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Ein Prophet

» Malo periculosam libertatem quam quietum servitium.« (Ich ziehe eine gefährliche Freiheit einer ruhigen Sklaverei vor).

Rafael Leczynski.

1.

In einer der Handschriften meines verstorbenen Freundes, des wunderlichen Dr. Jeremia Sauerampfer, eines gelehrten Troglodyten, findet sich die ketzerische Auslassung: »Wäre ich Mitglied einer Strafgesetzgebungskommission, so würde ich, als ein Verehrer des alttestamentlichen Jus talionis (Vergeltungsrechts), beantragen: In den Zuchthäusern der Zukunft sind die allerärgsten Sünder und Verbrecher anzuhalten und unter Umständen zu zwingen, täglich etliche Stunden lang in der christlichen Kirchengeschichte zu lesen – maßen solche Lesung für die schwerste Pön zu achten ist.«

In einer Note hat dann der Heide von Doktor zur Begründung seines Antrags manches nicht ganz Unebene gesagt. Unter mehrerem dieses: »Es ist in der Kirchengeschichte, welche unser glorreicher Wolfgang der Einzige einen ›Mischmasch von Unsinn und von Gewalt‹ zu nennen so frei gewesen, kaum eine Seite zu finden, deren Inhalt nicht so oder so daran erinnerte, daß die Priester der ›Religion der Liebe‹ aufs Haar jenen Raubmördern glichen, welche, wie Seneka meldet, zu seiner Zeit in Ägypten ihr Wesen trieben und die man Philethen (Liebende) nannte, weil sie die ihnen Begegnenden umarmten und küßten, um sie zu – erwürgen. Diese Tatsache muß der liberalisierenden Theologie unserer Tage sehr unbequem sein, und die Gute strengt sich daher an, mittels einer ihrer gewohnten Schleiermachereien sich darum herum oder darüber hinweg zu schwindeln. Sie wähnt nämlich jeden gegen das Christentum erhobenen Ein- oder Vorwurf parieren zu können mit der Forderung, daß man Christentum und Kirche streng unterscheiden müßte. Aber wo bliebe denn das Christentum, falls man die Kirche oder die soundso vielen Kirchen und Konventikel abzöge, d. h. falls man Dogmen und Kulte beiseitestellte? Es würde spurlos im Nebel der Phrase verflattern. Denn die humane Idee, welche vor dem Christentum da war und nach dem Christentum da sein wird, sowie die verschiedenartigen Erscheinungsformen und Betätigungen dieser Idee für Christentum ausgeben zu wollen, dazu dürfte selbst die Sophisterei eines potenzierten Krumm- oder Schleiermachers nicht fr–omm genug sein. Die humanen Anschauungen, Stimmungen und Taten der modernen Gesellschaft sind nicht nur nicht vom Christentum eingegeben, sondern sie sind auch wesentlich unchristlich. Warum nicht gar? Allerdings! Diese humanen Anschauungen, Stimmungen und Taten sind ja Wirkungen der modernen Kultur, welche auf der Sorge für das »Irdische« und auf der Freude am Irdischen, auf dem Zweifel, auf dem Widerspruch und Widerstand gegen priesterliche Bevormundung, auf der freien Forschung, auf der Pflege des Schönheitssinns, auf der Schaffung von Wohlstand und der Vervielfältigung des Behagens, auf der möglichst bequemen, gesunden, anständigen und genüßlichen Einrichtung unserer Erdenheimat beruht, das will sagen auf lauter Trieben, Wünschen, Vollbringungen und Veranstaltungen, welche das ganz wesentlich asketische, d. h. naturlose, mönchische, antisoziale und bildungsfeindliche Christentum entschieden verwirft. Jeder echte Christ ist ein Gegner, ist geradezu ein Todfeind der Zivilisation. Man sollte daher billigerweise weder den Insassen des römischen Vatikans ihr flüchespeiendes Delirium tremens noch den Mitgliedern des Berliner Oberkirchenrats ihre Knakismen, noch den hochwürdigen Herrn von der Schleiermacherei ihre Tifteleien und Gifteleien, ihre Suppositiönchen, Interventiönchen, Denunziatiönchen und Inquisitiönchen verübeln. Diese Christen samt und sonders tun nur, was sie tun müssen, um ›Zeugnis zu geben für den Herrn‹. Sie können gar nicht anders.« …

Soweit unser ungeleckter, nachsintflutlicher Höhlenbär. Wir überlassen ihm die Verantwortung für sein zeitwidriges Gebrumm, können aber leider nicht umhin, auch unsererseits eine den »liberalen« protestantischen Theologen unliebsame Tatsache vorzubringen. Nämlich diese, daß es eine fromme Kriegslist ist, wenn der Protestantismus das Verdienst anspricht, in der modernen Welt die Gewissens-, Glaubens- und Denkfreiheit begründet zu haben.

Der Protestantismus mußte naturnotwendig ebenso unduldsam und verfolgungssüchtig sein wie der Katholizismus, weil er wie dieser eine dogmatisierte Religion, und daß die verschiedenen protestantischen Kirchen allzeit und überall nach Kräften unduldsam und verfolgungssüchtig wirklich gewesen sind, weiß jedermann. Die Herren Reformatoren selber spielten die Inquisitoren, soweit immer ihre Mittel es erlaubten, und kein Papst hat sich infallibler (unfehlbarer) gebärdet, als Luther und Calvin. Ins Blutiggroße aber trieb die Verfolgung gegen Andersgläubige vor allen anderen protestantischen Kirchen die englische Hof- und Staatskirche, weil sie, eins mit der Königsgewalt, über die reichsten Verfolgungsmittel gebot.

Das Gesagte ist selbstverständlich nur im feststellenden, nicht etwa im tadelnden Sinne vorgebracht. Die römischen, lutherischen, calvinischen und anglikanischen Theologen, die Reformatoren und Inquisitoren vollbrachten zweifelsohne ihre Barbareien zumeist in guten Treuen. Sie wußten es nicht besser. Auch reduziert sich der ganze Unterschied zwischen dem 16. und 17. Jahrhundert einerseits und dem 18. und 19. anderseits im Grunde darauf, daß die menschliche Dummheit, Bosheit und Grausamkeit früher die religiöse Verfolgung zur Lieblingssache ihres heiligen Eifers machten, während sie später das politische Verfolgungsgeschäft mit besonderer Vorliebe betrieben. Das Objekt der Verfolgung wechselte und wechselt, verfolgt aber mußte und muß unter allen Umständen werden. Der Mensch tut es nicht anders und kann es nicht anders tun. Denn Verfolgen und Verfolgtwerden gehört wie Handeln und Leiden unerläßlich zum Fluche des Daseins, welches aufhören müßte, sobald es aufhörte, ein Kampf zu sein. Die Entwicklung der Menschheit geht nur in schroffen Gegensätzen vor sich. Reibung muß sein. Aus der widerwilligen Begattung von Stahl und Stein entspringt der zündende Funke. Laßt die Gegensätze aufeinander losschlagen und watet durch die Blutlachen der unendlichen Walstatt dem »anderen Ufer« zu, gleichviel ob es jemals erscheine oder nicht. Strebe! Ringe! Kämpfe! »Mensch sein heißt ein Kämpfer sein« und –

»Es währt nur eine kurze Weile,
So liegst auch du, wo alles liegt,
Was nach des Lebens Kampf und Eile
Zum langen Schlafe sich geschmiegt.
Und wenn die Woge dich erfaßte
Und trug dem großen Meer dich zu,
Schläfst bei Millionen du zu Gaste,
Die auch vergessen sind wie du.«

2.

Rabenmutter High Church (Hochkirche) stieß ihren düsteren Heldensohn Puritanismus in die amerikanische Wildnis hinüber, hoffend, daß der Verhaßte dort im Ringen mit Hunger und Kummer, mit Rothäuten und Urwaldbestien zugrunde gehen werde. Aber er ging nicht zugrunde, er gedieh vielmehr wundersam unter all der ungeheuren Mühsal und Arbeit, die er zu leiden und zu tun hatte, und wuchs zu einem Riesen auf, dessen Arme bestimmt scheinen, den Erdball herrschend zu umspannen.

In Wahrheit, an jenem 11. November 1620, als die erste Schar der puritanischen »Pilgerväter« in Sicht der Küste von Neuengland in der Kajüte des Barkschiffs »Mayflower«, worin sie über den weiten Ozean geschwommen, ihren schlichtfeierlichen Dankgottesdienst abhielt, um dann in freier Beratung eine bündige Verfassung für die an der vor ihren Augen liegenden wilden Küste zu gründende Kolonie zu entwerfen – zu jener Stunde wurde im Weltgeschichtebuch ein neues Kapitel aufgeschlagen. Denn zu jener Stunde geschah es ja, daß der moderne Demokratismus seine Augen zum Dasein aufschlug, lebensfähig mit den jungen Beinen strampelte und mit kräftiger Bruststimme, obwohl vorerst nur noch in unartikulierten Lalltönen, kundtat, daß er da sei und willens, da zu bleiben und etwas vorzustellen und etwas vor sich zu bringen in der Welt. Treffend hat Bancroft gesagt: » In the cabin of Mayflower humanity recovered its rights and instituted government on the basis of equal laws for the general good« (In der Kajüte der »Mayflower« erlangte die Menschheit ihre Rechte wieder und setzte ihre Herrschaft fest auf der Grundlage gleicher Gesetze für das allgemeine Wohl).

Hunderte und Tausende von europäischen mit Pracht und Prunk in Szene gesetzten und mit Trompeten und Pauken abgespielten Staatsaktionen kommen an Wert und Wichtigkeit, an menschheitlicher Bedeutung und Tragweite nicht entfernt jenem Akt in der ärmlichen Kajüte der Maiblume gleich, wo einundvierzig Männer, um ihres Glaubens willen durch staatspfäffische Verfolgung aus ihrem Vaterland getrieben, den Granitgrundstein zum Riesenbau der Vereinigten Freistaaten von Nordamerika gelegt haben. Wohl taten die Nachkommen der Pilgerväter (»Pilgrimfathers«) recht, das Felsstück, auf welches die Gründer der ersten der Neuenglandskolonien, die Gründer von Neuplymouth, beim Landen ihre Füße gesetzt hatten, pietätvoll zu einem nationalen Heiligtum zu machen.

Eine deutsche Frau hat die Geschichte der Kolonisation von Neuengland geschrieben Talvj, Autorname von Therese Adolfine Luise von Jakob, geboren 1797 zu Halle, verheiratet an den Amerikaner Robinson 1828, gestorben in Hamburg 1870. Von ihren anderweitigen, in deutscher und englischer Sprache veröffentlichten Arbeiten sind besonders verdienstvoll die »Volkslieder der Serben« (1825), der » Historical view of the slavic languages« (1834), die Abschluß gebenden »Untersuchungen über die Echtheit des Ossian« (1840) und der »Versuch einer geschichtlichen Charakteristik der Volkslieder germanischer Nationen« (1840).. Musterhaft! Kein englisches oder amerikanisches Buch über den Gegenstand – selbst den bezüglichen Band von Bancrofts großem Werke nicht ausgenommen – kommt an Umfang und Gewissenhaftigkeit der Forschung, treffendem Urteil und fesselnder Darstellungsweise diesem deutschen gleich. Talvj hat es verstanden, das große Werk der Carver, Smith, Bradford, Winslow, Winthrop, Endekott, Eaton und ihrer Mitstreiter, das Werk der Gründung und Förderung der Pflanzstaaten von Neuengland so uns vorzuführen, daß es uns auch menschlich nahegebracht wird und wir mit vollem Gemütsanteil betrachten können, wie aus kleinen Anfängen Schritt für Schritt Großes und Größtes geworden ist. Das Buch muß nicht allein für die beste historische, sondern darf wohl auch für die beste wissenschaftliche Arbeit überhaupt erklärt werden, die bislang von einer Frau getan wurde.

Wie gewaltig aber der Puritanismus aufstand diesseits und jenseits des Meeres, wie unermeßlich segensreich sein Wesen und Wirken für die Menschheit geworden: eine liebenswürdige Erscheinung war er nicht. Vielmehr ein steifkattunener Geselle mit einer ewigen Leichenbittermiene, in die Kannibalismen des Alten Testaments sich versenkend und über den grotesken Phantasiestücken der Offenbarung Johannis grübelnd; ein Essigblicker, der den großen Shakespeare alles Ernstes für ein Kind Belials hielt und wähnte, daß es eine Todsünde sei, um den Maibaum zu tanzen oder zu Weihnacht Rosinenpudding zu essen und hübsche Mädchen unter dem Mistelzweig zu küssen. Die beiden erlauchtesten Söhne und erleuchtetsten Träger des Puritanismus, der Ideemann Milton und der Tatmann Cromwell, sie wußten und wollten freilich von solcher Borniertheit nichts. Der große Oliver war sogar ein Stück von einem Humoristen, der mit seinen »Ironsides« fromm psallierte, aber auch fröhlich pokulierte. Im Lager predigte er ihnen was vor, aber vor dem Feinde sagte er zu ihnen: »Haltet euer Pulver trocken!«

Es verhielt sich eben mit dem Puritanismus, wie es sich mit noch gar vielem verhielt und verhält. Geniale Menschen tun neue Ideen auf, und ihre mittelmäßigen Nachbeter machen geistlose Schablonen daraus. Der Rabbi Jesus von Nazareth ließ es sich, als er sich einen »Sohn Gottes« nannte, gewiß nicht träumen, daß vernagelte Bonzen an diesem Worte so lange herumquetschen und herumzerren würden, bis glücklich das Kredo (– » quia absurdum«, d. h. weil es ungereimt ist) des Dreifaltigkeitsdogmas daraus geworden wäre.

Die Schicksale des Puritanismus machen es begreiflich, daß er ein finster zelotisches Wesen annehmen konnte, und daß seine ganze Anschauungs-, Denk- und Sprechweise vom alttestamentlichen Molochismus durchsäuert wurde. Wenn er aber so dumm war, die Freude am Leben für Sünde zu halten, so ist das seine Sache gewesen, und er hat damit zumeist nur sich selber genarrt und geschadet. Viel schlimmer dagegen war es, daß er, eingekrebst in seinen steinherzigen Bibelglauben, das schnöde Unrecht, das an ihm verübt worden, auch seinerseits zu üben begann, daß er, nachdem er kaum aufgehört, ein Verfolgter zu sein, ein Verfolger wurde. Die Puritaner henkten nicht etwa nur Hexen, sondern sie wüteten auch gegen alle, welche sich nicht zum striktpuritanischen Katechismus bekannten. So war in den fünfziger Jahren des 17. Jahrhunderts in Boston und der ganzen Kolonie Massachusetts, welche bekanntlich der bedeutendste unter den Pflanzstaaten von Neuengland war und blieb, eine heftige Verfolgung gegen die Sekte der Quäker im Gange, die sich allerdings durch ihren absonderlichen Fanatismus sehr unbequem machten und manches unerträgliche Ärgernis gaben. Lief doch eines Tages eine hübsche Quäkerin, Deborah Wilson, in der Glut ihrer Verzückung fasernackt durch die Gassen von Salem und entschuldigte einer ihrer Mitquäker die Eingefangene und in den Stock Gelegte mit den Worten: »So der Herr eine seiner Töchter antreibt, euch ein Zeichen eurer Nacktheit zu sein, so ist das freilich ein schweres Kreuz für ein anständiges Frauenzimmer; aber der Herr will Gehorsam.« Ein anderer Glaubensbruder des »anständigen Frauenzimmers« meinte, der Herr habe ja dem Propheten Jesaia (Kap. 20) auch befohlen, nackt einherzugehen »zum Zeichen und Wunder über Ägypten und Mohrenland«. Es dürfte überhaupt schwer oder unmöglich sein, eine Schamlosigkeit, Gaunerei, Schurkerei oder Brutalität auszuhecken, für welche sich im »Buch der Bücher« nicht ein »frommes« Vorbild auffinden ließe.

Alle Katechismusphrasen beiseite gestellt, heißt die große Feder in dem Triebwerk der Natur und der Gesellschaft Eigenliebe. Die Kultur kann diese ihre Haupttriebkraft veredeln, aber sie darf nicht daran denken, sie zerstören zu wollen, ohne sich selbst zu vernichten. Der ruhelose Wunsch eines jeden Menschen, seine Lage zu verbessern, ist der große Motor aller sozialen Entwicklung, alles Vorschritts. Die menschliche Selbstsucht ist demnach keineswegs an und für sich verwerflich; sie bedarf nur der vernünftigen Beschränkung und Leitung, welche an die Hand gegeben ist durch die Tatsache, daß das wirkliche Wohlbefinden und Glück des einzelnen abhängig ist von dem Wohlbefinden und Glück der Gesamtheit. Die alberne Lüge, daß Jesus zuerst die frohe Botschaft der Liebe verkündigt habe, kann man nur noch ganz unwissenden Menschen einstreichen. Wie in seiner Mythologie, so ist das Christentum auch in seiner Moral keineswegs originell. Es hat nur Vorgefundenes sich angeeignet. Sechshundert Jahre schon vor Christus hatte Sakjamuni-Buddha gepredigt: »Seid grenzenlos barmherzig gegen alle Geschöpfe!« Vierhundert Jahre vor Christus ließ Sophokles seine Antigone sagen: »Nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich da!« Das im Markusevangelium (12, 31) gegebene Haupt- und Grundgesetz der »christlichen« Moral: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!« ist bekanntlich buchstabengetreu aus dem dritten der sogenannten Bücher Mosis (K. 19, V. 18) entlehnt. Selbstverständlich befolgten die Christen dieses Gebot gerade so wenig, als es die Juden befolgt hatten. Und sie konnten es nicht befolgen; denn es enthielt eine naturwidrige, eine übernatürliche und übermenschliche Zumutung, welche in dem Jesu in den Mund gelegten »Liebet eure Feinde!« ihre äußerste Zuspitzung erhielt. Eine solche widermenschliche Phrase mag in Katechismen paradieren, um Kinder damit zu unterhalten oder auch zu langweilen; für das wirkliche Leben aber war und ist sie ganz wertlos. Das große Moralgesetz der Vernunft und Humanität fordert nichts Unmögliches, Supranaturalistisches, Naturwidriges. Es lautet: Sei so glücklich, wie möglich; aber sei es nicht auf Kosten deiner Mitmenschen!

Die Puritaner von Neuengland waren weit entfernt, dieses edle Prinzip zu erkennen und zu bekennen. Ihre Religion, d. h. ihre Unduldsamkeit verwehrte es ihnen. Wie hätte überhaupt der Protestantismus des 16. und 17. Jahrhunderts duldsamer sein sollen, als Papst und Inquisition waren, da er als höchste und unbedingte Autorität, als das »geoffenbarte Wort Gottes« die Bibel anerkannte und verehrte, d. h. die kunterbunte literarische Hinterlassenschaft des halbbarbarischen Judenvolks, das an roher Selbstsucht und erbarmungsloser Grausamkeit nicht seinesgleichen gehabt und folgerichtig aus seinem eigensten Wesen heraus sich einen »Gott des Eifers, des Zornes und der Rache« zurechtgemacht hatte?

Um jedoch den Gründern der Neuenglandstaaten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, muß man zu ihrer Entschuldigung neben der allgemeinen Unwissenheit und besonderen theologischen Verbohrtheit ihrer Zeit noch anführen, daß eine straffe, mit strenger Zucht verbundene Glaubenseinheit nötig erscheinen konnte, um diese mühselig der Wildnis abgerungenen und vom Mutterland herüber häufig bedrohten jugendlichen Gemeinwesen aufrechtzuerhalten und weiterzubringen; sowie, daß in jeder kleineren oder größeren menschlichen Gesellschaft die Vernünftigen zu den Dummköpfen sich verhalten wie 1 zu 100 und letztere demnach schon durch die bloße Wucht ihrer Dummheit das Aufkommen der Vernunft erschweren oder auch ganz verhindern.

Jedermann weiß, daß der große Grundsatz unbedingter Glaubens- und Denkfreiheit, unbeschränkter Toleranz einer der Grundpfeiler war, auf denen die riesige Republik der Vereinigten Staaten von Nordamerika sich aufbaute.

Wer hat diesen Grundpfeiler gesetzt? Wer hat zuerst aus Erden einen Staat gegründet, wo, wie die Abkömmlinge aller Nationen und Stände, so auch die Bekenner aller Religionen absoluter Rechtsgleichheit sich zu erfreuen hatten? Ein ausgestoßener, geächteter und verfolgter Mann, ringend mit Armut, Hunger und jeder Mühsal und Beschwernis, der charakterfesteste, unerschütterlichste Kopf und das mildeste, liebevollste Herz, ein Held im höchsten Sinne des Wortes, so es jemals einen gegeben.

3.

Im Februar 1631 kam ein puritanischer Prediger, Roger Williams geheißen, aus England in die junge »Baikolonie« (Massachusetts) herüber. Er war der Verfolgung entwichen, welche damals daheim gegen seine Glaubensgenossen in erneuten und verschärften Gang gebracht worden. Der falsche, meineidige und grausame Stuart, König Karl I., welcher nachmals verdientermaßen vom großen Cromwell aufs Schafott geschickt wurde, hatte angefangen, mittels seiner beiden Haupthandlanger, mittels des Junkers Wentworth-Strafford und des Pfaffen Laud, feine rechts- und verfassungsbrüchige Zwingherrschaft aufzurichten, welche dann Held Oliver auf dem Marstonmoor zum Wanken brachte und bei Naseby zu Boden schlug.

Williams war bei seiner Ankunft in Boston wenig über dreißig Jahre alt. Eine Aufzeichnung von damals bezeichnet ihn als einen »jungen Geistlichen, fromm und eifervoll, mit kostbaren Gaben ausgestaltet ( a young minister, godly andzealous, having precious gifts)«. Was aber den Ankömmling turmhoch über die Puritaner vom Durchschnittsmaß stellte, war, daß ihn die Verfolgung, welche er erlitten, nicht zum Verfolger machte. Die Unduldsamkeit selber hatte ihn Duldsamkeit gelehrt.

Nicht plötzlich. Denn noch bei seinem ersten Auftreten in Amerika wollte ihn ein Beobachter, der ihm nicht abgünstig war, schwankend im Urteil ( unsettled in justment) finden. Die Wahrheit ist eben kein Ding, welches jedem vor den Füßen liegt und nur so leichtweg aufgehoben werden kann. Auch Roger Williams mußte sich mühselig durch die labyrinthischen Schachte und Gänge des Zweifels und der Forschung hindurcharbeiten, um zur Überzeugungsfreudigkeit zu gelangen, und es sind Anzeichen vorhanden, die die Vermutung gestatten, daß gerade in den 66 Tagen, während der winterlich stürmische Ozean den Auswanderer auf seinen Wogen schaukelte, die köstliche Frucht seines Nachdenkens gereift sei Vgl. Knowles » Life of Roger Williams.« Boston 1835..

Gewiß ist, daß er die Neue Welt betrat als Träger eines neuen Prinzips. Er trug in seiner Seele den so einfachen und doch so großen Gedanken der Unverletzlichkeit des Gewissens, er brachte auf seinen Lippen die Lehre von der religiösen Duldsamkeit, er kam als Verkündiger des Satzes, daß keiner geistlichen oder weltlichen Obrigkeit das Recht zustehe, die Meinungen zu bestrafen, in das Innerste und Eigenste des Menschen gewaltsam einzugreifen und die Überzeugungen zu maßregeln. Mit vollem Rechte durfte darum der Geschichtschreiber Amerikas sagen, Williams' Lehre habe ihrem Verkündiger unvergänglichen Ruhm und in ihrer Anwendung der amerikanischen Welt den religiösen Frieden gebracht ( as it application has given religious peace to the American world).

Zuvörderst freilich brachte der kühne Selbstdenker, der Prophet der Denk- und Glaubensfreiheit nicht den Frieden, sondern den Krieg nach Neuengland. Denn neue Ideen wollen und müssen sich ja geltend machen, und ein von dem Öle lauterster Begeisterung genährtes Licht kann sich nicht unter dem Scheffel bergen. Es will und muß leuchten und beißt lichtscheue Augen unsänftiglich. Roger Williams war auch weit entfernt, das von ihm entzündete Licht auszublasen, als das zelotische Geschrei: »Ärgernis! Ärgernis!« dagegen anstürmte. Als ein rechter Held des Gedankens besaß er, so sanften und milden Herzens er war, jenen unbeugsamen Mut der Überzeugung, ohne den das Genie nur eine Spielerei ist. Es lebte in diesem Manne jene straffe und starre Logik der Gesinnung, ohne welche, die leicht hantierlichen Waschlappen von Anbequemern und Anschmiegern mögen sagen was sie wollen, nichts Großes geschaffen, nichts Menschen- und Völkergeschicke Bestimmendes vollbracht wird. Wie verlorene Dirnen sich über nichts so sehr ärgern und erbosen wie über die jungfräuliche Keuschheit und frauliche Würde, so ärgert und erbost sich unsere Zeit über nichts mehr als über Gesinnung und Charakter. Sie weiß wohl, warum.

Roger Williams hatte sich gleich nach seiner Ankunft in Massachusetts dem Puritanismus von der strikten Observanz verdächtig und verhaßt gemacht durch die Verlautbarung seiner Ansicht, daß die Verschmelzung von weltlichem und geistlichem Regiment, wie sie in den Kolonien bestand, vom Übel sei. Kirche und Staat, meinte er, kirchliche und bürgerliche Obrigkeit müßte getrennt sein. Man sieht, der Mann eilte seiner Zeit um zwei Jahrhunderte voran. Er sprach auch offen und nachdrücklich aus, keine Regierung sei berechtigt, einen Menschen wegen Verletzung der vier ersten der zehn Gebote zu bestrafen, weil das Verhalten des Menschen zu diesen Geboten durchaus nur Sache des Gewissens und demnach jedem zu überlassen sei. Eine Strafgewalt der Obrigkeit könne erst dann eintreten, wenn eine Verletzung jener Gebote für den Frieden und die Sicherheit der Gesellschaft erweisbar störsam wäre.

Sehr verständiger Weise wollte demnach Williams die religiösen der zehn sogenannten mosaischen Gebote von den sozialen getrennt und jene als solche angesehen wissen, deren Befolgung oder Nichtbefolgung jeder Mensch schlechterdings nur mit sich selbst auszumachen habe.

Es liegt auf der Hand, daß dies ein ungeheurer Vorschritt über den Protestantismus des 17. und nicht minder auch über den offiziellen Protestantismus des 19. Jahrhunderts hinaus war. Roger Williams hat in Wahrheit manche der hellsten Ideen und humansten Forderungen der Freidenker und Aufklärer des 18. Jahrhunderts vorweggenommen. Klar ist aber auch, daß der orthodoxe Puritanismus von Neuengland über die Aufstellungen des genialen Mannes sich entsetzen mußte.

Das Gezeter gegen den »Ketzer« begann denn alsbald. Die Cotton, Hooker, Mather und wie die Kerzen der Kirche von Neuengland weiter hießen, sie waren richtige Diener ihres Gottes des Zorns und der Rache. Eine Erscheinung wie jene herrliche athenische Priesterin Theano, welche, zur Zeit des Peloponnesischen Krieges von Staats wegen zu einer Verfluchung aufgefordert, sich weigerte mit den Worten: »Ich bin Priesterin zum Segnen, nicht zum Fluchen!« würde diesen finsteren Eiferern ganz unbegreiflich gewesen sein. Sie ihrerseits waren Priester zum Fluchen.

Um gerecht zu sein, muß man sagen, daß Williams seinerseits es nicht an Herausforderungen fehlen ließ. Es war in ihm ein starker Zug von theologischer Zanksucht und von jener pastorlichen Vielgeschäftigkeit, welche nicht umhin kann, einen Finger oder gar alle zehn in alles und jedes zu stecken. Ein vorragender amerikanischer Staatsmann der neueren Zeit, John Quincy Adams, hat zwar mit entschiedenem Übelwollen, aber doch nicht ganz ohne Grund von Williams gesagt, dieser hätte »mit einer Inkonsequenz, welche religiösen Enthusiasten eigen, die edelsten und liebenswürdigsten Herzensregungen mit der unerbittlichsten Ausschließung aller Versöhnlichkeit verbunden, wo es sich um Meinungen handelte«. Aber der große Unterschied zwischen Williams und seinen Gegnern ist dieser gewesen, daß jener seine Meinungen nur mit Vernunftgründen behauptete, diese dagegen die ihrigen mittels Anwendung von brutaler Gewalt aufrechtzuerhalten suchten. Diesen entscheidenden Punkt zu berühren hat Adams sich wohl gehütet. Und wie sollte wohl ein neues Prinzip im Gewohnheitsschlendrian der Welt sich Raum und Geltung verschaffen können, wenn es nicht mit unerbittlicher Eisenköpfigkeit sich Platz machte?

In scharfen Konflikt mit den herrschenden Gewalten mußte der Prophet der Glaubensfreiheit besonders dadurch kommen, daß er den in Neuengland herrschenden Kirchenzwang entschieden verwarf. Die Obrigkeiten hielten streng darauf, daß jedermann den öffentlichen Gottesdienst besuchte, wogegen Williams den Satz aufstellte und verfocht: »Niemand darf gegen seinen Willen gezwungen werden, eine Kirche zu besuchen oder zu ihrer Erhaltung beizutragen«. Das kam natürlich den Priestern ganz ungeheuerlich vor. Das hieß die Religion in ihrem innersten Heiligtum angreifen, d. h. ein Loch in den Pfaffensack bohren. »Was«, schrien sie, »ist der Arbeiter nicht seines Lohnes wert?« – »Ganz gewiß ist er seines Lohnes wert«, entgegnete Williams; »aber er kann ihn nur von solchen fordern, die ihn gedungen haben und für die er arbeitet«. Der Streit erweiterte und vertiefte sich bis zur Behandlung von Fragen, die das eigenste Wesen von Kirche und Staat berührten. Die Gegner sagten: »Die Obrigkeit hat das Recht und die Pflicht, die Seelen des Volkes vor dem Verderbnis zu wahren und demnach das, was ihr als Irrtum und Ketzerei erscheint, zu bestrafen«: Worauf Williams: »Mitnichten! Obrigkeiten sind nichts als Bevollmächtigte und Diener des Volkes, denen eine Gewalt in religiösen Dingen niemals übertragen werden kann, weil das Gewissen nur ein Eigentum jedes einzelnen Menschen ist und nicht der Staatsgemeinschaft angehört ( magistrates are but the agents of the People or its Trustees, on whom no power in matters of worship can ever be conferred: since conscience belongs to the invidual and is not the property of the body politic)«.

Solche erleuchteten Ansichten konnten nichts als Verfolgung einbringen. Sie hob auch tatsächlich an, sobald die Gemeinde von Salem Roger Williams zu ihrem Pastor gewählt hatte (1634), und zwar ohne vorher in Boston anzufragen. Von hier aus ward gegen den Verkündiger der großen Lehre von der Freiheit des Geistes eine Reihenfolge von Quengeleien und Quälereien in Szene gesetzt, die an Schärfe in eben dem Verhältnisse Zunahmen, in welchem es sich herausstellte, daß in Führung der theologischen Kontroverse die Bostoner Orthodoxen gegen die Genialität und Dialektik des Salemer Ketzers schlechterdings nicht aufzukommen vermochten. Macht geht aber wie dem Rechte so auch dem Genie vor, und die Feinde von Williams waren im Besitze der Macht. Auf Betreiben von Ehren Cotton, einem Hierarchen von echt calvinischem Schnitte, dessen geistlicher Hochmut es nicht verwinden konnte, daß es einen Menschen geben sollte, welcher seiner puritanischen Päpstlichkeit sich nicht beugen wollte, wurde schließlich gewaltsam gegen Williams vorgegangen.

Schon im November 1635 wurde ein Dekret erlassen, kraft dessen er aus dem ganzen Gebiet von Massachusetts verbannt sein sollte. Als dann in Boston verlautete, der Verbannte wolle sich mit einer Anzahl seiner Anhänger von Salem aufmachen, um an der Narragansettbai eine eigene Niederlassung zu gründen, erschien das der völlig von den Cotton und Hooker beherrschten Bostoner Regierung so bedrohlich, daß sie beschloß, den Ketzer nach der Hauptstadt zu zitieren, ihn dort wie einen Verbrecher zu ergreifen und gewaltsam nach England einzuschiffen. Was dort seiner geharrt hätte, braucht nicht erst gesagt zu werden. Williams erwiderte dem Regierungsboten, er wäre krank, was völlig der Wahrheit gemäß, und bäte deshalb um Frist. Statt diese zu gewähren, sandte die Behörde ein bewaffnetes Boot gen Salem hinauf, um den Widerspenstigen als Gefangenen einzubringen. Aber er war noch rechtzeitig gewarnt worden, und zwar war die ihm zugegangene Warnung höchstwahrscheinlich von dem Haupte der Kolonialregierung selbst, von dem Governor Winthrop ausgegangen. Die Häscher fanden den Verfolgten nicht mehr in Salem. Noch halbkrank hatte er sich von seinem Lager aufgerafft und in die Wildnis geflüchtet.

4.

Mitten im strengsten Winter, im Januar 1636, vollführte der geächtete Mann seine müh- und gefahrvolle Flucht, über die Einzelheiten derselben sind wir wenig oder gar nicht unterrichtet. Wir wissen nur, daß er zunächst ganz allein den herben Mühen und mancherlei Gefahren dieser winterlichen Flucht trotzte; denn erst nach vielen Wochen gelang es etlichen seiner treuen Anhänger und noch später seiner Frau, welche von ihm abwendig machen zu wollen seine Feinde sich nicht schämten, sich wieder mit ihm zu vereinigen.

Es scheint, daß der Flüchtling die Massachusettsbai in einem Boote gekreuzt habe, um in dem Kolonialgebiet von Plymouth zu landen, das damals noch nicht mit dem von Massachusetts verbunden war. Aber auch auf Plymouther Boden war Williams, obwohl er dort von früher her Freunde hatte, nicht sicher, weil es die von Plymouth mit ihren mächtigeren Nachbarn von Boston nicht verderben wollten. Seine Hoffnung waren die Indianer, insbesondere der Sachem der Pokanoketen, Massasoit. Williams hatte sich während seines früheren Aufenthalts in der Kolonie Plymouth liebevoll der Eingeborenen angenommen, wie sein humaner Sinn es ihm gebot. Er hatte ihre Sprache gelernt, ihre Anschauungen, Zustände und Sitten erforscht, ihr Zutrauen gewonnen. Zu den Rothäuten also schlug er sich durch die Wälder hin. »Vierzehn Wochen lang«, hat er später erzählt, »ward ich in schlimmster Jahreszeit bitterlich umhergeworfen, ohne zu wissen, was ein Stück Brot oder ein Bett sei. Ohne Führer durchwanderte ich die Wildnis und hatte gar oft in stürmischer Nacht kein Feuer, keine Nahrung, keinen Gefährten und als einziges Obdach einen hohlen Baum.« Endlich erreichte er die Wigwams der Pokanoketen, und Massasoit nahm seinen »Blaßgesichtsbruder« gastlich auf. Für das gewährte Asyl stattete der Ankömmling seinen Dank dadurch ab, daß er den mächtigen Kanonikus, Sachem der Narragansetter, welcher gerade den Kriegspfad gegen die Pokanoketen betreten wollte, seinem Gastfreunde Massasoit versöhnte. Von da ab ist Williams auch bei den Narragansettern in hohes Ansehen gekommen und bis zu seinem Tode darin geblieben. Die Rothäute haben vielleicht kein zweites Blaßgesicht so geliebt wie diesen Mann, den seine Landsleute und Mitchristen ausgestoßen haben, weil er weiser und besser war als sie. Wenn dereinst die »roten Männer« vom Angesicht der Erde weggetilgt sein werden, wird im Buche der Humanität der Name von Roger Williams mit denen von John Elliot, William Penn und George Washington zu verzeichnen sein; denn diese Vier sind es gewesen, welche vor allen anderen durch die kupferfarbige Epidermis hindurch den Menschen, den Menschenbruder erkannten und ihn als solchen achteten und schützten.

Williams siedelte sich unter den Indianern an, von denen er dankbar gesagt hat: »Diese Raben fütterten mich in der Wildnis«. Da, wo heute Rehoboth steht, etwas landeinwärts vom Ufer des östlichen Armes der Narragansettbai, schlug er auf einem von Massasoit erstandenen Stücke Land zuerst seine Siedlerhütte auf, und hier fanden sich die ersten Bekenner seiner Anschauungen und Gefährten seiner Mühen und Leiden zu ihm: fünf Männer, Landbauer und Handwerker aus Salem, welche den Spuren ihres Meisters in die Einöde gefolgt waren. Aber auch hier sollte der Verfolgte noch keine Ruhe und Sicherheit haben. Der Gouverneur von Plymouth, Winslow, hatte kaum von der neuen Ansiedlung vernommen, als er, um es nicht mit den Bostonern zu verderben, eine Botschaft an Williams abgehen und ihm sagen ließ, der Platz, worauf der Flüchtling sich niedergelassen, gehöre zum »Patent« von Plymouth, was heißen wollte: Geht um einen Strich Landes weiter! Doch fügte Winslow, welcher dem Fortgewiesenen nicht abgeneigt war, den Rat bei, Williams sollte über den Fluß (d. h. über die Bai) gehen. Drüben würde er ganz frei und unabhängig sein, da dort das Land zum Patent, d. h. zum Gebiete weder von Plymouth noch von Massachusetts gehörte.

Der Rat war klug und wurde befolgt. In einem indianischen Kanu ruderte Williams mit seinen fünf Genossen den Arm der Bai, jetzt gewöhnlich Fluß Seakong, hinauf. Vom rechten Ufer riefen ihnen freundlich gesinnte Narragansetter in gebrochenem Englisch zum Willkommen zu: » What cheer, Yankees Das Wort Yankees, womit heute die Bewohner der Neuenglandstaaten im Gegensatz zu den Bewohnern der westlichen und südlichen Staaten der Union bezeichnet zu werden pflegen, soll bekanntlich die indianische Korruption des Wortes English sein, welches die Indianer nicht auszusprechen vermochten.!« Die heimatlosen Männer nahmen das für ein gutes Omen, fuhren noch um die Landspitze Fox-Point herum und gingen am westlichen Ufer ans Land, da, wo nahe der Küste eine reiche Quelle aus dem Boden sprudelte. »Williams' Brunnen« heißt die noch heute sprudelnde, also genannt zum Ehrengedächtnis daran, daß hier der Prophet der Gewissensfreiheit, der Gründer des Freistaates Rhode-Island zuerst seinen Fuß auf den Boden desselben gesetzt hat.

Die Landschaft hieß Maushasuck und gehörte zu den Jagdgründen der Narragansetter. Ihr Sachem schenkte die ganze Halbinsel, welche durch die Flüsse Maushasuck (später Providence-River) und Pawtucket gebildet wird, an Roger Williams. Dieser teilte den ganzen Grundbesitz, der ihm und nur ihm allein geschenkt war und ihm, wie er sich ausdrückte, »so gewiß allein gehörte, wie der Rock, den er auf dem Rücken trug«, mit seinen Gefährten, deren Zahl im Verlaufe des Sommers auf zwölf anwuchs, und zwar vollzog er die Teilung so, daß er sich nicht den geringsten Vorteil ausbedang oder auch nur einen Fußbreit Landes mehr behielt, als er jedem der Schicksalsgenossen gab. Also gleichbesitzend und gleichberechtigt traten die dreizehn Pioniere der Zivilisation, der Glaubens- und Denkfreiheit zu einem bürgerlichen Gemeinwesen zusammen und gründeten die Ansiedlung Providence, wie Williams den Ort nannte, um sein unerschütterliches Vertrauen auf die göttliche Vorsehung auszudrucken. »Ich wünschte«, sagte der Gründer, »daß Providence der Zufluchtsort für Menschen sein möchte, welche um des Gewissens willen verfolgt werden ( I desired, it might be for a shelter for persons distressed for conscience).«

Zunächst war die junge Kolonie ein Sitz härtester Mühsal und bitterster Armut. Zwar gab Williams seine Tätigkeit als Lehrer seiner Gefährten und als Prediger unter den Indianern nicht auf, allein seine Studien und seine schriftstellerischen Arbeiten – er hatte nicht einmal Papier zum Schreiben – mußte er einstweilen ganz beiseite legen, weil des Lebens Notdurft seine Zeit so in Anspruch nahm, daß er – wie er selber erzählt – »bei Tag und Nacht, daheim und auf dem Felde, zu Land und zu Wasser mit Hacke, Beil, Spaten und Ruder tätig sein mußte, um des Brotes willen«.

Inmitten der Bedrängnisse, mit denen die junge Freigemeinde zu ringen hatte, wurde dem Stifter und Leiter derselben die Genugtuung zuteil, daß er seinen Feinden und Verfolgern einen außerordentlichen Dienst zu leisten, eine größte Wohltat zu erweisen Gelegenheit erhielt. Er leistete diesen Dienst und erwies diese Wohltat. Er rächte sich an den Kolonisten von Boston, wie sich der geniale Mensch an Durchschnittsmenschen rächt, indem er ihnen seine Überlegenheit dadurch beweist, daß er ihnen hilft.

Zu Ende des Jahres 1636 und zu Anfang des folgenden waren nämlich unter den Indianerstämmen von Neuengland bedrohliche Bewegungen im Gange. Die Pequoden waren in blutige Händel mit den Ansiedlern von Konnektikut geraten, und ihr schlauer und kühner Sachem Sassakus hatte den Plan gefaßt, die sämtlichen roten Männer von Neuengland in einem großen Kriegsbunde zu vereinigen, und die ihm verhaßten Blaßgesichter, welche, wie er ganz richtig voraussah, den Untergang der Eingeborenen herbeiführen würden, ins Meer zu werfen. Alles kam darauf an, ob der mächtigste Stamm, der der Narragansetter, sich für diesen Bund gewinnen ließe oder nicht. Taten sie es, so war die Lage der Kolonien geradezu verzweifelt. Man wußte in Boston, daß Sassakus seine gewandtesten Unterhäuptlinge nacheinander als Boten zu den Narragansettern schickte, um den alten Kanonikus und dessen jungen Mitsachem Miantonomoh zu bestürmen und für den großen Indianerbund zu gewinnen.

In dieser Gefahr konnte nur einer helfen, Roger Williams. Jetzt erinnerte man sich in Boston des Verketzerten, Verfolgten und Verbannten, den man gewaltsam hatte nach England hinüberschaffen wollen, um ihn auf dem Schafott oder in den Kerkern Lauds sterben zu lassen. Die Regierung von Massachusetts wandte sich an ihn mit der Bitte, die Narragansetter von der Allianz mit den Pequoden abzuhalten. Der Schwergekränkte fühlte nur, daß seine Brüder, wie feindselig und grausam sie sich ihm erwiesen hatten, doch seine Brüder wären, und kam auf der Stelle ihrem Wunsche nach. Stürmen und Wogen trotzend, machte er sich nach dem großen Wigwam der Narragansetter auf, wo die Häuptlinge der Pequoden anwesend waren, und dort setzte er in tage- und nächtelangem Redekampf, wobei sein Leben mehrmals nur an einem Haare hing, mittels seines Einflusses auf den Kanonikus und Miantonomoh, mittels seiner Kenntnis des Indianercharakters und mittels seiner Beredsamkeit im Indianeridiom es durch, daß die Narragansetter den Allianzantrag der Pequoden zurückwiesen und den Tomahawk nicht gegen die Blaßgesichter erhoben. Das hat die Kolonien gerettet. Denn mit den Pequoden allein vermochten sie schon fertig zu werden, um so mehr, da die Narragansetter passiv, die Mohikaner sogar aktiv gegen jene zu ihnen standen. Die Folgezeit hat freilich bewiesen, daß der arme Sassakus von seinem indianischen Standpunkt aus sehr recht gehabt hatte.

Das am Pawtucket gegründete Asyl für Gewissenfreiheit gedieh. Nicht ohne innere Entwicklungskämpfe, wie sie bei einem Gemeinwesen, welchem nach und nach die buntscheckigste Menschenmenge, welchem Gläubige und Ungläubige aller Arten zuströmten, nicht ausbleiben konnten; auch nicht ohne vielfache Anfechtungen von außen: aber es gedieh. Aus den kümmerlichen Anfängen der Ortsgemeinde (» town-followship«) Providence entwickelte sich allmählich der Staat Rhode-Island, was ursprünglich nur der Name einer zweiten auf der Insel Aquidneck gegründeten Ansiedlung gewesen war. Da dem jungen Staatswesen Gefahr daraus zu erwachsen schien, daß die Baikolonie Miene machte, Anspruch auf das Gebiet von Rhode-Island zu erheben, ging Roger Williams im Jahre 1643 nach England, um ein »Patent« und eine »Charte« (Freibrief) zu erwirken. Es war nicht mehr die Zeit, wo der Prophet der Gewissensfreiheit auf englischem Boden eines Übeln Empfangs sicher gewesen wäre. Das Parlament hatte seinen großen Kampf gegen königliche und priesterliche Tyrannei begonnen. Strafford hatte seinen Kopf auf den Richtblock legen müssen, Laud erwartete im Kerker seine wohlverdiente Hinrichtung. Williams fand in London Freunde und erwirkte eine Charte, kraft deren die Pflanzungen von Providence und Rhode-Island als eine gemeinsame, selbständige, von den übrigen unabhängige Kolonie anerkannt wurde.

Wie gedeihlich sich diese bereits entwickelt hatte, zeigt eine von Knowles, dem Biographen des Gründers, erwähnte Tatsache. Als Williams, aus England zurück, die Bai gen Providence hinauffuhr, waren Bucht und Fluß mit Booten bedeckt, voll von Bürgern und Bürgerinnen, welche ihren Wohltäter, den »Vater eines Volkes«, mit freudigen Segenswünschen daheim willkommen hießen. Sie hatten alle Ursache, dankbar und fröhlich zu sein. Der von Williams mitgebrachte »Freibrief« verdiente vollständig diesen Namen. Auf Grund desselben wurde Rhode-Island tatsächlich ein demokratischer Freistaat; denn diese Charte überließ es der Mehrheit der Einwohnerschaft, Gesetze zu geben und die Regierungsform zu bestimmen, unter der alleinigen Bedingung, daß die Gesetze denen Englands nicht widersprächen.

Später, im Jahre 1652, ist Williams noch einmal nach dem Mutterlands hinübergereist. Es galt die Rücknahme unliebsamer und verkehrter Maßregeln zu erwirken, welche nach Abtuung des Königtums in England der Staatsrat der Republik, schlecht unterrichtet und von falschen Voraussetzungen ausgegangen, über Rhode-Island verhängt hatte. Auch diesmal vollzog Williams die ihm von seinen Mitbürgern übertragene Sendung mit glücklichstem Erfolge. Cromwell selbst half ihm dazu; denn der Gründer von Rhode-Island hatte die persönliche Bekanntschaft, die Achtung und Zuneigung des gewaltigen Mannes gewonnen. Schade, daß wir von den Gesprächen, die die beiden geführt, keine Kenntnis haben. Im Jahre 1653 ist Williams nach Providence heimgekehrt und hat, dem einmütigen Wunsche seiner Mitbürger nachgebend, in den nächsten zwei Jahren die Verwaltung des jungen Staates als oberster Magistrat geleitet. Der erste Berater desselben blieb er auch nach seinem Rücktritt in den Privatstand, und durch manchen Sturm, an mancher Klippe vorbei hat er noch das Staatsschiff geschickt und glücklich gelenkt. Ihm war vergönnt, von der Höhe eines rüstigen Greisenalters herab die Erfolge der Arbeiten und Anstrengungen seiner Mannesjahre zu überschauen. Es waren gesegnete, früchtereiche, fernhinwirkende. Endlich ist der erlauchte Patriarch von Rhode-Island im hohen Alter von 84 Jahren zur ewigen Ruhe eingegangen (1683).

Roger Williams war kein Philosoph, kein Freidenker, der den letzten Gründen nachforschte, das Warum des Warum zu finden strebte. Die himmelstürmende philosophische Mathematik seines großen Zeitgenossen Spinoza würde ihn, wenn er sie gekannt hätte, mit Entsetzen erfüllt haben. Er stand fest auf dem Boden des jüdisch-christlichen Mythus und nahm gläubig die Bibel für Gottes Wort. Niemals ist ihm beigekommen, diese angebliche Offenbarung der Prüfung des gesunden Menschenverstands, der Logik der Vernunft zu unterwerfen. Er war und blieb ein presbyterianischer Theologe, aber – merkwürdig zu sagen! – er zog aus seinen theologischen Prämissen keine theologischen, sondern humanistische Folgerungen. Gerade das macht ihn zu einer so eigentümlichen, ja, chronologisch angesehen, einzigen Erscheinung. Allzeit streitfertig, hat er sein Leben lang theologisch polemisiert und noch im höchsten Greisenalter gegen die Doktrin der Quäker geschrieben. Aber – glorreiche Inkonsequenz! – von Jugend auf bis zu seinem letzten Atemzug bekannte er sich zu dem Grundsatz: In geistigen Dingen dürfen nur geistige Waffen gebraucht werden, und darum ist alle und jede Anwendung von materieller Gewalt und Strafmitteln in Sachen des Denkens und Glaubens durchaus unstatthaft und verwerflich; niemand darf um des Gewissens willen verfolgt werden. Dieses große Prinzip der Toleranz, bestimmt, in der Entwicklung der menschlichen Zivilisation eine ungeheure Revolution hervorzubringen – Roger Williams hat es zuerst mit klarem Bewußtsein verkündet und mit heldischer Energie behauptet – nicht aus den Vorstellungen seines theologisch eingeengten Kopfes, sondern vielmehr aus der heiligen Begeisterung seines liebevollen Herzens heraus. Sein ganzes Leben war ein Kampf gegen pfäffische Tyrannei, und er führte diesen hochedlen Kampf so, als ob – mit Lenau zu sprechen –

»Schon die Zukunft hörte rauschen
In der Ferne der Prophet.«

Und wenn heute dieser prächtige Mensch wiederkäme, wie müßte er staunen über alles das Große, was seither seine Idee, sein Kämpfen, sein Leiden bewirkt haben auf Erden, insbesondere auf amerikanischer Erde! Einer der gewaltigsten Hebel der kolossalen Kraftentfaltung der Vereinigten Staaten ist ja die religiöse Toleranz geworden, deren Panier Roger Williams zuerst in der Wildnis aufgepflanzt hat. Es ist etwas vom Genius dieses hochherzigsten aller Pioniere in der ganzen Entwicklung des Amerikanertums, etwas in ferne Zukunft kühn und siegessicher Hinausgreifendes. In eine Zukunft, wo die »Welt« Amerika heißen wird. Daher dieses scheinbar spielend leichte Bewältigen riesenhafter Probleme der Gegenwart, daher dieses wagnisfrohe Hinwegspringen über die bergehohen Bedenklichkeiten europäischer Philisterei.


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