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Voltaires Krönung

Il est mort d'un excès de gloire, qui a trop
secouè sa Faible machine
(Er ist an einem Übermaß
des Ruhms gestorben, das seinen schwachen Körper

Die Marquise du Dessand.

1.

Am 10. Februar 1778, einem Dienstag, hielt gegen vier Uhr abends eine Reisekalesche an der nach Fontainebleau genannten Barriere von Paris. Die Zöllner traten zur Visitation heran. Der Insasse des Wagens war eine Dame von vierzig Jahren und von 150-160 Pfund Korpulenz, ein ziemlich gewichtiges Nichteanhängsel eines berühmten Oheims und Literaturmenschen und wohlbekannt als Madame Denis. Sie nahm mit ihrem Mantel-, Pelz- und Muffzeug so viel Raum ein, daß man ihren besagten berühmten und skeletthageren Oheim in einem Winkel der Kalesche anfänglich gar nicht wahrnahm. Als er sich aber vorbeugte, um den Herren von der Maut seinen Reisepaß darzureichen, fuhren sie einigermaßen verblüfft zurück, und das machte sowohl der Paß als dessen Inhaber.

Der letztere war augenscheinlich ein sehr alter Herr, dessen mumisiertes Gesicht eine überzeugende Illustration zu der Annahme, der biblische Adam sei eigentlich Pavian oder, höflicher zu reden, Gorilla geheißen, abgegeben hätte, wenn nicht die gewaltige, weit und raubvogelschnabelscharf hervorspringende Nase gewesen wäre. Der Kleiderschnitt des alten Herrn war um etwa fünfzig Jahre hinter 1778 zurück. Er trug einen rostfarbenen Sammetrock, wie ihn die Hofherren in der letzten Zeit Ludwigs XIV. angehabt hatten, darüber einen Pelzmantel und an den Füßen Pelzstiefel von der Form, die man später Suwarowstiefel nannte. Sein Kopf war förmlich eingekapuzinert von einer langen und dicken Wollperücke, auf die er eine rote Mütze gesetzt hatte. Aber aus der dunklen Höhlung des Perückengehäuses hervor karfunkelte blitzend ein Augenpaar, in dem das Alter die Flamme des »Esprit« nicht auszulöschen vermocht hatte.

Die Herren von der Maut hatten sich, als die altfränkische Perücke mit ihrem abenteuerlichen Aufsatz in der Öffnung des Wagenschlags erschien, zuerst offenbar stark versucht gefühlt, laut aufzulachen. Aber das ging schnell vorüber, und als der alte Herr zu ihnen sagte: »Messieurs, ich habe keine Konterbande bei mir als mich selber –«, da lächelten sie freilich, aber vor Entzücken, daß der Gott des Witzes auch sie eines Sonnenstrahls seiner Gnade gewürdigt, und mit entblößten Köpfen und tiefgebogenen Rücken erwiderten sie: » Passez, Monsieur de Voltaire« …

Freu' dich, Paris, Babylon zugleich und Athen und Rom der modernen Zeit, der große Zerstörer, der eine Welt voll Unsinn zu Grabe gespottet hat, zieht als Triumphator in dich ein, um auf seinem Kapitol, auf der Bühne der » Comédie française«, gekrönt zu werden und dann – zu sterben. Ja, freu' dich, Paris, Hauptspektakelstadt des Erdkreises, freu' dich, du wirst ein neues Spektakel haben! Es ist überhaupt eine günstige Zeit für dich, und du hast kaum Augen genug, alle die Spektakel aufzufassen, welche phantasmagorisch in und an dir vorüberhuschen und von jetzt an ohne Aufhören sich drängen werden und sich steigern in weltgeschichtlicher Steigerung bis zu jenem 21. Januar 1793, wo um elf Uhr vormittags die Arme von Guillotins Tochter das Beil niederfallen lassen und ein Königskopf über die Bretter des Schafottes rollt.

Neun Monate, bevor der Patriarch von Ferney kam, um bei lebendigem Leibe seine Apotheose zu feiern, hatte ein anderes Phänomen die Augen- und Plauderlust der Pariser und Pariserinnen beschäftigt: ein gewisser Graf von Falkenstein, eigentlich des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation Kaiser, Joseph II., der im April 1777 in der französischen Hauptstadt eingetroffen und sechs Wochen dort geblieben war. Er hatte die Franzosen durch seine Einfachheit und Leutseligkeit entzückt, und Männlein und Weiblein waren so sehr von seinem Gebaren bezaubert, daß sogar das bissige Orakel der geistreichen Kreise, Madame la Marquise du Deffand, die aus einer jungen Bettschwester zwar keine alte Betschwester, doch aber eine alte blinde Redschwester geworden war, aus ihrem Lehnstuhl in der Kaminecke ihres Zimmers im Kloster Saint-Joseph in der Rue Dominique hervor brieflich an Horaz Walpole sich vernehmen ließ: » II est d'une familiarité dont on est charmé« (Er ist von einer entzückenden Vertraulichkeit) Zur gleichen Zeit war die Klatschbase und Allerweltskorrespondentin Du Deffand, welche in dem Gemälde der französischen Gesellschaft von damals eine ganz unentbehrliche Figur abgibt, auch von einem anderen Gat »scharmiert«, nämlich von dem englischen Historiker Gibbon. Die Vorstellung desselben im Salon der Dame war bekanntlich von einem hochkomischen Auftritt begleitet. Die Blinde hatte nämlich die Gewohnheit, zum erstenmal bei ihr eingeführten Personen mit der Hand über das Gesicht zu fahren, um sich eine Vorstellung von dem Aussehen und selbst von dem Charakter derselben zu bilden. Dieser Operation unterzog sich nun auch der berühmte Geschichtsschreiber, ein Mann von außerordentlicher Beleibtheit und einem fabelhaft breiten, gedunsenen und schwammigen Gesicht. » Au premier contact, madame du Deffand rougit, et se reculant vivement sur son fauteuil, s'écria avec indignation: ›Voilà une infâme plaisanterie.‹ Elle s'était figuré que Gibbon s'était présenté à rebours, et avait pris pour les joues de derrière, selon le périphrase allemande, ce qui était bien et dûment le visage de Gibbon« (Bei der ersten Berührung errötete Madame du Deffand, und sich lebhaft in ihren Sessel zurückwerfend, rief sie mit Unwillen aus: »Das ist ein gemeiner Scherz!« Sie glaubte, Gibbon habe sich ihr von hinten vorgestellt und hatte für Hinterbacken – nach dem deutschen Ausdruck – genommen, was in der Tat das Gesicht Gibbons war). Corresp. compl. de la marquise du Deffand (Paris 1865), I, CCX.. Der Pariser Tageswitz, der sich schon ganz revolutionär zuspitzte, benutzte die Gelegenheit, in Form eines Kompliments für den kaiserlichen Gast einen Pfeil mit vergifteter Spitze nach Versailles hinauszuschießen, indem er das einfache und doch würdevolle Auftreten Josephs der prunkvollen und pomphaften und doch würdelosen Haltung des französischen Hofes gegenüberstellte. Der Kaiser selbst sagte beim Anblick des sinnlosen Luxus, von welchem Versailles strotzte, während das französische Volk verhungerte, mit nicht unfeinem Tadel zu seiner leichtsinnigen Schwester Marie Antoinette: »Mein Gott, was für eine Masse von Sachen, deren wir in Wien gar nicht bedürfen!« Die Königin mißachtete freilich diesen Wink wie andere Warnungen ihres Bruders und gaukelte und tanzte und praßte lustig mit weiter auf dem unter ihren Füßen kochenden Vulkan. Sie hatte kein Ohr für die Stimmen der Zeit. Sonst hätte sie müssen stutzig werden beim Anhören der schicksalsvollen Kontraste, welche damals in den Straßen oder eigentlich vorerst in den Salons von Paris tagtäglich sich anschrien. Wunderbare Zeit, poetischer als die kühnsten Dichterträume, eine beispiellose Tragikomödie des humoristisch dichtenden Weltgeistes! Sieh dir, nüchternes Geschlecht unserer Epoche, um dir eine Vorstellung zu bilden von alledem, was damals in Paris durcheinanderwirbelte, nur mit an, wie eines Tages eine vornehme Dame den Kaiser Joseph mit einer exaltierten Darlegung ihrer Begeisterung für die amerikanischen Rebellen behelligte, wie sie frohlockend die Siege derselben über ihren legitimen Souverän aufzählte, den großen Bürger und Republikaner Washington bis zu den Sternen erhob und schließlich auf den Träger der Cäsarenkrone, auf den Erben von Habsburg-Lothringen eindrang mit der Frage: »Was halten Sie von der Sache? Mit welcher der beiden Parteien sympathisieren Sie?« Die Antwort des Kaisers: »Ich, Madame? Nun, ich denke, es gehört zu meinem Handwerk, ein Royalist zu sein« – frappierte nicht nur, sondern mißfiel auch, trotz ihrer Witzigkeit, mißfiel geradezu und höchlich. So republikanisiert war damals die Stimmung in den Kreisen französischer Grandseigneurs und Grandedames, welche ja einen Autor wie Raynal lobpriesen und beschützten, der unverhohlen ausgerufen hatte: »Völker, wollt ihr frei sein und glücklich, so zerstört alle Altäre und vernichtet alle Throne!« Ah, sie spielten und tändelten und kokettierten mit dem revolutionären Feuer, die geistreichen Herren und galanten Damen. Aber noch eine kleine Spanne Zeit und, in ein weltgerichtliches Flammenmeer verwandelt, wird es vernichtend über ihren Häuptern zusammenschlagen …

Wer uns genau sagen könnte, was der vierundachtzigjährige Triumphator fühlte und dachte, in der innersten Falte seiner Seele fühlte und dachte, als er sich in Paris wiederfand und es in Voltaireismus schwimmen sah! Vollends, wenn der unbestrittene Souverän der Epoche der Tage sich erinnerte, wo er in diesem Paris, das ihn jetzt als Halb- oder Ganzgott empfing, als simpler Mr. Arouet herumgegangen, dem unter vielen anderen Fatalitäten – nähere Bekanntschaft mit dem Innern der Bastille usw. – auch die zugestoßen war, daß ihm Monseigneur de Rohan, ein Schafskopf von Herzog, das Honorar für einen vortrefflichen Witz in Gestalt einer Tracht Prügel auszahlen ließ, bei welcher Gelegenheit sich übrigens Monsieur Arouet wie ein vollendeter Gentleman und der Herr Herzog wie ein vollendeter Lump benommen hatte. Kein Zweifel, der Alte von Ferney war noch so eitel, wie er nur jemals gewesen; aber auch sein Geist war noch so kräftig, seine Beobachtungsgabe noch so scharf, sein Spott noch so schneidend wie früher, und so dürfen wir denn mit Bestimmtheit annehmen, daß er, wenn er, von Huldigungen bis zum Ekel erschöpft, abends zu Bette kroch, unter seiner Decke in ein Hohngelächter ausgebrochen sei über den vornehmen und geringen Pöbel, der sich den Tag über vor seinen Triumphwagen gespannt hatte.

Er war bei seinem Freunde, dem Marquis de Villette, abgestiegen, dessen Hotel auf dem Quai des Theatins – heute Quai Voltaire – stand. Da, im Angesicht der Tuilerien, hielt jetzt der wahre König von Paris, von ganz Frankreich seinen Hof, an den selbst die schöne und stolze Marie Antoinette gar zu gern von Versailles hereingewallfahrtet wäre. Begreiflich! Denn der riesige Königspalast da draußen und Groß- und Kleintrianon, samt Marly und Choisy hallten ja wochen- und monatelang nur von dem wider, was Seine intellektuelle Majestät König Voltaire I. und Einzige sagte und tat. Da konnte eine junge und lebhafte Königin, welche ihren Eheherrn nicht phlegmatischer und langweiliger fand, als er wirklich war, schon vor Neugierde brennen, mit eigenen Augen ein Phänomen zu betrachten, dessen Erscheinung alle Hofherren und Hofdamen wirbelig und rappelig gemacht hatte. Es ging aber doch nicht an, daß die »allerchristlichsten« Majestäten den » Ecrasez-l'infame« »Zerschmettert den schändlichen Aberglauben!« Lieblingswendung Voltaires.-Mann bei sich empfingen oder gar zu ihm sich bemühten, und so mußte die Königin ihre Neugierde zügeln. Allein daß Voltaire nicht an den Hof eingeladen wurde, war für seine Vergötterer nur ein Anreiz mehr, das Geräusch ihrer Huldigungen zu steigern. So schroff stand schon zu dieser Zeit die öffentliche Meinung dem Königtum und stand Paris Versailles gegenüber.

In Wahrheit, der Voltaireismus verschlang für eine Weile alle anderen Interessen, sogar das für den ausbrechenden Krieg mit England. Selbst ein gerade jetzt anhebender Hofskandal, der zu anderer Zeit in allen Tonarten glossiert worden wäre, erregte nur flüchtige Aufmerksamkeit. Ein Prinz, der Graf von Artois, Bruder des Königs, hatte sich auf dem Maskenball der Oper wie ein Hauptflegel benommen, indem er der Frau Herzogin von Bourbon, welche ihn neckte, die Maske zerriß und Faustschläge gab (» et lui donna des coups de poing« sagt ausdrücklich unsere Alleswisserin im Kloster Saint-Joseph). Die beschimpfte und gemißhandelte Dame klagte ihre Not nicht ihrem Liebhaber, sondern ihrem Herrn Gemahl – ein merkwürdiger Ausnahmefall in der Gesellschaft von damals! – und der Herzog von Bourbon tat seine eheherrliche Schuldigkeit, indem er im Gehölz von Boulogne mit dem Grafen von Artois eine harmlose Studentenpaukerei hatte, bei der zwar sechs Gänge (» six bottes«) gemacht wurden, aber kein Tröpflein Blut vorkam …

Das war ein Gerenne und Gedränge, ein Gefrage und Geschnatter am 11. Februar 1778! »Ist er da? Ist er wirklich da, der göttliche Voltaire?« knatterte und raschelte es wie ein Lauffeuer durch Seinebabel. Alle Gaffer von Paris waren auf den Beinen. Das berühmte Café Prokop, der Hauptneuigkeitsmarkt, summte wie ein Bienenkorb von aus- und einstürmenden Fragern. Philosophen, Schöngeister und Politiker nahmen sich kaum Zeit, ihre Tassen zu leeren, um nach dem Quai des Theatins zu eilen. Von Versailles brach ein ganzes Rudel vornehmer Voltairiens und Voltairiennes nach Paris auf, um laut mit einzustimmen in das »Hosianna, der da kommt im Namen der Revolution!«, deren nahe bevorstehenden Ausbruch er ja schon volle vierzehn Jahre zuvor des bestimmtesten prophezeit hat. Was drängt und schiebt sich dort auf dem Kai hin und her, aus der Rue de la Seine hervor, beim Pont Royal vorbei, bis zur Ecke der Rue de Beaune, wo das Haus des Marquis de Villette steht? Lauter Voltairegläubige, nichts als Voltaireverehrerinnen. Werden wir das Glück haben, den großen Mann zu sehen? Wird er ausgehen? Wird er ausfahren? Werden wir wenigstens einen Zipfel seiner Perücke durch das Wagenfenster erblicken?

So ging es Tag für Tag, und inzwischen drängten sich die Montmorencys, die Armagnacs, die Brancas, die Richelieus und Polignacs, ja auch die mit der Gunst und dem Gelds des Hofes verschwenderisch überschütteten Polignacs zum »Petit Lever« Sr. Majestät unseres lieben Herrn von Ferney. Die Akademie sandte eine Begrüßungsdeputation, an deren Spitze der Prinz von Beauvau das Wort führte. Das Theater Français machte seine Aufwartung und nicht gespielte, sondern wirkliche Freudentränen vergießend, kniete der Stolz der französischen Nationalbühne, Mademoiselle Clairon, vor dem Lehnstuhl des Dichters der »Zaire« und »Alzire«. Der große Gluck kam, um dem Patriarchen der Aufklärung zu sagen: »Man erwartet mich am Hofe zu Wien; aber ich habe meine Abreise aufgeschoben, um noch am Hofe Voltaires erscheinen zu können.« Es kam auch » il gran« Goldoni, um dem Verfasser der »Pucelle« auf französisch eine Huldigung darzubringen, die der Gefeierte auf italienisch zurückgab. Die fremden Gesandten drängten sich wetteifernd herbei, voran der englische. Und seht, dort kommt von seiner bescheidenen Wohnung in Passy herein ein anderer Löwe, der – wir werden davon hören – den Löwen Voltaire bald in den Schatten stellen wird: unser guter, schlauer, ehrwürdiger Brother-Jonathan-Franklin, der seinen jungen Enkel mitbringt, um ihn von dem Messias des Zweifels segnen zu lassen. Das tut denn auch der Alte mit gebührendem Ernst und Anstand. » God and liberty!« (Gott und Freiheit) sagt er, dem Knaben die Hand auflegend, diese Hand, in der der arme Federkiel Blitze gesprüht, die das Hohngelächter Europas als jauchzend beistimmender Donner begleitet hatte.

Fuhr der Jubelgreis aus in seinem »Himmelswagen«, das heißt in seiner azurfarbenen, mit silbernen Sternen besäten Karosse, so bildete die Menge – darunter selbst feine Herren mit Ordensbändern und feinere und feinste Damen mit Frisuren à la Tour de Notre-Dame – Spalier auf seinen Wegen und schloß sich ihm als Gefolge an. Das ist ihm denn doch bald sehr lästig geworden; aber der Spötter der Spötter gestand, daß ihm sein altes Herz vor Freude in der Brust gehüpft habe, als eines Tages auf den Vorbeifahrenden eine arme Frau aus dem Volke deutete und zu ihrem Nachbar sagte: »Das ist der Retter und Rächer der Familie Calas!« Mitunter schnitt durch die dampfenden Weihrauchwolken und das huldigende Getöse auch ein echtfranzösischer Spottvogelpfiff. Ein »agierender Gaukler, der auf dem Grèveplatz seine Künste sehen ließ, sagte zum Publikum: »Da, Messieurs, ein rares Kunststück, das ich zu Ferney von dem großen Manne lernte, welcher dermalen so gewaltiges Aufsehen unter Ihnen erregt. Er ist ja doch der Meister von uns allen.« Freilich, auch die Witzspitze von Voltaires Zunge und Feder war noch spitzig genug. Als der gute Bischof von Orléans die Zeit günstig glaubte, dem großen Pfaffenfeind zu Leibe zu rücken, und ihm zu diesem Ende sein »Mandement gegen die Ungläubigen« übersandte, schickte der Alte dem Prälaten seine fertig nach Paris mitgebrachte »Irene« und schrieb dazu:

»Ich empfing Ihr Mandement
Und send' Ihnen meine Tragödie,
Damit so recht einander wir
Vorspielen uns Komödie J'ai reçu votre mandement;
Je vous offre ma tragédie,
Afin que mutuellement
Nous nous donnions la comèdie

2.

War dieser ganze Voltairetaumel nur eine Pariser Schwindelmode, nur ein Babelscher Modeschwindel oder aber ein schwerwiegend weltgeschichtliches Symptom?

Ein denkender und wissender Mann wird keinen Augenblick anstehen, die Frage im letzterwähnten Sinne zu bejahen. In dem Alten von Ferney triumphierte der ewig glorreiche freiheitssüchtige Geist des Jahrhunderts, und nicht mit Unrecht huldigte man dem Vierundachtzigjährigen als einer Fleischwerdung dieses Geistes. Alle die christlich-germanischen Bettelmannssprüche und Bannbullephrasen, womit die gläubige Dummheit oder die scheinheilig angestrichene Duckmäuserei und Knechtseligkeit auch heutzutage noch Voltaire abtun zu können wähnen, prallen ab an der erzenen Tatsache, daß nach dem blitzenden Witzzepter in der Hand des Mannes die europäische Gesellschaft ein Halbjahrhundert lang als nach dem sie regierenden Taktstock und Kommandostab geschaut hat. Und man sollte es den beweglichen Parisern übelnehmen, daß sie sich einem gesteigerten »Elan« überließen, als der alte Maestro kam, um sich vor seinem Sterben geschwind noch zu vergewissern, ob und wie die Instrumente gestimmt wären zur Aufführung der großen Sintflutsinfonie der Revolution? Mitnichten! Überhaupt, was wäre denn noch heute Europa ohne den französischen Esprit und Elan? Ein faulender Klumpen Mittelalter! Laßt uns gerecht sein und ob dem Jahre 1870 nicht das Jahr 1789 vergessen.

Keine Frage, Voltaire ist keine jener, übrigens sehr wenigen, ach, jawohl sehr wenigen weltgeschichtlichen Gestalten gewesen, an denen kein Makel haftet, und zu denen alle wirklichen Menschen mit ehrfurchtsvoller Liebe emporsehen als zu Wesen höherer Art. Nicht kann auf ihm das Auge mit jenem lauteren und innigen Wohlgefallen ruhen, womit es auf einem Milton, einem Schiller, einem Washington ruht. Voltaire war keine » anima candida« (reine Seele), und in seiner langen Laufbahn gibt es nicht wenige Stellen, die den Mißduft der Gemeinheit aushauchen. Seine Eitelkeit ging ins Äffische. Kein deutscher Hofrat, kein französischer Unterpräfekt, kein russischer Tschinownik hat jemals inbrünstiger nach Titel- und Bänderkram geschnappt als dieser Geisterbeherrscher. Wehe jedem, der diese närrische Eitelkeit verletzte oder verletzt zu haben schien. Da kannte Voltaire kein Erbarmen und ließ Rachemanifeste ausgehen, worin jeder Buchstabe ein Gifttropfen und jedes Wort ein Dolchstoß. Auch Habsucht konnte man ihm, wenigstens in früherer Zeit, zum Vorwurf machen. Und wie erniedrigte sich dieser Mann, wenn es die Befriedigung seiner gemeinen Instinkte und Neigungen galt! Er, der der Tyrann der Könige sein konnte und wirklich war, machte sich zu ihrem Sklaven. Mit Ekel wendet man sich ab, wenn man Voltaire vor dem namenlos verworfenen und verruchten Weibe, vor der »Semiramis des Nordens«, vor Katharina II. seine schmeichlerischen Kniebeugungen und Purzelbäume machen sieht. Freilich konnte er sich dabei auf den Vorgang und das Vorbild einer großen Autorität berufen. Denn hat nicht Friedrich, genannt der Große, den tiefsten Schlamm der Schmeichelei ausgeschöpft, um daraus sklavisch huldigende Komplimente für die besagte Semiramis zu kneten? Ja, wohl tat er das und er hat damit richtig die russische Vasallenschaft Preußens für lange zuweg gebracht. Und hat nicht auch eine tugendstolze Kaiserin Maria Theresia an eine Zarin Elisabeth schmeichlerische Briefe geschrieben und solche sogar an die Pompadour schreiben lassen? Was die vielberufenen Verhältnisse und Mißverhältnisse Voltaires zu Friedrich angeht, so dürfte es schwierig zu sagen sein, auf welcher Seite die Verfehlung größer gewesen. Königlich preußische Hofhistoriographen werfen natürlich alle Schuld auf den ersteren. Die unbefangene Anschauung aber wird es sehr begreiflich finden, daß es dem Voltaire bald sehr unbehaglich werden mußte in der Umgebung eines Königs, der, Despot in jeder Fiber, gewohnt war, alle Menschen zu dressieren, wie es seine Preußen sich gefallen ließen. Auch mögen etliche der Bosheiten, welche Voltaire an Friedrich begangen hat, ihm in Gnaden verziehen werden um der gähnenden Langeweile willen, die er als Korrektor der jämmerlichen französischen Verse des Königs auszustehen gehabt hatte. Im übrigen können nur Pinsel und Ignoranten das Pfaffengeplärr über Voltaire als ein »moralisches Ungeheuer« nachschwatzen. Gewiß, der Mann war kein Tugendspiegel; aber ebenso gewiß, er war auch kein Lasterbündel. Im Grunde ist seine einzige Leidenschaft der Ruhm gewesen, und es versteht sich von selbst, daß nur ein in allen Genüssen höchst mäßiger Mann bis in ein so hohes Alter hinauf die unausgesetzte, ungeheure geistige Arbeit verrichten konnte, die Voltaire verrichtet hat. Von seinem durch eigene Anstrengung erworbenen Vermögen machte er einen liberalen und wohltätigen Gebrauch. Er hatte ein Herz für die Unglücklichen und eine offene Hand für die Armen. Und nicht nur gütig und mitleidig vermochte er zu sein, sondern auch hochherzig und heldisch. Keiner seiner Lästerer und Ankläger bis auf den heutigen Tag herab kann sich einer Tat rühmen, wie deren der Gelästerte in seinen wahrhaft edelsinnigen und heroischen Kämpfen gegen die verpfafft stupide und brutale mordsüchtige Justiz, das heißt Injustizpflege, seiner Zeit mehrere getan hat. Die glänzendste war die allbekannte, an den Namen Calas geknüpfte. Drei Jahre lang führte er diesen ruhmvollen Kampf, und wir dürfen ihm glauben, wenn er sagt: »Während dieser Zeit haben meine Lippen kein Lächeln gekannt.«

»Mag sein«, knurrt Dunkel- und Duselmann; »aber dies alles wischt doch das ›Vernichtet das Infame!‹ nicht weg.« Nein, und es soll auch nicht weggewischt werden, sondern als eine weltgeschichtliche Denktafel noch in die fernsten Jahrhunderte hinabragen, als eine Denktafel dessen, was das offizielle Christentum, was die kirchliche Religion zu Voltaires Zeiten gewesen ist. Willst du es wissen, dunkelnder und duselnder Brudermensch, in dessen Gehirnhöhle die himmlische Lust des Denkens niemals phosphoreszierte, willst du es wissen? Wohl, ich will es dir sagen. Was damals Religion und Christentum zu nennen sich erfrechte, war ein Abgrund von Schändlichkeit und die französische Kirche ein Vampir, das Lebensmark des unglücklichen, systematisch von ihr vertierten Volkes saugend – ein Vampir, der auch im 18. Jahrhundert noch alle die höllischen Erfindungen der spanischen Inquisition praktizierte, wo immer er konnte. Ist es, beispielsweise zu reden, nicht dieses »Christentum« gewesen, im Namen und kraft dessen noch im Jahre 1765 ein wackerer junger Mann, De la Barre, lebendig gerädert wurde, weil der völlig unerwiesene und auch völlig grundlose Verdacht auf ihm lag, ein hölzernes Kreuz von der Brücke zu Abbeville gestürzt zu haben? Und war es nicht dieses »Christentum«, dessen Priester – wir meinen die Prälaten – in dem Unflat natürlicher und widernatürlicher Lüste förmlich sich wälzten, in schamloser Prasserei Millionen vergeudend, während die, welche die kirchlichen Dienste verrichteten, die armen Dorfpfarrer und Vikare, mit dem Volke hungern und verhungern mußten? Habt ihr nie von der »Halsbandgeschichte« gehört und von der Rolle, welche Seine Eminenz der Kardinal Rohan darin spielte? Waren es nicht französische Kardinäle, Erzbischöfe, Bischöfe und Äbte – die Äbtissinnen nicht zu vergessen –, welche am lautesten höhnten und lästerten und lachten in jenen vornehmen Kreisen, deren zynische Konversation Voltaire in seiner berüchtigten »Pucelle« in Verse gebracht hat? War doch unter der Regierung des »allerchristlichsten« Ludwig XV. – der ruchlose Pompadour-, Dubarry- und Hirschparklouis der »allerchristlichste« König, auch ein Stück Christentum von damals! – also zur gleichen Zeit, wo auf jede Antastung der kirchlichen Dogmen noch Galgen und Rad standen, unter den französischen Kirchenfürsten die höhnische Verleugnung derselben Dogmen so weit gediehen, daß der junge König Ludwig XVI., als ihm Monseigneur Loménie de Brienne – später für eine Weile Finanz- und Premierminister – zum Erzbischof von Paris vorgeschlagen wurde, voll Bitterkeit ausrief: »Ein Erzbischof von Paris sollte doch wenigstens an Gott glauben!« Ah, wenn jemals ein Vernichtungskampf gerechtfertigt war, so ist es der gewesen, den Voltaire gegen das »Christentum«, das heißt gegen das Bonzen- und Balspfaffentum seiner Zeit geführt hat. Er wurde dadurch geradezu zum Wohltäter der Menschheit. Und wenn er sah, was jeder denkende Mensch sehen mußte und sehen muß, daß alle die namenlosen Greuel der gesamten Kirchengeschichte nur eine logische Folge eines der Natur, der Vernunft, dem Einmaleins und der Zivilisation hohnsprechenden Dogmenglaubens waren, so hätte er die unsterblich tönenden Pfeile seines weltgeschichtlichen Witzes bloß auf die Schlußfolgerungen und nicht auch auf die Prämissen, bloß auf die Wirkungen und nicht auch auf die Ursachen richten sollen? Preis ihm und Ehre, daß er es tat und, gleich unserm großen deutschen »Heiden« Goethe, »der Heuchelei dürftige Maske« verschmähte.

Menschen, die vielleicht nie eine Zeile von Voltaire gelesen haben, unwissende Nachbeter gedankenloser Vorbeter, nahmen und nehmen es sich im »gründlichen« Deutschland heraus, über die kolossale zivilisatorische Arbeit des Mannes den Stab zu brechen, etwa mit der dummen Phrase, seine Tätigkeit sei im besten Falle eine bloß negative gewesen. Jawohl, er hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, die Unvernunft, die Unwahrheit, die Ungerechtigkeit, die Unmenschlichkeit zu verneinen, und mit rastloser Tatkraft und Pflichttreue hat er diese Aufgabe erfüllt, hat das Dumme, Schlechte, Schädliche und Schändliche negiert, mittels aller Gattungen und Formen der Poesie und Prosa negiert und in den Augen aller Denkenden und Redlichen zerstört, und diese tapfere Kriegführung des gesunden Menschenverstands und des gesunden Menschengefühls, diese glorreiche »Negation« wäre nicht zugleich ein positives Schaffen gewesen? Habt ihr nie vom Föhn gehört, dem Frühlingsboten und Frühlingsbringer der Schweiz? Der negiert auch: den Bann winterlicher Knechtschaft! Ein lachender Orkan saust und braust er durch die Täler, spottet im Nu Schnee und Eis hinweg, und wenige Tage darauf frühlingt es im schönen Alpenland.

Fürwahr, wenn Voltaire, wie er tat, die religiöse Unduldsamkeit und den pfäffischen Fanatismus, die barbarisch-grausame Rechtspflege, die bäuerliche Leibeigenschaft und andere dergleichen »organisch gewachsene« Institute der »guten alten frommen Zeit« auf Tod und Leben verneinte, so waren diese Verneinungen ruhmvolle, positive Kulturtaten, sehr positive! Und der Mann, der so energisch, und zwar, wohlverstanden! zu einer Zeit, wo es noch Bastillen und » cages de fer« (eiserne Käfige) für oppositionelle Autoren gab, der Unterdrückten gegen die Unterdrücker sich angenommen und die Sache der Armen und Elenden gegen die Reichen und Mächtigen so standhaft geführt hat, sollte ganz ohne Liebe und Enthusiasmus, sollte nur ein »tönendes Erz und eine klingende Schelle« gewesen sein? So hat ihn selbst noch Hettner genannt, der doch die beste und im ganzen gerechteste Charakteristik Voltaires lieferte, die existiert. Aber eine so ausdauernde Tätigkeit, wie die Voltairesche war, ist ohne Liebe und Enthusiasmus gar nicht möglich, gar nicht denkbar. Die bloße Eitelkeit ist lange nicht mächtig genug, zu solchen Anstrengungen zu treiben; wir dürfen und müssen daher annehmen, daß von jener Zentralsonne der moralischen Welt, genannt Idealglaube oder Begeisterung, doch ein starker Strahl in die Seele des souveränen Witzblitzeschleuderers gefallen sei. Ja gewiß, der Jupiter tonans des Spottes konnte unmöglich die Dummheit der Menschen so nachdrücklich befehden, ohne an die Möglichkeit einer allmählichen Minderung dieser Dummheitsmasse zu glauben, konnte unmöglich die Übel der Gegenwart so ausdauernd bekämpfen, ohne eine menschlichere Zukunft zu hoffen. Wer aber glaubt und hofft, der liebt auch.

Im innersten Heiligtum der Kunst hat keins der Werke Voltaires Zutritt gefunden. Nicht einmal in der Vorhalle dieses Heiligtums. Er war unendlich viel mehr ein Kämpfer als ein Künstler, und nicht etwa ihm zum Tadel, sondern zum Ruhme sei das gesagt. Die Welt besitzt fürwahr Künstler genug und darunter auch »große«, welche, um ihren Künstlerlaunen nachleben zu können, stets bereit waren und sind, vor dem Despotismus zu kratzfußen. Kämpfer, und zwar Kämpfer wie Voltaire dagegen hat die Welt nur wenige und jedenfalls nie genug. Alle seine umfangreicheren Werke sind Wurfgeschütze, aufgefahren, in die Zwingburg der Vorurteile, in die Fronfeste der Knechtschaft Bresche zu schießen. Daneben prasselt hageldicht der prickelnde Pfeilregen seiner » Poésies fugitives« auf die Schilddächer des Unsinns und der Pedanterie. Auf diesen »flüchtigen« lyrisch-didaktischen Dichtungen, sowie auf den satirischen Erzählungen in Prosa (» Candide«, » L'ingénu«, »Zadig« u. a. m.) beruht bekanntlich vornehmlich Voltaires Anspruch, ein Dichter zu sein. Die verrufene »Pucelle« ist sodann ein brillantes Witzfeuerwerk, das aber viel zu lange währt und, wie eben Feuerwerke zu tun pflegen, einen fatalen Schwefelgeruch hinterläßt. Viele Einfälle in dem Gedicht haben übrigens Witzblitzfeuer genug, um auch noch in unsere Zeit satirisch hereinzuzünden. Wenn man zum Beispiel die Trompetenstöße vernimmt, welche aus den gegenseitigen Ruhmassekuranzen der deutschen Literatur zum Lobe des Mittelmäßigen, Charakterlosen, Flauen und Erbärmlichen jahraus jahrein hervorgehen, so glaubt man richtig die » trompette« zu hören, welche in der Pucelle die alte Klätscherin von Göttin, » La Renommée«, nicht an den Mund, sondern anderswohin hält.

Wenn aber Voltaire als Poet höchstens den zweiten Rang anzusprechen hat, so ist seine Bedeutung als Anreger und Wegzeiger auf dem Gebiete des Denkens und Wissens eine wahrhaft welthistorische. Schon das war ein großes Verdienst, daß er die Autorität der geistlosen Wortklauber und Silbenstecher, der abstrusen Abstraktoren von Gelehrten vernichtete, welche sich und die Welt mit Nichtigkeiten behelligten, die der Menschheit nie auch nur einen Pfifferling genützt haben oder nützen können. Er ist es gewesen, der mit der Drahtgeißel seines Spottes die stupend und stupid gelehrten Händler mit theologischen Nullen und philosophischen Nichtsen aus dem Vorhofe des Tempels der Wissenschaft hinauspeitschte. Daß der Zweifel an dem Gegebenen und Überlieferten der Vater aller wirklichen Forschung, wird heutzutage nur noch von Leuten bestritten, die in Sachen des Denkens und Wissens überhaupt nicht mitzählen. Nun wohl, Voltaire ist es gewesen, der die Anzweiflung der überlieferten Lüge von der guten alten frommen Zeit nach allen Richtungen hin, religiös, sozial und wissenschaftlich, so recht groß gezogen und dadurch eine forschende Tätigkeit von unberechenbarer Tragweite hervorgerufen hat. Er stand in der Vorderlinie derer, welche die Wissenschaft aus den muffigen Schulstuben herauszogen und mitten ins wirkliche Leben hineinstellten, eine Großtat, angesichts welcher Tausende und Hunderttausende von geistverlassenen Elaboraten gelehrter Stubenhocker nichts sind als Wurmfraß. In die verschiedensten Regionen und Gebiete blitzte das universell bewegliche Talent des Mannes hinein; oft sehr flüchtig allerdings, aber immer anregungs- und aufmunterungsvoll, daß da noch unbekannte Schätze zu heben seien, daß da etwas zu suchen und zu gewinnen sei für den Dienst der Menschheit. Es ist bewundernswert, wie weit oft sein Seherblick seiner Zeit vorauseilte und Wahrheiten entdeckte, welche erst in unsern Tagen allmählich zu allgemeiner Anerkennung gelangen. Die politische Ökonomie zum Beispiel verdankt ihm einige wichtige Findungen. Er war der erste, der auf das verschiedene Verhältnis der Vermehrung der Bevölkerungen und der Lebensmittel aufmerksam machte, und er war es auch, der wagte, was damals eine große Ketzerei war, nämlich auf das große Prinzip des Freihandels hinzuweisen. Es ist wahr, Voltaires philosophische und historische Schriften wimmeln von Schiefheiten und Irrtümern, welche jeder auch nur halbwüchsige Gelehrte von heute, im Besitze des ungeheuren Materials, das seither aufgehäuft worden, leicht berichtigen und kleinmeisterlich dem Manne vorrücken kann. Aber dennoch steht fest, daß Voltaire es gewesen, der die moderne Geschichtswissenschaft begründete, indem er sie von den theologischen Einbildungen befreite. Sein geniales Auge durchdrang zuerst die Finsternisse, in welche religiöser und politischer Afterglaube die Entwicklung der Menschheit gehüllt hatte. Er zuerst löste so manches Rätsel weltgeschichtlicher Wirkungen, indem er die realen Ursachen derselben aufdeckte, und er schmiedete und schliff die Instrumente der historischen Kritik unserer Zeit, indem er den unmäßigen, geradezu kindischen Respekt vor dem Altertum und dem Mittelalter wegspottete. Erst seit dem Erscheinen von Voltaires berühmtem »Versuch über die Sitten und die Charaktere der Nationen« hat man einen Begriff von Weltgeschichte und Weltgeschichtsschreibung. Summa: ein Erleuchter, Pfadfinder und Wegebahner erster Größe.

3.

Jedes Volk betreibt den »Kultus des Genius« in seiner Weise. Bei den Engländern gipfelt die »Heldenverehrung« in Nationalsubskriptionen, deren viel- und schwerpfündige Erträgnisse für den Gefeierten ein Piedestal abgeben, mittels dessen sich seine Person in die britische Himmelssphäre der »Respektabilität« erhebt. Bei den Deutschen ist die ihren großen Männern gewidmete Ehrfurcht und Liebe eine so tiefsinnige und stillverschämte, daß die Gegenstände derselben bei Lebzeiten wenig oder nichts davon gewahr werden. Nach ihrem Tode werden sie aber mitunter in Erz gegossen oder in Stein gehauen, womit dann zugleich der Dankbarkeit und der Kunst gedient, also das Angenehme mit dem Nützlichen verbunden wird. Bei den Franzosen, als dem theatralischen Volke par excellence, wird in der Regel nicht erst mit den toten, sondern mit den noch lebenden Heroen Komödie gespielt. Aber man muß sagen, daß dieses Spiel Schick und Art hat. Man sieht es den Parisern und Pariserinnen eben doch sogleich an, daß sie geborene Akteurs und Aktricen auf den Brettern, welche die Welt nicht nur bedeuten, sondern auch sind.

So hatte denn die große Komödie, betitelt »Voltaires Triumph«, ihren glücklichen und lustigen Fortgang, obgleich die Strapazen des Stückes dem vierundachtzigjährigen Triumphator arg zusetzten. Ein Mitlebender von damals und wenigstens als Statist Mitspielender, der Graf von Ségur, hat in seine Memoiren die Worte eingetragen: »Man kann sagen, daß es für etliche Wochen zwei Höfe in Frankreich gab: den des guten Ludwig zu Versailles, wo es ganz still geworden, und den Voltaires in Paris, der Tag für Tag von den lärmenden Huldigungen einer unzählbaren und entzückten Menge widerhallte, die sich herbeidrängte, dem größten Genie Europas ihre Verehrung zu bezeigen. Seine Krönung ( son couronnement) fand im Palaste der Tuilerien statt, im Saale des Theater Français. Man vermag die Trunkenheit nicht zu schildern, womit der erlauchte Greis von dem Publikum empfangen wurde, welches alle Räume und Zugänge des Ortes zum Ersticken dicht anfüllte. Niemals ist die Dankbarkeit einer Nation in helleres Entzücken ausgeschlagen. Ich werde diese Szene niemals vergessen, und ich begreife nicht, woher Voltaire die Kräfte nahm, sie auszuhalten.«

Dieser Haupt- und Staatsakt des ganzen Schauspiels ging am 30. März 1778 vor sich. Der Triumphator fuhr zunächst ins Louvre, um einer ihm zu Ehren veranstalteten Festsitzung der Akademie beizuwohnen. Ein ungeheuer großes Gefolge begleitete seinen Wagen und harrte draußen, bis die gelehrten Herren drinnen durch ihren Wortführer d'Alembert alle Huldigungskünste erschöpft hatten. Folgte dann die kurze Fahrt vom Louvre ins Theater Français zwischen dichtgedrängten Menschenmassen hin, welche den Wagen des Triumphators mit unendlichen Jubelrufen empfingen und begleiteten. Als der Greis ausstieg, von zwei Freunden unterstützt, mischte sich dem Entzücken der Bewunderung die Rührung über die körperliche Gebrechlichkeit des Gefeierten bei, den Beifallssturm zu sanfteren Lauten stimmend.

Die Vorgänge im Theater selbst hat uns ein verpariserter deutscher Augenzeuge, Herr Friedrich Melchior Grimm, Baron (von vermutlich eigener Mache) und Neuigkeitenzufertiger verschiedener deutscher Höfe, in seiner bekannten vielbändigen » Correspondance littéraire« (IV, 177) genau beschrieben. Als Voltaire in die Loge der königlichen Kammerherrn getreten und dort zwischen Madame Denis und der Marquise de Villette Platz genommen hatte, erschien der Schauspieler Brizard, der Berühmteste unter seinen Kollegen, und überbrachte der Marquise einen Lorbeerkranz mit der Bitte, den Jubelgreis damit zu krönen. Wie dieses geschah, brach das ganze Haus in einen jauchzenden Zuruf aus. Voltaire nahm zwar die Krone sogleich wieder vom Haupte, aber die Versammlung bestürmte ihn, sie aufzubehalten. Der Saal, die Logen, die Korridore strotzten von Menschen. Alle Frauen standen. Das war kein Enthusiasmus mehr, sondern förmliche Anbetung, ein förmlicher Kult. Endlich ging der Vorhang in die Höhe. Man spielte »Irene«, eine byzantinische Tragödie, welche, wie schon gemeldet, Voltaire fertig aus Ferney mitgebracht hatte. Ein sehr altersschwaches Produkt seiner Geisteslenden, aber von ihrem Erzeuger, wie es bei derartigen Alterssünden häufig der Fall, zärtlich geliebt. Als Achtzigjähriger sollte man die Muse nicht mehr mit frostigen Umarmungen heimsuchen wollen. Schon als Siebzigjähriger nicht mehr. Als Beweise für die Richtigkeit dieses Satzes hocken und rutschen ja auch in Goethes sämtlichen Werken eine überzählige Anzahl unerquicklicher Kinderchen herum. Aber was ging die Versammlung im Theater Français das byzantinische Ding von Trauerspiel an? Man sah nur Voltaire. Als er sich nach gefallenem Vorhang erhob und, über die Logenbrüstung vorgebeugt, dankend die Versammlung begrüßte, brach der Huldigungssturm von neuem los. Zugleich erhob sich der Vorhang wieder, und auf der Bühne erschien die Büste des Gefeierten, umringt von der ganzen Schar der Schauspieler und der Schauspielerinnen, welche sie mit Lorbeerkränzen bedeckten und mit Rosengirlanden umwanden, während Madame Vestris Verse deklamierte, welche besagten, daß La Belle France selber es sei, die ihren großen Sohn kröne. Nur mühsam vermochte der bis zum Sterben Erschöpfte das Schauspielhaus zu verlassen. Schöne Frauenarme trugen ihn nach seinem Wagen, der nur im Schritte nach Hause gelangen konnte, umringt von einer entzückten Menge, die die Ufer der Seine von dem unaufhörlich wiederholten Rufe: » Vive Voltaire!« ertönen ließ. Unter der Haustür kehrte sich der Jubelgreis gegen sein Gefolge, breitete die Arme aus und sagte mit im Schluchzen brechender Stimme: »Ihr wollt mich also unter Rosen ersticken?« und als ihm droben der Herzog von Richelieu mit den Worten entgegentrat: »Nun, lieber Voltaire, Ihr müßt ja recht befriedigt sein!« – keuchte der Halbtote mühselig: »Ach, sie haben mich umgebracht mit ihren Kronen!«

Vanitas, vanitatum vanitas! Die große Voltairekomödie war ausgespielt, und es hob eine andere an, welche alsbald jene vergessen machte: die Franklinkomödie. Am 6. Februar 1778 war der Allianzvertrag Frankreichs mit den Vereinigten Staaten von Nordamerika zum Abschlusse gediehen. Im März verließ der englische Gesandte Paris und der französische London. Der Krieg zwischen Frankreich und England war erklärt, und der Agent der amerikanischen Rebellen wurde in feierlicher Audienz von Ludwig XVI. zu Versailles empfangen. Franklin hatte, wie uns Klatschschwester Du Deffand zu melden nicht unterließ, bei dieser Gelegenheit einen braunroten Sammetrock an, weiße Strümpfe, ungepuderte Haare, die Brille auf der Nase – was gegen alle Kleiderordnung und Etikette – und trug unter dem Arm einen weißen Hut.

Vom 30. März, dem Triumphtage Voltaires, waren es nur zwei Monate hin bis zum 30. Mai, dem Sterbetag Voltaires, und doch war er ein schon vergessener, im Strudel von Babel-Paris verschollener Mann. Am 31. Mai 1778 schrieb Madame Du Deffand an Horaz Walpole: »Ach, da hält' ich fast vergessen. Ihnen ein wichtiges Ereignis zu melden. Voltaire ist tot. Man kennt weder Stunde noch Tag genau, wann er starb; die einen sagen gestern, die andern vorgestern. Man weiß auch nicht recht, was man mit seinem Leichnam machen soll. Der Pfarrer von Saint-Sulpice will ihn nicht auf seinem Kirchhofe begraben lassen. Wird man den Toten nach Ferney bringen, um ihn dort beizusetzen? Aber er ist ja von dem Bischof, zu dessen Diözese Ferney gehört, in den Bann getan. Voltaire ist an einer zu großen Dosis Opium gestorben, welche er zur Milderung der Schmerzen seiner Strangurie genommen, oder auch, wie ich sagen möchte, an einem Ruhmexzeß, der die schwache Maschine zu sehr erschütterte.«

Dies die Grabrede, welche dem gehalten wurde, dem zu Ehren Paris zwei Monate zuvor in Entzücken gerast hatte. Ruhm, dein Name ist Eitelkeit!


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