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Ninon de Lenclos

Ewigjung und spiegelglatt und eben
Floß dies zephirgleiche Leben.

Variante zum Schiller.

1.

Die Zeit der Demokratie ist noch nicht gekommen, und dem nüchternen Beobachter könnte es mitunter scheinen, daß sie niemals kommen werde. Denn nicht nur verlangt die Demokratie, wo sie mehr sein soll als ein Trugbild, einen intellektuellen und sittlichen Bildungsgrad der Massen, wie er kaum jemals zu erreichen sein dürfte, sondern auch steht der Verwirklichung des demokratischen Gedankens – der tatsächlichen, nicht bloß papierenen Verwirklichung – die brutale Tatsache entgegen, daß die ungeheure Mehrzahl der Menschen, so, wie sie nun einmal sind, von Haus aus oder durch Gewöhnung oder infolge gemeiner Berechnung knechtisch ist.

Die tausendfach mitleidswerte, unter dem Joch der Nahrungssorgen keuchende, denkunfähige Menge, was weiß sie von Freiheit und was will sie davon wissen, kennen und haben? Nichts oder, wenn es hoch kommt, ein abenteuerlich ausstaffiertes und spektakelndes Zerrbild, statt der Göttin eine Mumba Jumba, die die Sklaven, wenn sie in einem Anfall von Verzweiflungsmut ihre Ketten zerbrochen haben, aus dem Fuselfaß der Zügellosigkeit tränkt, um die Berauschten mit Leichtigkeit wiederum fesseln zu können. Aber die Masse der »Gebildeten«? Oh, diese wohlerzogenen Herren und Damen, sie verhalten sich zur Erscheinung der Freiheit wie der arme Faust zur Erscheinung des Erdgeists. »Weh, ich ertrag' dich nicht!« Und zu Boden geworfen durch ihre Majestät, vermag eine liebe liberale Mittelmäßigkeit den Angstblick nicht höher zu heben als bis zum Saume des Gewandes der Göttin, der allerdings häufig genug von Blut und Tränen trieft. Sie aber wendet sich verachtungsvoll von dem »furchtsam weggekrümmten Wurm« der Bildungsphilisterei ab, wie der Erdgeist von seinem feigen Beschwörer, und dieser verfällt der Bestrickung durch Mephisto Konstitutionalismus, der verfassungsmäßigen Hokuspokus mit ihm treibt, und durch allerhand parlamentarische Gaukelei seinen Schützling glauben macht, der liberale Bildungsphilister schiebe (d. h. regiere), während er in Wahrheit geschoben oder unter Umständen auch gestoßen (d. h. regiert oder auch despotisiert) wird.

Im Ernste zu reden, das konstitutionelle System, dieser zweischlächtige Bastard, dessen Vater der Betrug und dessen Mutter die Heuchelei, ist zwar eine häßliche, aber, wie es scheint, notwendige Sprosse der unendlichen Leiter von Täuschungen und Enttäuschungen, mittels welcher die Menschheit mühselig zur Erkenntnis und Vervollkommnung emporklimmt. Die Gesellschaft muß durch diese Entwicklungsphase, durch diese Wüste, wo alles auf eine wechselseitige Berückung und Überlistung zwischen Krone und Kapital hinausläuft, hindurch, um zur Sehnsucht nach einem gesunderen und sittlicheren sozialen Prinzip zu gelangen. Diese Sehnsucht wird und kann jedoch zunächst nur in wenigen auserwählten, klaren und energischen Geistern Wurzeln schlagen und Keime treiben, womit angezeigt ist, daß der Konstitutionalismus keineswegs, wie die Gedankenlosigkeit wähnt, zur Demokratie, sondern vielmehr zur Aristokratie führt. Zur wahren und wirklichen Aristokratie, welche, weil ganz wesentlich eine Ritterschaft des Geistes und der Tatkraft, mit dem Aristokratismus eines englischen Oberhauses nichts gemein hat, geschweige mit dem kläglichen Pfuschwerk österreichischer, preußischer, bayrischer usw. Pairskammern. Diese Aristokratie der Zukunft wird die wahre und wirkliche Demokratie vorbereiten, vorausgesetzt, daß diese überhaupt eine Menschenmöglichkeit ist.

Aber die Möglichkeit, die Wahrscheinlichkeit der angedeuteten Gangart des Vorschritts der europäischen Gesellschaft wird kein Wissender bestreiten wollen. Denn wer seine Blicke auch nur auf die letzten drei Jahrhunderte betrachtend zurücklenkt, wird nicht anstehen zu bekennen, daß die vorwärtstreibende Bewegung eine rastlose und unaufhaltsame, sowie, daß die ein Zeitalter beseelenden Gedanken sich stets die Werkzeuge ihrer Verwirklichung zuzubereiten wußten.

So ein Werkzeug, und zwar ein tüchtigstes, war der große Kardinal Richelieu, einer der größten Revolutionäre, die jemals aufgestanden, ein wahrhaft epochemachender Mann. Die »rote Eminenz« unternahm genialisch ein Riesenwerk und führte es tapfer durch: die Umformung des mittelalterlich-geistlichen Staates in den weltlich-modernen. Obwohl selber von Geburt ein Baron und von Stand ein Priester, zerbrach er kühn mit seiner unerbittlichen Eisenhand die Fesseln, womit Feudalität und Hierarchie die Menschen gebunden hielten, und die von ihm vollbrachte Gründung der modernen Monarchie, des absoluten Königtums, sie konnte, so seltsam das heute klingen mag, sie mußte bei der damaligen Zeitlage als ein entschiedener Herausschritt aus der Finsternis ins Licht, aus der Knechtschaft in die Freiheit gelten, und zwar deshalb, weil der königliche Absolutismus zu seinem Bestehen zunächst eines neuaufkommenden sozialen Elements, des dritten Standes, der Bourgeoisie schlechterdings bedurfte. Mit dem Eintritt des dritten Standes in die weltgeschichtliche Bewegung tat sich aber, wie bekannt, für diese das Tor einer neuen Entwicklungsbahn auf.

Nach dem Hingang des großen Staatsmanns, der als der erste den sozialpolitischen Gedanken der Reformationszeit begriffen hatte, versuchten zwar Junkerei und Pfafferei, sein Werk wieder zu vernichten. Aber so tüchtig war es begründet, daß die Hände eines Mazarin und einer Anne d'Autriche, vereinigt, stark genug waren, es gegen die Angriffe der Helden und Heldinnen der Fronde, welche nur eine schlechtdurchgeführte Travestie des mittelalterlichen Feudalismus gewesen ist, mit Erfolg zu verteidigen. Der aalglatte Italiener und die indolente Spanierin waren gerade die rechten Leute, um den Boden der französischen Sozietät für die Inthronisierung des absoluten Königtums vollends zu ebnen und herzurichten.

Wie alle dergleichen Übergangsepochen, hatte auch die Zeit der Mazarinschen Regentschaft und der Regierungsperiode Ludwigs XIV. eine Fülle von Gegensätzen aufzuweisen. Die verscheidende Feudalität und die aufwachsende Autokratie spielten in kontrastvollen Farben. Auffallen muß vor allem, daß ein gewisser religiöser Zug durch die ganze Gesellschaft ging, während daneben die Sitten der höheren Klassen von Stufe zu Stufe in den übelriechenden Morast einer allgemeinen Verderbnis hinabsanken. Was trieb, schob und stieß sich da alles durcheinander! Hier die frivole Anbequemungspraxis der Jesuiterei, dort die düsterfanatische Theorie des Jansenismus. Hier das glorreiche Banner des Zweifels, das allzeit und überall der Menschheit auf ihrem Kulturgange voranweht, durch Descartes erhoben, dort der haarscharf zugeschliffene Stoßdegen oppositioneller Ironie in der Hand Pascals blitzend, und weiterhin die gewaltige Stimme Bossuets im Sinne katholischer Orthodoxie alle ketzerischen Regungen und Bewegungen scheinbar siegreich niederorgelnd. Nur scheinbar freilich. Denn überall kündigte sich bei näherem Zusehen in dem Frankeich des 17. schon das Frankreich des 18. Jahrhunderts an. In den höchsten Luftschichten der geistigen Atmosphäre war schon etwas wie Voltaireismus, ja sogar ein Vorschmack von Jakobinismus. Denn seht, da zapft zwar die gute alte Jungfer Madeleine de Scudéry aus dem Sirupfaß ihrer Phantasie unendliche Romane, in denen Loyalität, Chevalerie, Courtoisie und Galanterie ganz in dem Sinne der strengen Lehre vom unbedingten Despotismus, vom vergötterten Königtum gelehrt werden; aber zur selbigen Zeit schreibt Fenelon seinen Telemaque, worin der treffliche Erzbischof von Cambray gegen die Ausschreitungen und Zuchtlosigkeiten der unumschränkten Gewalt mit einer Kühnheit sich erhebt, daß man mitunter schon den Verfasser des » Contrat social« Rousseau. reden zu hören glaubt. Und wieviel religiösen, politischen und sozialen Aberglauben hat Lafontaine weggelächelt!

Die Teilnahme an den Fragen der philosophischen und theologischen Spekulation, wie an der Bewegung der schönen Literatur, war in der damaligen französischen Gesellschaft sehr lebhaft. Drüben in Portroyal suchten Einsiedler und Einsiedlerinnen, über der wahnwitzigen Lehre von der Gnadenwahl und Verdammnis brütend, den schwarmgeistigen Gedanken der Möncherei des Urchristentums zu verwirklichen. Hüben in Paris versammelten sich in den Salons des Hotels Rambouillet und Montmorency die »Gezierten« ( Précieuses), um Boileaus » Art poétique« zu erörtern oder die Vorzüge und Mängel Corneilles und Racines kritisch zu bequasseln. Das Thema war gewichtig genug, obwohl zu wetten ist, daß es in seiner Tiefe von diesen »preziösen« Damen und Herren schwerlich gefaßt wurde. Corneille, in seinem Wesen noch ganz Romantiker, hat dem scheidenden Mittelalter nur das formale Gepräge der französischen Klassik aufgedrückt. Racine dagegen ist der Verherrlicher der modernen Absolutie und Despotie und doch auch schon ihr Züchtiger. Wenigstens sein Meisterwerk »Athalie« ist geradezu eine gegen die Tyrannei gerichtete dramatische Strafpredigt. Indessen veranschaulichen die Werke der beiden großen Tragiker trotzdem sehr deutlich den wesentlich aristokratisch-exklusiven Charakter der Literatur ihres Landes im 17. Jahrhundert. Anders Molière, in welchem man, obschon er ein Hofkomödiant war und zunächst nur zur Ergötzung der vornehmen Kreise schrieb, den großen Vorläufer und Wegbahner der wesentlich bürgerlich-oppositionellen Literatur des 18. Jahrhunderts anzuerkennen hat.

Von einem läuternden und erhebenden, von einem wahrhaft zivilisatorischen und sittigenden Einflüsse, wie ihn z. B. die deutsche Klassik geübt hat, ließ freilich die reiche und glänzende Literatur Frankreichs im 17. Jahrhundert wenig oder nichts verspüren. Es war ein bewegtes, farbenhelles, reichkostümiertes, lustiges Leben; aber der Geist der Leichtfertigkeit und Liederlichkeit ist mächtig gewesen unter Männern und Frauen. Leben und leben lassen! war die allgemeine Losung, und so ließ man nicht nur die Ausschweifung, den Zynismus und die widernatürliche Sünde leben, sondern gewissermaßen auch das offenkundige Verbrechen. Es ist sehr charakteristisch, daß Madame de Sévigné am 17. Juli 1776 die Hinrichtung jenes Lasterbündels und Frevelknäuels, der Marquise des Brinvilliers, mit diesen Worten ihrer Tochter meldete: » Enfin, c'en est fait la Brinvilliers est en l'air; son pauvre petit corps a été jeté aptrès l'exècution dans un fort grand feu est ses cendres au vent; de sorte que nous la respirerons, et par la communication des Petits Esprits, il nous prendra quelque humeur empoisonnante, dont nous serons tout étonnés« (Die Brinvilliers ist jetzt in der Luft. Man hat ihren armen kleinen Körper nach der Hinrichtung in ein riesiges Feuer und die Asche in den Wind geworfen. Wenn wir nun die Geisterchen, die da umherschwirren, einatmen, so atmen wir einen vergiftenden Saft ein, über den wir uns wundern werden). Man sieht, hier ist keine Spur von sittlicher Entrüstung, sondern nur der frivole Anlauf zu einem ziemlich frostigen Scherze.

Wenn man aber erwägt, daß eine der ehrbarsten französischen Damen ihrer Zeit, vielleicht geradezu die ehrbarste, also über den Ausgang einer schamlosen Metze und grauenhaften Giftmörderin sich auslassen mochte, so wird man es weniger befremdend finden, daß die berühmte Kurtisane, die ich jetzt vorführen will, im damaligen Paris die große Figur machen konnte, welche sie, ein sittengeschichtlicher Typus, wirklich gemacht hat.

2.

Anne de Lenclos, in der Blütezeit ihrer Reize und ihres Rufes kurzweg Ninon, in ihren alten Tagen Mademoiselle de Lenclos genannt, ist am 15. Mai 1616 zu Paris geboren und daselbst am 17. Oktober 1705 gestorben. Sie hatte demnach nahezu neunzig Jahre gelebt, hat drei denkwürdigste Epochen der Geschichte ihres Landes durchgemacht: das furchtbare und fruchtbare Regiment der roten Eminenz, die Mazarinsche Regentschaft der Mutter Ludwigs XIV. und die Regierung des L'état-c'est-moi-Despoten Ludwig XIV. soll bekanntlich gesagt haben: »Der Staat bin ich!« (L'état c'est moi!).. In der ersten dieser Epochen war sie geliebt – von der Blüte der Modeherren, tapferen, glänzenden, zum Teil namhaften Seigneurs; in der zweiten gefeiert – als eine moderne Aspasia oder Leontion von Schön- und Freigeistern wie Scarron und Saint-Evremond; in der dritten geachtet – geachtet als das beste Vorbild feiner Sitte und vornehmer Lebenseleganz und auch durch eine so äußerst vorsichtige Gleisnerin, wie die Maintenon gewesen ist, ausdrücklich als die trefflichste Lehrmeisterin der Geselligkeitskunst und des guten Geschmacks anerkannt. Selbst der Duc de Saint-Simon, der sehr wenig geneigt war, von irgend einem menschlichen Wesen, das unter dem Rang eines Herzogs oder Pair, Gutes zu sagen, hat mit Wärme, ja fast mit Bewunderung sich ausgelassen: »Diese berufene Kurtisane ist ein Beispiel, welche Triumphe das Laster feiern kann, wenn es mit Geist getrieben wird und mit etlicher Tugend verquickt ist. Denn man darf sagen, daß Ninon, abgesehen von ihrer Schwäche, tugendhaft und voll Rechtschaffenheit gewesen ist. Sie war uneigennützig, verschwiegen und zuverlässig. Ihre Unterhaltung bezauberte. Sie war auch treu, denn sie hatte stets nur einen Liebhaber auf einmal, und war sie seiner satt, so sagte sie es ihm offen und ehrlich«.

So der gestrenge Duc. Schade, daß wir als Parallele kein so zusammenfassendes Urteil über Ninon aus der Feder der Marquise de Sévigné besitzen. Es würde wohl etwas anders lauten, etwas sehr anders. Man muß aber auch gestehen, daß die gute Marquise alle Ursache hatte, über » la dangereuse Ninon« (die gefährliche Ninon), über » Ninon la courtisane« (Ninon die Kurtisane) ungehalten zu sein. Madame war vierundzwanzigjährig, schön, geistvoll, tugendhaft, Mutter von zwei hübschen Kindern, als ihr Leichtfuß von Gemahl in die Nähe, d. h. in das Netz der »gefährlichen« Ninon geriet, die doch schon vierunddreißig Jahre zählte und für Madame sozusagen ein böser Genius wurde, der sie ihr Leben lang quälte. Denn nachdem ihr die »Gefährliche« den Gemahl verführt hatte, verführte sie auch den Sohn, den Marquis Charles de Sévigné. Ja, es geschah ein Unerhörtes; denn » cette vieille célèbre« (diese berühmte Alte), wie Voltaire die Greisin Ninon nannte, flößte auch noch dem Enkel der armen Sévigné, dem Marquis de Grignan, eine zärtliche Neigung ein, und so fing sie, was in der Geschichte des Kurtisanentums sicherlich ganz einzig dasteht, drei Generationen von einer und derselben Familie. Das hieß jugendlich, frisch, reizend sein mit dreißig, mit fünfzig, mit siebzig Jahren. Ninon war in Wahrheit ein Phänomen, und Madame de Sévigné besaß zuviel »Esprit«, als daß sie dies nicht hätte anerkennen sollen. Sie hat denn auch in späterer Zeit von der »Gefährlichen« mit einer gewissen Achtung gesprochen, wenn auch nur kurz und beiläufig, und sie stets rücksichtsvoll Mademoiselle de Lenclos genannt.

Das Goethesche Wort von der tief einschneidenden und lange nachwirkenden Macht der in frühester Jugend empfangenen Eindrücke findet auch auf Ninon Anwendung. Ihr aus der Touraine stammender Vater, ein Edelmann im Dienste des Duc d'Elbeuf, war ein so leichtfertiger Mensch als nur irgend ein französischer Gentilhomme von damals. Den einzigen Vorzug, den er besaß, eine ungemeine Fertigkeit im Lautenspiel, übertrug er frühzeitig auf sein einziges Kind. Aber er übertrug auf Ännchen auch die eigenen frivolen Anschauungen und lockeren Grundsätze; er gewöhnte das frühreifende Mädchen an ein abenteuerliches Fassen und Führen des Daseins. Als er eines nicht sehr ehrenhaft ausgefochtenen Duells halber, in dem er seinen Gegner getötet, aus Frankreich fliehen mußte, Frau und Tochter in bescheidenen, aber anständigen Vermögensverhältnissen zurücklassend, hatte seine Erziehungsmethode schon so gewirkt, daß die Bemühungen von Ninons Mutter Albra, einer tugendhaften und frommen Frau, die Kleine auf bessere Wege zu bringen, fehlschlugen.

Ninons leibliche und geistige Entwicklung war eine frühzeitige. Als sie, mit ihrem Zeitgenossen Tallemand des Réaux zu sprechen, » un fille grandette« geworden, hatte sie das weltlich-skeptische Evangelium, wie es in den Schriften von Montaigne und Charron zu finden, schon vollständig inne. Sie besaß überhaupt eine nicht gemeine literarische Bildung oder hatte, wie man das im damaligen Paris ausdrückte, » beaucoup de lecture«. Schon war der Beweglichkeit und Schärfe ihres Geistes wegen ihr Gespräch gesucht; schon flogen Pfeile aus dem Köcher ihres kühnen und schlagfertigen Witzes durch die Salons. Meisterin auf der Laute, entzückte sie auch durch die unvergleichliche Grazie, womit sie den Modetanz jener Zeit, die Sarabande, zu tanzen verstand. Alle diese Vorzüge verschafften dem reizenden Backfisch Zutritt in die glänzendsten Gesellschaftskreise des Marais: damals, wie bekannt, das aristokratisch-modische Quartier der französischen Hauptstadt.

Ninon war keine jener sogenannten regelmäßigen Schönheiten, deren Name in der Regel Fadheit ist. Es herrscht sogar unter den gewichtigsten Zeugen keine Übereinstimmung über die Frage, ob Mademoiselle überhaupt eine Schönheit gewesen. Ganz schroff stehen sich die Zeugnisse von Guyon de Sardière und von Tallemand gegenüber. Denn der erstere sagt: »Ninon war schön und war es immer; ihre Schönheit war vollkommen –;« der andere: »Viel Schönheit besaß sie niemals, aber allzeit viel Reiz ( beaucoup d'agréments).« Stellt man die überlieferten Nachrichten über Ninons Erscheinung unbefangen zusammen, so geben sie dieses Mosaikbild: Hochgewachsen und schlank, war ihre Gestalt von vollkommen harmonischen Verhältnissen und waren ihre Formen von jener mäßigen Fülle, welche eine feste und dauernde Gesundheit verbürgt. Die Linien ihres Kopfes von tadellosem Oval, ihres Halses, ihres Nackens, ihrer Brust von blendender Weiße waren höchst anmutig. Der Reichtum ihres kastanienbraunen Haares kontrastierte schön mit dem Tiefschwarz ihrer prächtig geschweiften Brauen, welche sich über großen, dunkeln Augen wölbten, deren strahlenwerfendes Feuer durch lange Wimpern verschleiert und gemildert ward. Das Lächeln des rosigen Mundes mit den herrlichen Zähnen war von unbeschreiblicher Magie, welche nicht gemindert, sondern noch erhöht wurde durch einen Lazertenzug des Spottes, welcher sich allerliebst um die Mundwinkel schlängelte. Alle ihre Zeitgenossen haben an Ninon den seelenvollen Blick, das genialisch-belebte Mienenspiel und jene bezaubernde Anmut der Haltung, des Gebarens und der Rede gepriesen, welche mit das Schönste und Beste an den Frauen ist, aber nicht eben im Besitze von gar vielen sich findet. Und auch eine andere frauliche Tugend besaß Mademoiselle in hohem Grade: ihr Anzug war stets von eleganter Einfachheit und ausgesuchter Frische, dabei vollkommen dezent.

Wunderlicher, aber für die Sitten jener Zeit charakteristischer Widerspruch: die Kurtisane Ninon war als das Muster des Anstands, des guten Geschmacks und Tons in der besten Gesellschaft so unwidersprochen anerkannt, daß es der Maintenon zu der Zeit, als sie schon im Begriffe war, die Frau des hochmütigsten der Könige zu werden, keineswegs zum Tadel, sondern vielmehr zur Empfehlung gereichte, zu der Zeit, als sie noch Frau Scarron gewesen, in so vertrauter Freundschaft mit Ninon gelebt zu haben, daß sie häufig in demselben Bette mit der Liebeskünstlerin geschlafen hatte. Diese sprach sich später mit gewohnter Kühnheit über die so hoch gestiegene Freundin also aus: »In ihrer Jugend ist sie tugendhaft gewesen aus Einfältigkeit. Ich wollte sie davon heilen, allein sie war zu gottesfürchtig.« Die bekanntlich mit ihrer Erhöhung stets zunehmende Bigotterie der Maintenon hinderte diese übrigens keineswegs, mit der Kurtisane in Verkehr zu bleiben und sie noch im Jahre 1679 brieflich aufzufordern: » A donner de bons conseils à mon frère« (meinem Bruder gute Ratschläge zu geben).

Man hatte überhaupt damals von feinem Takt und gutem Ton Vorstellungen, die uns mitunter absonderlich genug Vorkommen. Damen von vollendeter Bildung und untadligster Lebensführung – es gab deren, namentlich in letzterer Beziehung, freilich nur sehr wenige – ließen Worte ausgehen, welche mehr drastisch oder witzig als verschämt oder sittsam waren. Sehr viele Ausdrücke, von denen die ehrbare und hochgebildete Sévigné ohne irgendein Bedenken in ihren Briefen Gebrauch machte, lassen sich jetzt gar nicht mehr nachschreiben. Aber das folgende Witzwort der genannten Dame läßt sich erzählen. Sie hatte sich durch das Andringen aufrichtiger Freunde um ihrer Kinder willen bewegen lassen, ihrem liederlichen Gemahl, dem Marquis Sévigné, die Verfügung über ihr in die Ehe gebrachtes bedeutendes Vermögen gesetzlich zu entziehen. Kurz darauf ließ sie sich aber doch wieder herbei, für eine Anleihe von 50 000 Talern, deren der Marquis bedurfte, die Bürgschaft zu übernehmen, und als einer ihrer Freunde tadelnd zu ihr sagte: »Madame, eine verständige Frau sollte niemals so große Summen auf den Kopf ihres Mannes setzen« – gab die liebenswürdige Getadelte rasch zur Antwort: »Bah, falls ich nichts anderes auf den Kopf meines Mannes setze, wer kann mir's übelnehmen?«

3.

Ihr bescheidenes, aber ausreichendes Erbteil setzte Ninon in den Stand, anständig zu leben, und sicherte ihr die Unabhängigkeit, deren sie bedurfte, um die freie Liebeskünstlerin darzustellen. Trotz ihrer persönlichen Uneigennützigkeit, die unbestritten ist, stand sie jedoch nicht an, gelegentlich tief in die Börsen ihrer reichen Verehrer zu greifen, wenn es sich darum handelte, ihrem großmütigen Hange zum Geben und Schenken genugzutun, einem Hange, der sie zur Abgöttin der Bettler von Paris machte. Das Stadtgespräch teilte die Verehrer der Kurtisane in drei Klassen ein: in Zahler, Märtyrer und Begünstigte ( payeurs, martyrs et favoris). Die Mitglieder der ersten Klasse brachten es keineswegs immer, sondern sogar nur selten dazu, Mitglieder der dritten zu werden. Die Märtyrer waren Tantalusse, denen Ninon eine unverbrüchlich treue, dauernde und aufopfernde Freundschaft widmete, ohne aus der Freundin eine Geliebte, d. h. eine liebende Geliebte zu werden.

Wenn so ein armer Schmachtbruder danach trachtete, aus einem »Martyr« ein »Favori« zu werden, pflegte ihm Mademoiselle vertröstend zu sagen: » Attends mon caprice!« – aus welchem Trostworte wiederum recht deutlich zu ersehen, daß die französische Sprache in Wahrheit eine »galante« ist; denn sinngetreu verdeutscht wäre das Wort nur eine plumpe Zote. Den Ausdruck »Kaprice« gebrauchte Ninon auch gleichbedeutend mit Liebschaft oder mit Liebhaber. So sagte sie: »Ich bin jetzt an meiner achtzehnten, zwanzigsten, fünfundzwanzigsten Kaprice«. Übrigens wußte sie Bewerber, welche ihr zuwider waren, gar hübsch abfahren zu lassen und ihnen das Wiederkommen zu verleiden. Der liederliche Urenkel des liederlichen vierten Heinrich, der Großprior von Vendôme, welcher schlechte Verse und ungeheure Schulden machte, bewarb sich um Ninons Gunst und sandte ihr, nachdem er erkannt hatte, daß der »Liebe Müh' umsonst«, den beleidigenden Vierzeiler zu: –

» Indigne de mes feux, indigne de mes larmes
Je Renonce sans peine à tes Faibles appas;
Mon Amour te prêtait des Charmes,
Ingrate, que tu n'avais pas
« Unwürdig meines Feuers, unwürdig meiner Tränen – ich verzichte mühelos auf deine schwachen Reize; meine Liebe, du Undankbare, lieh dir Vortrefflichkeiten, die du gar nicht hast.

worauf Mademoiselle dem unverschämten Erzschuldenmacher umgehend mit dieser Antwort diente: –

» Insensible à tes feux, insensible à tes larmes,
Je te vois renoncer à Faibles appas;
Mais si l'amour prête des Charmes,
Pourquoi n'en empruntais-tu pas?
« Unempfindlich für dein Feuer, unempfindlich für deine Tränen, sehe ich dich auf meine schwachen Reize verzichten; aber wenn die Liebe Vortrefflichkeiten leiht – warum hast du es denn verschmäht, von ihr zu borgen?

Kleinhändler mit sittengeschichtlichen Kuriositäten haben darüber gestritten, wer das ungestüme Feuer von Ninons Temperament zuerst angefacht habe. Die einen behaupten, ein tapferer Kavalleriehauptmann, Sieur de Saint-Etienne, sei der Verführer der kaum Vierzehnjährigen gewesen, der er die Ehe versprochen habe; die andern, der Graf Gaspard de Coligny, später Herzog von Chatillon, habe sie um ihre Unschuld betrogen. Einem Gerücht zufolge, welchem Segrais sowohl als Voltaire tatsächliche Bedeutung beilegten, wäre Demoiselle Anne de Lenclos von einem Manne höchsten Ranges verführt worden, vom Kardinal Richelieu, und zwar im Jahre 1632, als sie, von väterlicher und mütterlicher Seite Waise geworden, gerade ihr sechzehntes Jahr vollendet hatte. Marion de Lorme, Ninons berüchtigte Vorgängerin in der Rolle der ersten Kurtisane ihrer Zeit und ihres Landes, soll dabei die Kupplerin gemacht und ihrer Nachfolgerin von seiten des Kardinals als Preis der ersten Gunstgewährung 50 000 Taler angeboten haben. Schon dieser Umstand macht die Sache sehr zweifelhaft; denn die rote Eminenz ging, wie mit den Geldern des Staats, so auch mit den eigenen sehr haushälterisch um und wußte ihren »Kapricen« in weit wohlfeilerer Weise genugzutun.

Gewiß ist, daß Ninon im Alter von sechzehn Jahren ihre selbständige Stellung in der Pariser Gesellschaft nahm und dafür sorgte, daß die Skandalchronisten und Skandalchronistinnen, welche über die lange Reihenfolge von Mademoiselles »Zahlern«, »Märtyrern« und »Favoriten« förmlich Buch führten, sattsame Arbeit bekamen. Dessen ungeachtet hatte die exklusive Gesellschaft des Marais gegen die leichtfertige Schöne erst dann etwas einzuwenden, als diese, verleitet durch ihre drei sich ablösenden Liebhaber Miossens, Charleval und d'Elbène, sich beigehen ließ, ihren lustigen Lebenswandel mit den Flittern einer epikureisch-freigeistigen Philosophie zu verbrämen. Denn die »Gesellschaft« ist zwar allzeit geneigt, die Kühnheit des Lasters, nie aber, die Kühnheit des Denkens zu verzeihen. Und dies ist ganz in der Ordnung, weil es auch der ordinäre Mensch allenfalls dazu bringen kann, in dem Sumpfe der Ausschweifung mit etwelchem Anstand herumzuplanschen, nicht jedoch dazu, auf den Schwingen des Gedankens in den Äther der Freiheit sich zu erheben.

Mesdames les »Precieuses« im Marais fanden demzufolge, daß die schöne Lautenschlägerin und graziöse Sarabandetänzerin doch allzu emanzipiert sei, und gaben sich große Mühe, die »gottlose« Konkurrentin, um welche sich die glänzende Jugend und das reichste Alter Frankreichs in lärmendem Wetteifer huldigend drängten, loszuwerden, zunächst wenigstens aus dem aristokratisch-modischen Quartier. Die kecke Liebeskünstlerin machte sich aber nichts aus den Ränken und Schwänken der Gezierten und Ungezierten und fuhr fort, den tugendhaften und lasterhaften Damen der großen Welt mannigfaltiges Ärgernis zu bereiten. Da erinnerten sich ihre Feindinnen, daß Ninon eine adlige »Demoiselle« und als solche, den Anschauungen der Zeit gemäß, der Sittenpolizei des Hofes unterstellt sei. Man erwirkte also bei der Königin-Regentin Anne d'Autriche, daß ein Befehl an Ninon erginge, sich in ein Kloster zurückzuziehen. Sie las diese » Lettre de cachet« (königlicher Verhaftsbefehl) und sagte dann ernsthaft zu dem Gefreiten, der sie gebracht hatte: »Mein Herr, da die Königin die Güte hat, mir die Wahl des Klosters anheimzustellen, so werde ich mich in das der Kapuziner begeben«. Der verblüffte Gefreite hinterbrachte diese Lencloserie der Königin, und diese soll den Spaß so belustigend gefunden haben, daß sie Mademoiselle in Ruhe ließ. Einer andern und bessern Lesart zufolge hätte es der Dazwischenkunft so mächtiger Verehrer Ninons, wie die Ducs de Candale und Montemart und der Prinz von Conde waren, bedurft, um sie vor dem Kloster zu bewahren. Es kennzeichnet die Sitten von damals, daß Condé, der Sieger von Rocroi, zur Zeit, wo Ninon von der königlichen Ungnade bedroht war, eines Tages, als seine Karosse auf dem Korso dem Wagen der Kurtisane begegnete, halten ließ, ausstieg und inmitten des Gedränges der Modewelt mit entblößtem Haupte die Schöne begrüßte. Vor gänzlicher Beilegung des Klosterhandels war noch davon die Rede gewesen, Ninon in das Haus der »reuigen Jungfern« ( filles repenties) zu sperren. »Das wäre doch sehr ungerecht«, spottete sie, »da ich weder Jungfer noch reuig bin.«

Um jedoch ihre vornehmen Nebenbuhlerinnen nicht zu weiteren Feindseligkeiten zu reizen, siedelte Mademoiselle aus dem Marais nach dem Faubourg Saint-Germain über. Einige Zeit nachher dachte sie sogar an eine Übersiedlung in die Neue Welt. Sie war nämlich wiederum in einen verdrießlichen Handel verwickelt worden. Mehrere junge Seigneurs speisten eines Tages während der Fasten bei ihr. Einer der Gäste warf einen Geflügelknochen zum Fenster hinaus, und dieser knöcherne Beweis des Nichtfastens fiel unglücklicherweise dem vorübergehenden Pfarrer von Saint-Sulpice auf die Nase. Seine beleidigte Hochwürden stieß sofort gewaltig in das heilige Religionsgefahrbockshorn, und seine Herren Confratres wußten das gegen den Glauben und die Moral begangene Hühnerknochenattentat so erschrecklich auszustaffieren, daß bei Hofe abermals und zwar sehr ernstlich von der Einklosterung Ninons die Rede war. Gerade damals (1651) florierte in Paris eine Schwindelaktienkompagnie – das Tätigkeitswort »schwindeln« ist bekanntlich zu allen Zeiten eifrigst konjugiert worden –, welche an den Ufern des Amazonenstroms und des Orinoko das wahre »Dorado« entdeckt haben wollte und mit dieser Entdeckung glücklich ein Auswanderungsfieber grassieren machte, das sogar den lahmen Scarron ergriff, so sehr, daß der arme Teufel von Poet seine mühselig gemachten kleinen Ersparnisse auf Nimmerwiedersehen in den Schlund des Eldoradoschwindels warf. Mit ihm zugleich wollte auch Ninon sich einschiffen, allein zum Glücke für beide verzögerte sich ihre Einschiffung zufälligerweise so lange, bis Nachrichten von dem unsäglichen Elend einliefen, das eine erste Schar von Auswanderern in dem Goldparadies am Orinoko gefunden, und inzwischen war es Mademoiselle oder ihren Verehrern auch gelungen, mittels Geldes den Hühnerknochenskandal zu vertuschen.

Ninon dachte nicht mehr daran, das lustige Paris zu verlassen, sondern verließ nur einen Liebhaber um den andern. In diese Zeit fällt ihre flüchtige Kaprice für den Gemahl der Sövignö, an dessen Stelle sehr bald der Marquis de Rambouillet kam. Diesem schrieb sie: »Ich glaube, daß ich dich drei Monate lieben werde, was für mich eine Ewigkeit ist ( c'est l'infini pour moi)«. Unter den gleichzeitigen »Märtyrern« der Liebeskünstlerin stößt uns ein Abbé de Pons als nennenswert deshalb auf, weil dieser würdige Priester das Original von Molières Tartuffe gewesen sein soll. Als der Heuchler Mademoiselle seine Liebe erklärte und sie sich über ihn lustig machte, berief er sich darauf, daß ja auch verschiedene Heilige zärtlichen Gefühlen sehr zugänglich gewesen seien. Im übrigen war diese Zeit von 1645 bis 1655 die rechte Glanzperiode von Ninons Kurtisanenschaft. Sie wurde in Prosa und in Versen gefeiert. In Prosa, indem man ihre » Honnêteté« pries, » parce qu'elle n'avait jamais plusieurs amants à la fois«. In Versen, von denen die folgenden zu den am wenigsten feurigen, aber mitteilbarsten gehören:

» Ah! Ninon, de qui la beauté
Méritait une autre aventure,
Et qui devait avoir été
Femme ou maîtresse d'Epicure.

Je me sens foncé jusqu'au vif,
Quand mon âme Voluptueuse
Se pâme au mouvement lascif
De ta sarabande amoureuse.

Socrate et tout sage et tout bon
N'a rien dit qui des dits éale;
Auprès de toi le vieux bardon
N'entendait rien à la morale.
« O Ninon, deren Schönheit ein anderes Abenteuer verdiente, und die die Frau oder die Geliebte Epikurs hatte sein sollen! Ich fühle mich erschüttert bis zum Mark, wenn meine wollüstige Seele in Ohnmacht fällt bei der aufreizenden Bewegung deiner verliebten Sarabande. Sokrates, ganz weise und gut, hat keinen Ausspruch getan, der den deinigen gleichkäme. In deiner Nähe hätte der alte Graubart kein Ohr mehr gehabt für die Moral.

Es war damals in Paris noch nicht Stil, die Prostitution mit dem Nimbus romantischen Brillantfeuers zu umgeben und Kurtisanen als »Fleurs de Marie« oder unter ähnlichen seraphischen Namen sozusagen heilig zu sprechen. Keinem der Poeten, welche die Ninon besungen haben, ist es eingefallen, sentimentalisch und pathetisch von ihr zu reden. Sie suchten im Gegenteil gar nicht zu verbergen, daß der Gegenstand ihrer Huldigungen eben doch eine Hetäre, zu deren Füßen man auch wohl einen derben Brocken Zynismus hinwerfen dürfe, ohne befürchten zu müssen, daß sie darüber stolpern würde. Dennoch hätten die Scarron, Saint-Evremond und Konsorten wenigstens einmal Gelegenheit gehabt, in pathetischem Tone von Mademoiselle zu singen und zu sagen.

Wunderlicherweise nämlich wurde Ninons letzte »Kaprice«, welche eine sozusagen offizielle Einregistrierung gefunden, für sie zu einer Passion, ja zu einer wirklichen Leidenschaft im deutschen Sinne. Sie hatte ihr dreißigstes Jahr schon um mehrere Jahre überschritten, als sich der Marquis de Villarceaux um ihre Gunst bewarb, und zwar mit solchem Erfolg, daß aus der leicht- und heißblütigen Genußkünstlerin ein warm und wahrhaft liebendes Weib wurde. Als den Geliebten eine heftige Krankheit befiel, schnitt sie sich ihre wunderschönen Haare ab, zum Zeichen, daß sie nicht ausgehen und niemand empfangen wollte, bevor er genesen. Sie hatte von Villarceaux einen Sohn und eine Tochter, und man erzählt, daß der Sohn, als er zu mannbaren Jahren gekommen, heftig in seine Mutter, die er nicht als solche kannte, sich verliebt habe. Als sie ihm aber das Geheimnis seiner Geburt offenbart, habe er sich verzweiflungsvoll den Tod gegeben. Es läßt sich für dieses tragische Nachspiel zu Ninons Liebschaft mit Villarceaux kein fester Beweis beibringen; viel besser bezeugt ist ein komisches Zwischenspiel in diesem Drama. Der Präzeptor der legitimen Söhne des Marquis nahm nämlich eines Tages in Gegenwart ihrer Mutter, der Frau Marquise, ein Examen mit den Knaben vor. Er fragte die Jungen: » Qui fuit primus monarcha?« (Wer war der erste Monarch?) Antwort: » Nimrod.« Frage: » Quem virum habuit Semiramis?« (Wen hatte Semiramis zum Manne?) Antwort: »Ninum.« »Was, Ninon?« schrie die mit Recht eifersüchtige Marquise wütend. »Pfui, was bringen Sie den Knaben für Unflätereien bei!« …

Die Franzosen sprechen, wie bekannt, von dem 17. Jahrhundert nie anders als von dem »großen« par excellence, wie sie auch noch nicht aufgehört haben, Ludwig XIV., den abscheulichen Despoten, mit Emphase den »großen König« zu nennen. Einer jener französischen Boudoirhistoriker, wie das zweite Empire sie hervorbrachte, Monsieur Reiche, hat auch kecklich behauptet, die Liederlichkeit von damals oder, wie er sich zarter ausdrückt, die »Unordnung in den Passionen und Sitten«, habe die Charaktere nicht erniedrigt, die Gefühle nicht vergiftet. Wirklich? Aber wie ist es denn gekommen, daß die französische Aristokratie sich zur untertänigen und niederträchtigen Hoflakaienschaft, als welche sie unter dem vierzehnten Ludwig erscheint, zähmen ließ? Und war es etwa ein Merkmal vom Vorhandensein edler Gefühle, daß die Herren und Damen des »großen« Jahrhunderts, wie Monsieur Renée selber ausgeführt hat, mitunter nur eine Bande von Moglern und Moglerinnen gewesen sind? Was für eine bodenlose Zuchtlosigkeit, und welche erzstirnige Ruchlosigkeit im Schoße der französischen Gesellschaft von damals großgewachsen, bezeugt sattsam das Ausbersten von sozialen Pestbeulen, wie der Prozeß der Marquise de Brinvilliers eine und der Prozeß der Hebamme La Voisin (1680) eine andere gewesen, – das Ausbersten von Pestbeulen, welche furchtbar bewiesen, daß die Messalinen und Lokusten des antiken Roms im modernen Paris wieder aufgelebt waren.


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