht gestorben in dem Morast der späteren Jahre.«

In der Zwangsarbeit zu Harrow, in der ertrotzten Ausgelassenheit und dem wilden Sport in Cambridge, in dem Dirnentaumel und dem beklemmenden Dunst der Spielhöllen von London war seine Liebe nicht gestorben. Inmitten der Schulfreunde, inmitten der Genossen seiner Ausschweifungen brach sie über ihn herein, wie ein Meer über brüchige Dämme, und schwemmte ihn fort aus Freude und Taumel an das einsame Gestade seines Elends.

Er schritt auf und nieder und biß die Lippen blutig, dem Schluchzen zu wehren.

Aber seit einem halben Jahre, seitdem jene vernichtende Kritik über ihn hereingebrochen war, hatte sie doch geschwiegen! Ein neues Ziel war erstanden, seine Ehre heischte Genugtuung, und unter dieser neuen ernsten Forderung an seine Kraft war der Schmerz verebbt. Stunden waren gekommen, in denen er über den schwärmerischen Überschwang seiner törichten Fünfzehn wehmütig gelächelt hatte. Als der Pachtvertrag mit Lord Grey im Frühling des Jahres ablief, hatte er den Mut gefunden, diese alten Stätten zum erstenmal wieder zu betreten. Und in diesen drei Wochen war er erlöst und markig seiner Arbeit nachgegangen, bis gestern die Einladung in seinen Frieden eingeschlagen hatte. Da war alles wieder in ihm auferstanden, die Liebe und die Erinnerung und der haltlose Weltschmerz. Und alle Wunden bluteten. »Ich hätte die Einladung nicht annehmen sollen,« grübelte er wieder, »hätte sie nicht annehmen sollen. Nur in der ersten Verblüffung, als der Diener den Brief des Herrn Musters brachte, habe ich zugesagt.«

Er erhob sich kerzengerade.

»Belüg' dich nicht!« sprach er laut vor sich hin, in der Art eines Menschen, der viel einsam gewesen ist, »belüg' dich doch nicht. Sei wahr. Du hast immer die Wahrheit für das Höchste gehalten. Es war nicht Verblüffung, die zugesagt hat, es war Freude, wahnwitzige, kopflose Freude, die gierig nach dieser Hand griff, die sich von dort drüben zu dir herüberstreckte.«

Er setzte sich wieder in den Schreibsessel, ballte die Hände und wühlte in seinem Schmerz. So saß er lange Zeit. Endlich raffte er sich auf und ging hinüber in das Schlafzimmer, sich umzukleiden.

»Ich werde mich zusammennehmen,« trotzte er, »sie soll nicht merken, was sie mir noch immer ist. Und dieser Mensch, der sie mir genommen hat, soll keinen Triumph an mir erleben. Frei werde ich sein und heiter, als läge alles weit hinter mir wie ein kindisches Spiel meiner Knabenzeit.«

Sorgfältig machte er Toilette, denn er gab viel auf sein Äußeres. Er hatte nicht umsonst in London unter der Herrschaft des Dandytums gelebt und gehörte nicht vergebens dem fashionablen Four-in-hand-Club an, dessen Mitglieder kein höheres Ideal kannten, als sich wie Kutscher zu kleiden und zu sprechen wie Troßknechte. Nach der neuesten Mode dieses Klubs kleidete er sich mit bleichgelber, enganliegender Hose, die in die hochschaftigen Stiefel mündete, roter Kutscherweste und dem blauen Rock mit hochaufgeschlagenem Kragen und silbernen Knöpfen, breit wie Talerstücke. Doch in einem unterschied Byrons Kleidung sich von jener der Dandys von 1803. Er suchte ihr dadurch eine individuelle Note aufzuprägen, daß er das Hauptkleidungsstück des Londoner Lebemannes vermied, die faltige Seidenkrawatte, die sich hoch bis zu den Ohren hinaufwand und das Kinn wie ein Strudel verschlang. Er ließ aus der Weste ein feines seidenes Hemd hervorglänzen, das breit über den Kragen des Rockes herniederfiel, und der schwarze Schlips flatterte darunter hervor als ein Original Byronscher Erfindungsgabe.

Als er in den Park hinunterkam, hielt Joe Murray schon die Stute bereit. Byron schwang sich gewandt in den Sattel und ritt davon. Er war, seiner Lahmheit zum Trotz, ein vorzüglicher Reiter. Er trabte durch die Wege des Parkes, ritt durch das kunstvolle Eisengitter der Steinmauer und kam hinaus auf die Felder. Es waren kaum drei englische Meilen bis Annesley.

In einiger Entfernung hob sich eine Hügelkette aus dem Tal, die von einer schroffen Anhöhe wie von einem Kap jäh begrenzt wurde. Ein Rondell von Bäumen krönte ihren Gipfel. Eine törichte Gewalt trieb den jungen Lord dort hinauf. Es war der Ort, von dem aus Mary Chaworth damals zuerst den »schneidigen John Musters« hinter der Meute erblickt hatte. Byron ritt hinan, parierte die Stute und schaute in wehem Gedenken hinein in das Land. Schwarz-blau ruhten die herbstlichen Felder, von den spärlichen Resten des Sherwood-Forstes umsäumt, und Dörfer träumten hinein in die Stille, und aus den kleinen runden Schornsteinen stieg der Rauch in gerader schmächtiger Säule in den blauen Himmel.

Er fühlte sie wieder neben sich im Sattel und atmete wieder den Duft ihres jungen Körpers, der süß war und herb wie der Odem der Erdschollen ringsum. So saß er im Sattel gebeugt und träumte. Und seine Sehnsucht begann zu klingen. Ungewollt läutete es wie in Versen durch sein Gemüt:

»Für ihn gab es auf Erden nur ein süßes Antlitz, und dieses war sein Stern. Er atmete, er lebte nur in ihr. Sie war ihm Stimme, er sprach nicht zu ihr. Nur zitternd lauschte er ihrem Wort. Sie war sein Auge, alles sah er nur durch sie. Er lebte nicht in sich –, sie war sein Leben, seiner Gedankenströme Ozean, in den sein reiches Sein sich ganz ergoß.«

Er raffte sich auf. Die Stimmung verrauschte in die Weite. Fort mit dem Traume! Die Wirklichkeit forderte Fassung und Festigkeit. Er gab dem Tier die Sporen, daß es aufwiehernd ausschlug und den Hügel hinabstob. Bald ritt er in den Park von Annesley ein. Tief auf den Sattel mußte er sich niederducken, sich zu bergen vor den hängenden Zweigen der alten, stürmgebeugten Eichen und Ulmen. Dann hielt er vor dem Torhaus, einem alten Ziegelbau, der in den blutigen Zeiten der Bürgerkriege als Außenfort manchem hitzigen Ansturm getrotzt hatte. Schießscharten drohten aus den Mauern, jetzt friedlich halbverdeckt von Immergrün, das über die Wände und das niedrige Dach klomm und die alte Sonnenuhr über dem Tor fast erstickte.

Durch den dumpfhallenden Bogengang in der Mitte des Hauses ritt er hindurch, dann breitete sich vor ihm der Hof mit seinen Beeten und Blumenrabatten und dem verwitterten Brunnen, der murmelnd vor sich hinplätscherte, wie eine Greisin, die still behaglich in der Sonne sitzt und längst verblichene Geschichten aus ihrer Jugend raunt.

Beklommen zog Byron die Zügel an und überblickte die Stätte, an der jeder Stein heiß war von Erinnerungen. Dort lag das Herrenhaus, ein unregelmäßiger, langgestreckter Kasten, an den die Zeiten immer neue Anbauten systemlos angeklammert hatten, mit seinen zahllosen hochragenden Kaminen, die sich wie deutende Finger aus dem rostbraunen Ziegeldach hervorstreckten. Ja, es war noch alles wie ehedem. Nein, doch nicht. Dort zur Rechten waren weiträumige neue Stallungen erstanden, aus denen dumpf das Gebläff der Meute drang. Ein bitteres Lächeln zuckte um des Reiters Mund: »Die Seele des Fuchsjägers ist hier eingezogen!«

Dann ritt er langsam hinüber zu der eichenen Pforte.

Als er sich aus dem Sattel schwang, erschien der Stallknecht und nahm ihm die Zügel ab. Aus der Tür trat ein Diener und führte den Gast in die geräumige Halle, in die das Licht weich gedämpft glitt durch die efeuverhangenen Fenster. Und da – da war auch wieder dieser seltsame eigentümliche traute Duft von Annesley-Hall, diese Mischung von Altertum und grünender Gegenwart.

Tausend Erinnerungen zitterten durch Byrons Hirn in dieser weiten, dämmrigen Halle. Er fühlte, wie es ihm dick und knotig in der Kehle aufstieg. Doch schon öffnete sich eine Tür und hervor trat Herr John Musters, kam auf Byron zu. streckte ihm die Hand entgegen und rief: »Da sind Sie ja, mein lieber Nachbar!« –

Byron stutzte und schlug zögernd ein. Zorn umdunkelte seine Stirn. Wußte dieser rotbäckige Fuchsjäger dort nicht, daß ein Peer von England vor ihm stand? Der junge Lord, der so unvermutet zu seinem hohen Range gekommen war, wachte, wie alle Emporkömmlinge, narrenstolz über die Ehrung seiner Würde und seiner Titel. Was fiel diesem Burschen dort ein, ihm die Ansprache zu versagen, auf die sein Peerstum Anspruch erhob! Die gekränkte Eitelkeit gab ihm die Fassung zurück. »Guten Tag, Musters«, entgegnete er hochmütig. Während der Diener dem jungen Herrn Hut und Reitrock abnahm, stand Herr Musters breitbeinig dabei, die Hände in den ledernen Reithosen, das Urbild selbstgefälliger Behäbigkeit. Er hatte nicht mehr allzuviel von dem » schneidigen John Musters«; sein Körper war schwerfällig und rund geworden. Auch schien es Byron, daß in dem roten Gesicht der brutale Zug um die Nasenflügel sich noch vertieft habe.

»Dachte immer,« plauderte Herr Musters, »Sie würden uns besuchen. So nahe Nachbarn müssen doch Freundschaft halten. Wie?« Damit führte er den Gast in ein kleines dunkles Zimmer, das älteste Gemach des Hauses.

Als sie Platz genommen hatten, streckte der Hausherr die Beine in den hohen Stulpenstiefeln von sich und fragte: »Nun, mein lieber Nachbar, wie gefällt Ihnen das Landleben hier? Bißchen einsam für solch verwöhnten Herrn, wie Sie sind, wie? Man erzählt in Nottingham, Sie sollen ja ein verflucht wildes Leben in London geführt haben. Menge Weiber unglücklich gemacht, wie? Na, so was gibt's ja nu hier nicht.«

Byron gab keine Antwort. Sein Auge wanderte durch das Zimmer. Hier war noch alles wie ehedem. Dort hing das Bild des Herrn Chaworth, den sein Oheim erstochen hatte. Damals, als er zum ersten Male in jenen Maientagen seines Lebens hierhergekommen war, war er entsetzt vor diesem Bilde geflohen, weil es ihn dünkte, der Mann im Rahmen schaue voll Haß und Rachedurst nieder auf den Nachfolger seines Mörders. Daran dachte er jetzt und lächelte leise. Nein, jetzt fürchtete er sich nicht mehr vor toten Bildern. Jetzt fürchtete er nur noch das eine große lebendige Leid, das seine Tage verdunkelte.

Herr Musters war seinen Blicken gefolgt.

»Schönes altes Zimmer,« schmunzelte er mit dem Stolz des Besitzers. »Ist alles so geblieben, wie ich's übernommen habe. Da ist auch noch unsere famose Reliquie, die Stiefel Robin Hoods.« Er erhob sich und schritt gravitätisch hinüber zu dem Glaskasten an der Wand, der ein Paar alte Reiterstiefel barg. Er klopfte großspurig gegen die Scheibe.

»Echt,« prahle er, »gute alte Urkunden bezeugen es.« –

Byron kannte diese Reliquie. Gläubig und ehrfurchtsvoll hatte er vor diesem Kasten gestanden, damals, als Mary ihm bei seinem ersten Besuche diesen Schatz von Annesley stolz gewiesen hatte. Ach, damals hatte er ohne zu zweifeln geglaubt, daß der große Räuberhauptmann aus der Zeit König Johanns in diesen Stiefeln wirklich einmal seinem sauberen Handwerk nachgegangen war!

Ach, damals hatte er das und so vieles andere gläubigen Sinnes geglaubt! Aber heute reizte ihn diese besitzsichere Miene des Mannes zum Widerspruch, der mit seiner Liebsten alle diese Schätze erworben hatte. Er erkannte auf den ersten Blick, daß dieses sagenumwehte Schuhzeug einer viel späteren Epoche angehörte und sagte: »Ihre Urkunden dürften sich irren, Herr Musters. Jeder Sachverständige wird Ihnen bezeugen, daß jene Stiefel aus der Zeit Karls I. stammen.« Herr Musters bohrte die Fäuste in die Lederhosen, schaukelte zornig auf den Sohlen und rief: »Was, die Stiefel sollen nicht echt sein!! Diese Stiefel, die seit Jahrhunderten von allen Chaworth verehrt worden sind? Sie spaßen wohl?«

»Nein,« beharrte Byron, »man sieht solche Stiefel auf den Bildern van Dycks.«

Herr Musters schnaubte vernehmlich. »Die Stiefel nicht Robin Hood gehören?! Ausgezeichnet. Da sind Sie wahrhaftig der erste, der das zu behaupten wagt.«

Byron lächelte. Wie wohl tat ihm der Zorn dieses Mannes, wie wohl und wie gut!

»Einer muß es ja wohl zuerst einmal behaupten,« sagte er leichthin.

Byron lächelte noch immer. Es war ihm, als habe er dem Manne dort einen Fetzen aus dem Glück seiner Ehe herausgerissen, dieser Ehe, die, wie er wohl wußte, vor allem dem reichen Erbe seiner Geliebten gegolten hatte.

»Stiefel aus der Zeit Karls I. sind auch ganz schön alt,« besänftigte er arglistig.

»Der Teufel hole Ihren Karl I.!« wetterte Herr John und sein rotes Gesicht wurde purpurn.

»Ich –«

Da öffnete sich leise die Tür und Mary Chaworth trat herein. Eine jähe Gewalt riß Byron aus dem Stuhl empor und warf ihn wieder zurück in den Sessel, daß sein Kopf hart anschlug gegen die hohe geschnitzte Rückenlehne. Doch es war nicht die Macht der Erinnerung, die ihn durchrüttelte. Schmerz war es, Staunen, Trauer und wehe Verwunderung. Die dort durch die niedrige Tür hereintrat in dem weißen, niederfließenden Seidengewande, das war nicht seine Mary Chaworth. Das war nicht die Heilige seines Leides und seiner Liebe. Wohl war die Frau dort hoch und schlank wie die Mary seiner jungen Glückstage. Ja, höher und schlanker schien sie ihm. Wohl lag noch das blonde Haar in weichen Strähnen um die Schläfen. Doch ihre Frische und Fröhlichkeit war welk und tot. Das Sprühen der Wangen war erloschen, das Feuer des Übermutes in den Augen verlodert, das Leuchten der Haare verblichen. Eine müde Frau kam dort herein mit vergrämten, schmalen Wangen und tränenstumpfen Augen. Sie kam auf ihn zu und bot ihm die Hand. Nein, es war nicht mehr ihre kleine sportfeste energische Hand. Leidensweiße kraftlose Finger waren es, die er fühlte. Jetzt sprach sie. Wohin hatte sich das Klingen ihrer Stimme verloren, dem er verzückt einst gelauscht hatte? Klanglos und ohne Schmelz sagte sie: »Guten Tag, Lord Byron.«

»Guten Tag, Mrs. Chaworth,« entgegnete er und hörte, wie seine eigene Stimme blechern ächzte. Dann saßen sie beide wortlos, und Herr Musters stampfte in der Stube auf und nieder und polterte: »Du, Mary, denk' dir bloß, Byron behauptet, unsere Stiefel wären nicht echt.«

Mary nickte wehmütig: »Vielleicht sind sie es nicht.«

»Was?« Herr John fuhr zu ihr herum, »nicht echt? Du hast doch immer geschworen, du wärest von ihrer Echtheit überzeugt.«

»Ja,« sagte sie leise, »das war ich auch – früher einmal.«

Das überstieg Herrn Musters Begreifen. Mit den krummen Beinen des leidenschaftlichen Reiters stelzte er auf und nieder und schüttelte das Haupt mit der bleichen Stirn über dem wetterroten Gesicht. Die beiden anderen schwiegen und blickten aneinander vorbei. Endlich setzte sich der Hausherr. Auch er schwieg verärgert. Unter der niedrigen getäfelten Decke schwang eine schwere Stille, die immer hohler und bedrückender wurde. Selbst Herr Musters empfand sie und suchte nach einem Unterhaltungsstoff. Doch da ihm, wie häufig, nichts einfiel, zog er die Uhr, blickte lange darauf nieder und brummte endlich:

»Es ist spät genug, wir könnten wirklich essen.«

Hastig erhob sich Mary und eilte hinaus.

Es war wie eine Flucht.

Kaum hatte die Tür sich hinter ihr geschlossen, da rückte Herr Musters einen Stuhl vertraulich an den Gast heran. Sein Grimm war, wie bei allen jähzornigen Menschen, schnell verflogen. Er schlug dem jungen Herrn burschikos auf das Knie und sagte:

»Wissen Sie auch, daß ich mal so dumm war, auf Sie eifersüchtig zu sein!«

Byron schwieg.

»Das ist nun lange vorbei.« Er machte eine breite fortwerfende Bewegung mit der sonnenverbrannten Hand. »Lange. War auch 'ne Dummheit, denn Sie waren ja damals nur ein Schuljunge, und es war ja wohl nur die erste Poussage, die man so in dem grünen Alter hat. Sie werden die Geschichte längst vergessen haben über all den –« er schnalzte begehrlich, »den hübschen Hühnchen in London. Wie?«

Byron biß die Zähne zusammen, daß die Backenknochen heraustraten, und schwieg.

Da meldete der Diener, daß Mrs. Chaworth zu Tisch bitte.

Es war zuerst nicht sonderlich gemütlich, dieses Mahl in dem düsteren Saal des alten Herrenhauses. Mary sprach kein Wort und hob den Blick kaum von ihrem Teller. Die Stimmung wurde auch dadurch nicht erträglicher, daß der Gast fast alle Gerichte unberührt vorübergehen ließ, mit der Entschuldigung, daß seine Diät nur Gemüse gestatte. Er saß und betrachtete heimlich die Gramlinie, die sich um das Kinn der Geliebten grub, und kämpfte mit dem Verlangen, den Mann dort zu erwürgen, der es sich in breiter Behaglichkeit trefflich munden ließ.

»Daher sind Sie so dünn geworden,« rief Musters, »weil Sie nichts essen. Habe mich gleich gewundert, als ich Sie sah, mein lieber Nachbar. Denn damals, als Schuljunge, waren Sie ein recht dicker Kerl. Wir haben noch alle oft darüber gelacht, nicht wahr, Mary?«

Mary blickte auf den Teller und sagte nichts. Und wieder war eine Pause ohne Worte, in die nur der gedämpfte Schritt des servierenden Dieners überlaut hineinpochte.

Endlich aber kam die Unterhaltung in Gang. Herr Musters war auf das einzige Gebiet, dem er Teilnahme abgewann, die Fuchsjagd, übergesprungen und erzählte mit wichtigen Worten, daß er vor kurzem an einer Hatz als Gast des Prinzen von Wales teilgenommen habe.

»Ein fideler Herr,« lobte er, »dieser erste Gentleman von Europa.«

»Ich halte ihn für den ersten Schurken von Europa,« erwiderte Byron trocken.

Herrn Musters Messer und Gabel klirrten verblüfft auf den Teller. »Wie?«

Byron nickte, sein Verdikt erhärtend.

Der Hausherr lehnte sich in den Stuhl zurück.

»Wissen Sie, daß Sie von Englands künftigem König sprechen?!«

»Ja,« versicherte Byron.

Mary rührte sich nicht.

»Sie haben –« stammelte Herr John – »Sie haben etwas – seltsame Ansichten, mein lieber Nachbar. Das Volk kennt den Kronprinzen nicht und tut ihm bitter unrecht. Er ist ein sehr jovialer Herr und trotz seiner Beleibtheit ein vorzüglicher Fuchsjäger.«

Byron vermochte ein leises Lächeln der Ironie nicht zu unterdrücken. »Das mag er sein,« gestand er zu, »aber Tatsache ist, daß er während der Krankheit seines Vaters das Gesindel, das seinen Umgang bildet, damit unterhielt, die Mienen und Handlungen seines irrsinnigen Vaters vor ihnen nachzuäffen.«

»Pfui«, flüsterte Mary.

»Das ist Getratsch«, murrte Wusters.

»So?« rief Byron heftig. »Jeder Einsichtige in England kennt den Umgang dieses wackeren Prinzen. Das sind französische Tänzer, Hofnarren, Jokeis, Kuppler, Modeschneider und Boxmeister. Mit diesen Leuten verpraßt er die Zeit, die seine Mätressen und seine Trinkgelage ihm lassen. Ich bedaure das Land, dem dieser Mann einmal König sein wird, und ich bedaure das Weib, dem dieser König Mann ist.«

Er schwieg und griff nach dem Wasserglas.

»Na, na,« beschwichtigte Musters und wischte die Bratensauce vom Munde, » die Dame ist wahrhaftig auch die Richtige.«

»Es mag sein,« gab Byron zu, »daß die Kronprinzessin Karoline sich in letzter Zeit nicht immer ohne Tadel geführt hat. Ich finde es aber begreiflich, daß eine unglückliche junge Frau nach Liebe dürstet und sie von anderer Seite nimmt, wenn der eigene Mann –«

»Nein!« rief Mary jäh dazwischen. »Eine Frau sollte nicht dem schlechten Beispiel ihres Mannes folgen.«

»Da hören Sie es,« triumphierte Musters. »Da haben wir es gehört. Sie reden eben wie ein zwanzigjähriger Fant und wie ein Idealist. Sie machen ja wohl auch Verse, habe ich in Nottingham erfahren. Solche jungen Leute wollen da über Ehe reden. Was wissen Sie denn davon? Wenn der Mann nun wirklich mal über die Stränge schlägt, mein Gott, was ist denn da groß dabei?«

Er klopfte paschahaft mit seiner fleischigen Hand auf Marys weiße Finger, die auf dem Tische lagen wie welke Lilien. Sie ließ ihn gewähren, aber ihre Lider schlossen sich wie im Ekel. Byron sah es nicht, er sah nur die roten Hände, die diese geliebten weißen Finger betasteten, und eine Berserkerwut kochte wild in ihm auf. Er mußte den Kopf zur Seite wenden, er konnte den Anblick nicht ertragen, er konnte es nicht ertragen, daß dieser Mann diese Finger berühren durfte. Mühsam beherrschte er sich.

»Sie liebt ihn doch!« schrie es ungebärdig in ihm, »er darf sie anfassen. Dieser plumpe Mensch darf sie anfassen mit seinen häßlichen Händen.« Er biß die Zähne zusammen, daß sie knirschten, und saß steif in seinem Stuhle. Doch als Musters ihn jetzt nach seiner politischen Überzeugung fragte, gelang es ihm, seine Stimme so weit zu bändigen, daß er ruhig antworten konnte:

»Ich bin Whig.«

»Was!« rief Musters, ohne sich Zeit zu lassen, das Stück Käse, das er im Munde hatte, hinunterzuschlucken. »Sie sind liberal?«

»Ja,« behauptete Byron trotzig, »so liberal, wie ein Mensch überhaupt nur sein kann.«

Jetzt hatte Herr Musters es satt. Er ballte die Serviette zusammen, warf sie auf den Tisch und sagte ungeniert seine Meinung heraus: »Das ist ja eine nette Überraschung, mein lieber Herr Nachbar. Sie sind der seltsamste Lord, den ich je gesehen habe. Ich habe mir gedacht, wir würden gute Freunde werden. Man hat nicht gerade zu viele hier draußen auf dem Lande. Ich habe mir gedacht, wir würden zusammen jagen. Ich erinnere mich, daß Sie ein vorzüglicher Reiter sind, trotz Ihres lahmen Beines. Ich habe mich ehrlich gefreut, wie ich gehört habe, Sie sind nach Newstead gezogen. Man hat hier nicht allzuviel Menschen, mit denen man verkehren kann. Und deshalb haben wir Sie auch eingeladen, obwohl meine Frau dagegen war. Laß nur, Mary,« beschwichtigte er, als sie starr aufblickte, »laß nur, du weißt, ich bin für Offenheit. Der Herr Nachbar wird mir das nicht übelnehmen. Ich bin ein Landmann und rede, wie mir ums Herze ist, Ich mache keine langen Flausen. Also, meine Frau war nicht sehr dafür, Sie zu uns zu bitten, sie sieht Menschen überhaupt nicht gern. Aber ich habe es durchgesetzt. Doch ich fürchte, zwischen uns wird nicht viel werden: wir sind zu verschieden. Erst schimpfen Sie auf den Kronprinzen, dann sind Sie liberal, und meine Stiefel haben Sie mir auch angetastet. Ich glaube, daraus wird nichts.«

Byron erwiderte kein Wort. Er hatte aus allem nur herausgehört, daß nicht sie ihn gerufen hatte. Seit gestern hatte er im tiefsten Grunde seines Bewußtseins vor Freude darüber gebebt, daß sie ihn zu sehen wünschte. Ganz dunkel ward es um ihn her. Er wußte jetzt, sie hatte ihn längst vergessen. Sie war in dieser Ehe mit diesem Mann zufrieden und glücklich geworden. Irgendein letzter Glanz an ihr war plötzlich erloschen. Es erschien ihm ein Fleck an ihrer Reinheit, daß dieser Mann dort ihr genügte. Er saß und kämpfte verzweifelt mit den aufsteigenden Tränen zermalmender Enttäuschung. Da riß Musters' Stimme ihn aus der Erstarrung. Er war aufgestanden, schlug ihm derb vertraulich auf die Schulter und rief: »Nanu, Mann, Sie nehmen mir meine Aufrichtigkeit doch nicht etwa übel?«

»Nein,« stammelte Byron, »nein, nein.«

Damit war die Tafel aufgehoben. Sie standen wieder in dem altertümlichen kleinen Zimmer, und der Hausherr bot dem Gaste eine Pfeife an. Byron dankte. Während Herr Musters seinen Tabak in Brand setzte, sagte er paffend: »Ich pflege nach Tisch immer ein bißchen zu reiten, wegen dem hier« – er schlug sich mit der Zunderbüchse auf den Magen –. »Werden Sie auch noch tun. Warten Sie nur, Sie Neunmalweiser. Wollen Sie mich begleiten oder bleiben Sie hier bei meiner Frau?«

»Nach deinen Aufrichtigkeiten kannst du kaum erwarten, daß Seine Lordschaft dich begleitet,« lächelte Mary gezwungen, »ich werde versuchen, ihn zu unterhalten.«

Da war es plötzlich ganz hell um Byron geworden in der dämmrigen Stube.

»Schön,« nickte der Hausherr, »werde ich allein reiten. Entschuldigen Sie mich auf eine Stunde. Ich sehe Sie doch nachher noch?«

Er trat auf Mary zu und drückte ihr einen Kuß auf die Wange.

»Adieu, mein Schatz,« schmatzte er. »Unterhalte dich gut mit deinem alten Verehrer.«

Wieder schloß sie die Augen vor dieser ungewohnten Liebkosung, die nicht ihr, sondern der Rücksicht auf den Gast galt.

Byron hatte sich abgewandt.

Dann schritt Herr Musters hinaus, seine wuchtigen Reitstiefel knarrten.

Einige Sekunden standen sie verlegen voreinander.

Dann ging Mary zur Tür und sagte: »Kommen Sie in mein Zimmer.«

Sie schritt voran in ihr helles, blaues Gemach. Byron folgte. Sie setzte sich in einen bequemen Polsterstuhl, er stand und betrachtete ein Gemälde an der Wand.

»Das Bild ist kurz vor meiner Heirat gemalt worden,« gab sie Bescheid.

»Es ist nicht gut,« kritisierte er böse. »Gar nicht gut. Sie sehen darauf aus wie ein Knabe.«

Sie lehnte sich in die Polster zurück.

»Mir ist es,« sagte sie leise, »als wäre ich damals ein Junge gewesen, ein frischer, übermütiger Junge.«

Er schwieg und setzte sich ihr gegenüber. Ein Schweigen voller Erinnerungen raunte durch das Zimmer.

Sie brach es gewaltsam.

»Erzählen Sie mir, wie es Ihnen ergangen ist all diese Zeit über.«

Er blickte an ihr vorbei, und während sein ganzes Sein den Gedanken trank, daß er nun wieder ihr gegenübersitze, wie einst, erzählte er mechanisch: »Ich bin nach Harrow zurückgegangen und bin dort ebenso einsam geblieben wie vorher. Man hat mich dort nicht geliebt und mir sehr nahe gelegt, die Schule zu verlassen. Dann bin ich zur Universität nach Cambridge gegangen.«

»Nach Cambridge?« staunte sie, »Sie sagten doch damals immer, Sie wollten später nach Oxford gehen.«

»Ich wollte,« nickte er. »Aber das ist die Eigentümlichkeit meines Lebens, daß alles immer anders kommt, als ich es wollte.«

Erst an der Stille, die diesen Worten nachhallte, empfand er, daß er mehr verraten hatte, als er hatte verraten wollen. Und rasch fügte er hinzu: »Es war damals kein passendes Zimmer in Oxford für mich frei, auch wollte mein Vormund durchaus, daß ich nach Cambridge ginge. Ich habe mich gefügt. Aber glücklich habe ich mich dort nicht einen Tag gefühlt. Ich habe gute Freunde gewonnen. Ja, einige wenige. Aber meinem Geist hat die Universität nichts gegeben. Ich bin nur zwei Semester dort geblieben und dann nach London gegangen und dann nach Newstead gekommen und werde im kommenden Sommer nur auf kurze Zeit nach Cambridge zurückkehren, um meinen M. A. Master of Arts = Magister der freien Künste zu machen. Ich lege keinen Wert auf dieses Examen, aber meine Mutter will es und mein Vormund.«

Er schwieg und sann vor sich hin. Dann fuhr er fort: »Nein, Cambridge war kein Asyl für mich. Der Verstand der Kinder dieser alma mater ist sumpfig wie das Flüßchen Cam, an dem sie liegt. Und ihre Bestrebungen sind allein auf die Kirche beschränkt. Nicht auf die Christi, sondern auf die nächste fette Pfründe.«

Er machte wieder eine Pause. Sie blickte vor sich nieder auf den weißen Teppich. Plötzlich tat es ihm so wohl, vor dieser schweigenden Frau von sich zu reden.

»Von meiner Lektüre,« plauderte er fort, »darf ich wohl ohne Übertreibung sagen, daß sie in geschichtlicher Richtung ziemlich ausgedehnt ist. Ja, mit den Überlieferungen der meisten Völker von Herodot bis Gibbon bin ich wohl so ziemlich vertraut. Von der Klassikern weiß ich so viel wie die meisten Schuljungen nach dreizehnjähriger Quälerei. Von den Gesetzen des Landes soviel, um mich keiner Strafe auszusetzen. Das Völkerrecht habe ich so ziemlich studiert. Da ich dieses aber allmonatlich übertreten sah, gab ich meine Attentate auf ein so nutzloses Wissen auf. In der Geographie habe ich mehr Länder auf der Landkarte gesehen, als ich je zu Fuß durchschreiten möchte. Von der Mathematik habe ich gerade genug gelernt, um Kopfschmerzen zu bekommen, ohne aber meine Begriffe dadurch wesentlich zu klären. Von der Philosophie, der Astronomie und Metaphysik kenne ich mehr, als ich je verstehen werde, und von dem gesunden Menschenverstand so wenig, daß ich jeder unserer Hochschulen einen Byronpreis zu stiften gedenke für die erste Entdeckung auf diesem Gebiete. Ich hatte auch eine Zeit, in der ich mich für einen Philosophen hielt und mit großer Würde großen Unsinn schwatzte. Ich verachtete den Schmerz und predigte Gleichmut. Eine Zeitlang ging es damit ganz hübsch, denn ich tat niemandem etwas zuleide als meinen Freunden und brachte keinen zur Verzweiflung außer meine Zuhörer. In der Moral ziehe ich Konfuzius den zehn Geboten vor, ebenso Sokrates dem Apostel Paulus. Von unserer Hochkirche halte ich nicht viel. Auch habe ich mich geweigert, das Abendmahl zu nehmen, weil ich nicht glaube, daß Brot essen und Wein trinken aus der Hand eines sterblichen Priesters mich zum Erben des Himmels machen kann. Ich glaube, daß die Wahrheit das erste Attribut der Gottheit ist und der Tod ein ewiger Schlaf. So, da haben Sie ein Brevier der Gesinnungen des schlimmen Lord George Gordon Byron.«

Nach einer kleinen Weile sagte sie traurig: »Wie haben Sie sich verändert! Welch böser Ton ist das!«

»Ja,« suchte er zu lächeln, »man ist nicht mehr der Junge von Fünfzehn. Dann habe ich auch Gedichte gemacht, die böse verrissen worden sind.«

»Ja,« rief sie eifrig, »davon habe ich vorhin zum ersten Male gehört. Ich weiß kaum etwas von der Welt, lebe hier in meinem Hause und meinem Park und komme kaum jemals hinaus. Das ist nun meine ganze Welt geworden.« Sie lächelte weh. »Die Gedichte des schlimmen Lord George Gordon Byron sind nicht in diese Kirchhofsstille geflattert. Die müssen Sie mir bringen.«

»Gern,« willigte er ein, mit einem Anflug von Dichtereitelkeit. »Ich werde sie Ihnen bringen, wenn ich darf.«

»Ja, bitte.« sagte sie.

Dann kam wieder ein Schweigen. Endlich bat er:

»Singen Sie mir eins Ihrer Lieder.«

Fügsam erhob sie sich, setzte sich an das zartgelbe Spinett und sang die alte Ballade von »Mary Ann.«

Er beugte das Haupt. Tränen schossen ihm brennend in die Augen. Das war ihre süße Stimme von ehemals. Nein, nicht von ehemals. Die Würze und der Schmelz fehlte und das junge Glühen. Doch er hörte es nicht. Er hörte nur die Stimme seiner jungen Liebe. Er hatte die bittere Zeit vergessen, die zwischen heut und damals lag, die Zwischenzeit war versunken, war nie gewesen mit ihrem Leid und ihrer verzweifelten Sehnsucht. Er sah und lauschte und bebte in Verzückung wie einst, wie einst. Alles war wieder wie ehedem. Er saß in demselben Stuhle in ihrer hellen blauen Stube. Dort war das Fenster mit den graziösen bunten Gardinen, dort lag der Blumengarten, ihre Sorge und ihre Pflege, mit seinen gelben Kieswegen und bunten Beeten, dort schimmerte die Steinbalustrade mit ihren zierlich gemeißelten Urnen, dort führten die Steinstufen hinab in den Park mit seinen im französischen Stil verschnittenen Bäumen. Und er blickte wieder hinaus auf die Blumen und das dunkle Grün wie ehemals. Dort ragte das alte Spinett mit seinem gelben Kasten hinauf an der Wand und gemahnte mit seinem bleichen Ton an den Sang der Grillen am Abend. Und dort saß sie und sang die alte Ballade von »Mary Ann«, wie einst, wie einst. Er lauschte mit tiefgebeugter Stirn und lebte den Traum.

Da schwieg sie. Er blickte auf und erwachte. Nein, es war nicht wie einst. Sie war die Frau eines plumpen Menschen, der ihre Hände berühren und sie mit seinen wulstigen Lippen küssen durfte. Nein, es war nichts mehr wie einst. Stumm kauerte er in seinem Stuhle. Mit müdem Lächeln saß sie, die Hände bleich auf den nachhallenden Tasten und schwieg. Dann sagte sie: »Das sind alte Klänge.«

Er rührte sich nicht. Sie erhob sich, ihr Seidenkleid knisterte, sie trat zum Fenster. Und plötzlich hörte er sie leise weinen. Er sprang empor, wollte etwas sagen, wollte – er wußte nicht, was er wollte. Da wandte sie sich um, preßte das Tuch an die Augen und lächelte mühsam: »Ich bin töricht. Ich bin nicht ganz wohl.«

»Ich werde gehen,« sagte er.

Da klopfte es. Die Bonne trat herein, ein hübsches, pausbäckiges Kind auf dem Arm. Rasch trat die Mutter auf die Wärterin zu, nahm die Kleine und drückte sie an die Brust. Es war, als suche sie bei ihrem Kinde Schutz. »Meine kleine Ann,« lächelte sie mit feuchten Augen.

Ann blickte Byron mit den großen braunen Augen der Mutter an, streckte ihm die Ärmchen entgegen und jauchzte: »Papi, Papi.«

Da küßte er das Kind auf die runden Fingerchen. Als er den Kopf hob, glitzerte es silbern in seinen Augen.

»Ich werde gehen,« wiederholte er.

Sie gab ihm wortlos die Hand. Er ging hinaus. Der Diener führte das Pferd vor. Sie stand am Fenster ihrer blauen Stube. Er schwang sich in den Sattel, ritt auf das Torhaus zu, wandte sich noch einmal zurück und hob grüßend die Mütze. Dann gab er dem Tiere die Sporen.

Sie blickte ihm lange nach, an das Fensterkreuz gelehnt. Dann trat sie zurück in das Zimmer, setzte sich an das Spinett und spielte leise die Melodie der Ballade. Ganz leise. Und sie dachte daran, wie jung und übermütig sie damals gewesen war, als sie mit dem verliebten Schulknaben hier in diesem Zimmer gespielt hatte. So jung und so übermütig! Und wie dann der Mann gekommen war, der ihr das Urbild der Ritterlichkeit erschien, als er hinter der Meute sprengte. Und wie seine Roheit sie dann zerbrochen hatte, und die Unverfrorenheit, mit der er sie mit den armseligen Dirnen von Nottingham erniedrigte. Ganz zag spielte sie die Melodie der alten Ballade, und die Tränen tropften leise nieder auf die Tasten des alten Spinetts.

Als der junge Lord in den Hof von Newstead sprengte, scheuchte er die Dienerschaft auf, die in der Dienstbotenhalle behaglich beim Abendmahl saß. Brummend trottete der alte Joe hinaus, dem Herrn aus dem Sattel zu helfen. Rush, die Dogge, und Boatswain, der zottige Neufundländer, sprangen liebkosend an dem langentbehrten Gebieter empor. Byron schüttelte die Tiere unwillig ab, durchschritt die Halle und eilte hinauf in das Schlafzimmer, den Dandyanzug mit dem Hausrock zu tauschen. Schüchtern und niedergeschlagen trotteten die Hunde hinter ihm drein.

Während er sich umzog, überschattete eine Wolke den reinen Abendhimmel, Byron trat zum Fenster und blickte hinaus. Er wußte, es waren seine Ansiedler, die Krähen, die von ihrem Tagesraubzuge heimkehrten. Er stand am Fenster und beobachtete die Wolke, die sich in Zickzackschwenkungen näherte, und düstere Gedanken schwammen in seinem Gemüte. Der schwarze Schwarm kreiste eine Weile mit unschlüssigem Krächzen und Schreien über Newstead, schwang sich mit jeder Runde tiefer zur Erde herab und ließ sich endlich mit Gemurr und Gesurr auf den Bäumen des dunklen Haines nieder. Die Dunkelheit fiel, die Stille wuchs, nur hier und da flatterte noch ein schläfriger Flügelschlag – dann schlief die schwarze Bande von des Tages Arbeit ermüdet ein.

Byron schritt, getreulich von seinen Hunden gefolgt, in das Arbeitszimmer. Auf dem Tisch brannten zwei Kerzen. Er setzte sich in den Schreibsessel und starrte hinüber zu den beiden Totenschädeln, die in dem flackernden Lichte grausig grinsten. Er sah und dachte wieder an die Zwecklosigkeit seines Lebens und die Nutzlosigkeit alles Mühens und spann die alten Zweifel über das Sein eines Gottes, die ihn verfolgten seit seinen Schultagen. Dann summten seine Gedanken hinüber zu den Ereignissen des Nachmittags. Und plötzlich sah er Mary vor sich mit ihrem bleichen schmalen Gesicht und den schmerzensstumpfen Augen.

»Sie ist nicht glücklich geworden,« schrie es in ihm, und es war wie ein Triumph und eine Versöhnung. »Sie ist nicht glücklich geworden und kann mit dem plumpen Gesellen nicht glücklich geworden sein.«

Das Licht flackerte, die Totenschädel grinsten.

»Aber er streichelt ihre Hand und küßt ihre Wangen!« grübelte er.

Da sah er plötzlich ihr Gesicht, wie es aufgeleuchtet hatte in Mutterglück, als sie das Kind an die Brust preßte, das wohl ihre Augen hatte, doch unverkennbar die Züge des Vaters trug. Er schlug mit den Fäusten auf die Tischplatte.

»Sie liebt ihn doch,« knirschte er. »Sie liebt ihn doch! Sie hat ihn ja auch damals geliebt, diesen banalen Fuchsjäger, den sie mir vorgezogen hat.«

Er verbiß sich in einen wütenden Haß.

»Was ist an diesem Weib,« höhnte er in sich hinein, »wenn sie dieses hohle Faß, diese aufgedunsene Null liebt? Was kann an einer solchen Frau sein!«

Er sprang auf und hinkte durch das Zimmer.

»Ich liebe sie nicht mehr« – er ballte die Fäuste – »ich liebe sie nicht mehr. Sie ist ein Weibchen. Ich liebe sie nicht mehr.«

Er setzte sich auf einen Sessel. Boatswain schlurfte leise heran, legte das mächtige Haupt mit den großen, guten, verständigen Augen auf seine Knie und sah treuergeben zu ihm auf. Da beugte Byron sich zu ihm nieder und flüsterte dem Hunde zu: »Ich liebe sie doch, Boatswain, ich liebe sie doch, trotz allem, trotz allem!«

So saß er lange zu dem Hunde niedergebeugt, während die Dogge Rush eifersüchtig knurrte. Die Lichter flackerten, die Totenschädel grinsten, und eine tiefe Stille atmete durch das halbdunkle Zimmer.

Da begann die Schöpferkraft in dem Manne zu sieden. Es brodelte in ihm und schäumte auf, sanft schob er den Kopf des Neufundländers zur Seite, ging hinüber zum Schreibtisch und ließ die Verse hinausströmen, die ungewollt hervordrängten.

»An Mary.«

»Ja, du bist glücklich, und ich weiß,
Nun sollt' auch ich mich glücklich fühlen;
Die Glut in dieser Brust, die heiß
Dein Wohl ersehnt, will nicht verkühlen.

Gesegnet ist dein Mann. – Vergib!
Nicht ohne Schmerz kann ich das fassen.
Laß mich –. Ach, hätt' er dich nicht lieb.
Wie würde dieses Herz ihn hassen!

Jüngst, als dein kleines Kind ich sah,
Da blutete mein Herz im Stillen.
Es aber lächelte, und da
Küßt' ich das Kind um deinetwillen.

Ich wähnte Zeit, ich wähnte Stolz
Erstickten längst die Glut des Knaben,
Bis ich dich sah. Der Trotz zerbrach.
Und nur die Hoffnung war begraben.

Du sahst mir forschend ins Gesicht.
Nichts von Verwirrung fandest du,
Das Einz'ge, das daraus noch spricht,
Ist der Verzweiflung dumpfe Ruh'.

Entflieh, du alter Traum, entflieh!
Führ' mich zu Lethes dunklen Bächen!
Erinnerung, erwache nie –!
Sei still, mein Herz –, sonst mußt du brechen!« –

Bis tief in die Nacht saß er über das Papier gebeugt, die Lichter flackerten, die Totenschädel grinsten, und die schlafenden Hunde knurrten sacht im Traume. In der Dienstbotenhalle erzählte die stattliche Nanny Smith der jungen Magd Lucy Garlett die alten gruseligen Geschichten des alten Schlosses. Am Kamin in seinem Lehnstuhl saß indessen Herr Joe Murray, schmauchte seine Tonpfeife und blickte erinnerungsumfangen in die rotglühenden Holzscheite. Ab und zu, wenn seine Gedanken allzuweit in seine Jugend zurückstreiften, summte er ein flottes Liedchen aus der galanten Zeit zu Ausgang des 18. Jahrhunderts.

»Ja, sie kamen jede Woche in Pall Mall zusammen, die Herren des Nottinghamer Grafschaftsklubs im Stern- und Strumpfbandhotel,« erzählte wichtig Nanny Smith. »Da saßen sie nun alle um den Tisch und sprachen, wie die Herren so sprechen. Sie kamen auch auf den Wildstand zu reden. Da meinte Lord Byron, nämlich der alte Lord Byron, der Großonkel von unserem jetzigen Herrn, den sie den »bösen Lord« nannten, man müßte gegen die Wilddiebe vorgehen, meinte er. Herr Chaworth aber, was der Großonkel von der jetzigen Mrs. Chaworth war, wo der Herr heute eingeladen gewesen ist, die er übrigens mal geliebt hat –«

»Ach nein!« rief Lucy.

»Doch, doch,« bestätigte Nanny. »Aber das ist eine andere Geschichte, und die erzähl' ich Ihnen ein anderes Mal.«

Hier sang Herr Joe zwischen den Zähnen, die die Pfeife hielten, vor sich hin:

»Ich ging einst singend übers Feld
Im sonnenhellen Maien.
Da kam des Wegs im roten Kleid
Die liebe kleine Kathrein.« –

»Herr Chaworth sagte nun, man müsse gegen die Wilddiebe mild sein, denn durch Strenge mache man sie nur gefährlicher. Der »böse Lord« aber schalt, man müsse sie vernichten wie Ungeziefer. Es gab einen heftigen Streit, den die anderen Herren aber schließlich schlichteten.«

Murray blies dicke Schwaden aus seiner Pfeife und summte:

»Die Erde duftete warm und schwer,
Im hellen Sonnenschein,
Doch süßer duftete die Maid,
Die süße Maid Kathrein.« –

Nanny Smith horchte einen Augenblick hinüber, rief ein mißbilligendes »Aber Herr Joe!« – denn sie kannte das unmoralische Ende dieser Lieder sehr genau und duldete dergleichen nicht in ihrer sittsamen Gegenwart – und erzählte weiter:

»Nach einer ganzen Weile, nachdem der Streit längst vergessen war und sie alle tüchtig gegessen und getrunken hatten, ging Herr Chaworth zufällig aus dem Zimmer hinaus. Vorsichtig, ohne daß die anderen es merkten, folgte ihm der »böse Lord« auf den Korridor, öffnete dort ein Zimmer, das nur von einem Lichtstumpf matt erleuchtet war, bat Herrn Chaworth einzutreten, der es auch, nicht Böses ahnend, tat, verriegelte dann hinter sich die Tür, riß plötzlich den Degen aus der Scheide und forderte Herrn Chaworth auf, sich zu verteidigen.«

Joe summte:

»Wir blieben voreinander stehn,
Sie war wie Milch und Blut;
Ich habe ihr ins Aug' gesehn,
O, sie verstand mich gut!«

Ein gebietender Blick traf den Sänger. An diesem kritischen Punkte wollte Frau Nanny dem Gesang einen Damm bauen, doch die hübsche Lucy drängte:

»Weiter, weiter, was wurde in dem Zimmer mit dem Lichtstumpf?«

»Nun, sie kämpften. Wenigstens behauptete das später der »böse Lord«. Tatsache ist. daß er dem armen Herrn Chaworth den Degen durch die Gedärme rannte.«

Joe summte:

»Sie lag fein warm an meiner Brust, –
Die Erde duftete süß.
Da führte ich Kathrein, die Maid,
Die Maid ins Paradies.«

» O, shoking!« rief da Nanny Smith. »Schämen Sie sich nicht, Sie alter Sünder, solche Lieder vor diesem Kinde hier zu singen, wenn Sie schon auf meine Gefühle keine Rücksicht nehmen?«

»Na, na.« blinzelte der Alte und wackelte mit dem Zopf, »es ist doch ein ganz schönes Lied, was, Fräulein Lucy?«

Die kleine Lucy lächelte ein bißchen verschämt und ein bißchen lüstern und schwieg, denn sie war viel zu klug, um es mit einem der beiden Gebieter der Küche zu verderben.

»Erzählen Sie weiter, Mrs. Nanny,« bat sie diplomatisch, »Sie erzählen so furchtbar spannend.«

Nanny berichtete, wie sie den »bösen Lord« in den Tower geworfen und wegen Mordes angeklagt hatten. Und wie ihn das Pairsgericht schuldig, nicht des Mordes, sondern des Totschlags befunden habe, daß ihm aber nichts habe geschehen können, da er als Peer von England unverletzlich gewesen sei. »Einen anderen,« bedauerte sie, »hätten sie gehängt und gevierteilt.«

»Ja,« stimmte Joe in der Absicht bei, Frau Nanny zu besänftigen, »das ist so bei den Lords. Die stehen so hoch, daß der Galgen keine Erhöhung mehr für sie bedeutet. Und nun gehe ich schlafen.« Er sammelte schwerfällig seine alten Glieder aus dem Lehnstuhl zusammen.

»Schon?« fragte Lucy. Sie fürchtete, trotz der Müdigkeit ihrer Jugend die lange Nacht. Denn es spukte in diesem Hause, wie es in jedem alten englischen Herrenhause spukt. Nein, schlimmer. In den dunklen Nächten wurden alle diese toten Mönche, die unter den Steinplatten der Wandelhallen lagen, lebendig und huschten durch die düsteren Bogengänge. Auch wußte Nanny Smith, und selbst Joe hatte bedenklich den Kopf geschüttelt, daß der erste Besitzer von Newstead, »Herr John, der Kleine mit dem großen Barte«, nachts aus seinem Bilde herabstieg und Arm in Arm mit der schönen Dame mit der schwarzen Samtmaske durch die Zimmer stolzierte. Das alles wußte Lucy und fürchtete sich schrecklich in ihrem Zimmer, das einsam lag am Ende eines langen Ganges. Doch alles Bedauern über diesen zeitigen Aufbruch half ihr wenig. Nanny und Joe nahmen jeder ihr Licht, sagte »Gute Nacht« und schritten ihren Schlafstätten zu. Da blieb auch der hübschen Lucy nichts übrig, als das gleiche zu tun. Sie schlich langsam durch die unheimlichen Gänge, so gern sie auch ihre Röcke zusammengerafft hätte und gelaufen wäre, so schnell sie konnte. Doch sie fürchtete, durch den Windzug das Licht zu verlöschen. Lange lag sie mit angstweiten Augen in ihrem Bette, und die alten Möbel knackten und der Nachtwind flüsterte in den Klüften der Ruine der Klosterkirche. Und da – da – ganz deutlich sah sie eine weiße Gestalt zum Fenster hereinsteigen. Da fuhr sie schreiend aus den Decken und floh im Hemd hinaus auf den Korridor. Sie wollte Nanny um einen Unterschlupf für die Nacht bitten. Sie huschte den dunklen Gang entlang, doch da kam ihr wieder eine schwarze Gestalt entgegen. Langsam kam sie auf sie zu. Zähneklappernd preßte die kleine Lucy sich in eine Nische, doch die Gestalt kam immer näher, immer näher und stand jetzt vor ihr.

»Was treiben Sie denn hier?« fragte Byron.

Er hatte nach seiner Gewohnheit seinen Schmerz und sein Leid durch die einsamen, nächtlich gruseligen Räume des Hauses geschleppt. Jetzt erkannte Lucy den Herrn. Er stand vor ihr und betrachtete mit seltsamen Blicken ihre nackten Schultern und das aufgelöste weiche schwarze Haar.

»Ich hatte solche Angst,« stammelte sie, »in meinem Zimmer ist ein Gespenst.«

Da lachte der junge Lord, daß die niedrigen Bogen grell und grausig widerhallten.

Plötzlich fühlte Lucy sich emporgehoben und davongetragen.–

In dieser Nacht hat sie sich nicht mehr vor Gespenstern gefürchtet.


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