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3.

Die Mitte des 18. Jahrhunderts markirt ziemlich scharf den Scheidepunkt von zwei Epochen, zwei Systemen, zwei Gesellschaften. Der Kulturcharakter der ersten Hälfte ist in den vorgeschritteneren Staaten eine mit französischem Firniß übertünchte, in den zurückgebliebeneren eine naturwüchsige Barbarei. Ein unerquickliches Gemisch von beiden begegnet uns bis gegen 1750 zu in den deutschen Ländern. Auch hier, wie überall – England bei Seite gelassen – war die Autokratie Ludwig's XIV. hochbewundertes und eifrigst nachgeahmtes Vorbild. Aber wenn in Versailles der Despotismus vermöge seiner gewaltigen Dimensionen wenigstens den Schein der Größe an sich hatte, so war er an den kleineren und kleinsten Höfen nur eine ebenso lächerliche als drückende Caricatur. Der vaterländischgesinnte Historiker, welcher die Freude am Skandal nicht kennt, wird mit Schmerz die traurige Thatsache berühren, daß die deutschen Hofgeschichten von damals – eine Volksgeschichte gab es nicht – mit wenigen, sehr wenigen ehrenwerthen Ausnahmen nur eine vielgliederige Skandalchronik waren. Kaum ein Jahrhundert ist seither verflossen und doch ist uns, als blickten wir in eine ganz fremde, weit hinter uns liegende Welt hinein, wenn wir uns vergegenwärtigen, daß damals ganz unverholen die Ansicht im Schwange ging, Sittengesetz und Anstandslehre hätten nur für die »Rotüre« und »Canaille«, d. h. für Bürger und Bauer, nicht aber für die höheren Stände Geltung. Unter den letzteren war eine moralische Erschlaffung daheim, die ihre Kreise weiter und weiter ausdehnte, so daß, wie wir späteren Ortes sehen werden, am Ende des Jahrhunderts die Verwirrung der sittlichen Begriffe selbst gebildetste Geister und edelste Gemüther nicht unberührt gelassen hatte.

Der Eifer einzelner, wenn auch noch so hochgestellter Persönlichkeiten vermochte gegen die leichtfertige Zeitströmung nicht aufzukommen. Die strenge Sittenwächterin Maria Theresia war mit all ihrer Energie nicht im Stande, die Zuchtlosigkeit der Wiener Gesellschaft auszutilgen; im Gegentheil, ihre »Keuschheitscommissionen« machten das Uebel nur ärger, indem dieselben den französischen Modelastern und Lastermoden alle Niederträchtigkeiten der Spionage und Angeberei gesellten. Anderwärts, wo, wie am Hofe des zweiten Königs von Preußen, das ganze französische Wesen dem Souverain persönlich verhaßt war, wurde die Frivolität durch eine Unkultur ersetzt, welche für deutsch biderb gelten wollte, aber nur teutonisch roh war. Wenn man die hofgeschichtlichen Denkwürdigkeiten aus jener Zeit zur Hand nimmt, die Memoiren eines Freiherrn von Pöllnitz, einer Markgräfin von Baireuth, so begreift man das Entsetzen, welches ein redlich und patriotisch denkender Hofmann, wie der wackere Knebel war, bei dieser Lectüre empfand. »Welche Barbarei – rief er in einem Briefe an seine Schwester Henriette aus – herrschte nicht an den deutschen Höfen! Welches Elend, welche Rohheit! Alles knechtische Dienerei, nirgends freier, edler, wahrer Patriotismus. Und das sind die Zeiten, deren Verlust wir beseufzen sollen! Nur auf Sitten erbaut erhält sich ein Staat, so gut wie jeder einzelne Mensch.«

In Wahrheit, unser Vaterland bot in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein klägliches Bild von Verkommenheit, Unfreiheit und Erniedrigung. Der Reichshaushalt anarchisch zerrüttet und zerfahren, das kirchliche Leben versumpft. Im katholischen Süden die grassen Erscheinungen hispanischer Bigoterie, im protestantischen Norden ein seelenloser und serviler Bibelbuchstabendienst. Zwischen den bevorrechteten, genießenden Ständen und der rechtlosen, arbeitenden Menge eine so unermeßliche Kluft, daß beide Nichts mit einander gemein hatten als die Luft. Das Nationalgefühl erloschen, das öffentliche Gewissen unterdrückt. Der Adel depravirt, das Bürgerthum verholzt, die Bauern und die vermittelst List und Gewalt zusammengefangenen Soldaten, die Aermsten der Armen, unter gränzenlosem Druck entmenscht und so sehr als Nichtmenschen angesehen, daß noch um 1750 in amtlichen Erlassen Ausdrücke auf sie angewandt wurden, die der Gebildete von heute auch nur auf Thiere anzuwenden vermeidet. Elend und barbarisch, wie alles Uebrige, war auch das gelehrte Wesen. Wüstes Raufboldthum und schmähliche Völlerei tumultuirten auf den deutschen Universitäten und die Docenten waren den Studenten völlig ebenbürtig. Männer, wie der vielseitige Leibnitz, welcher, ein Hauptmitbegründer der modernen Philosophie, die Wissenschaft aus den obscuren Studirstuben heraus und in die Gesellschaft hatte einführen wollen, oder wie der hellsichtige Thomasius, der sein Lebenlang, wie dem Hexenprozeß und anderem Aberwitze seiner Zeit, so auch durch Empfehlung und Gebrauch der Muttersprache in gelehrten Dingen der barbarischen Lateinerei energisch den Krieg gemacht, hatten nicht durchdringen können. Dummheit, Schlendrian und Gemeinheit machten sich auf Kathedern, Kanzeln und Kanzleien breit. Die herrschende Juristerei war der herrschenden Theologie so sehr würdig, daß noch die ganze erste Hälfte des 18. Jahrhunderts hindurch die Monstrosität der »Malefizgerichte« in Thätigkeit blieb. Erst 1749 loderte zu Würzburg der letzte Hexenbrand im deutschen Reich, eine arme siebzigjährige Nonne verzehrend. Die Kriecherei der Patentträger einer barbarischen Gelahrtheit ging den herrschenden Gewalten gegenüber ins Unglaubliche. Die Wuth dieser Pedanten gegen alle Vernunft und freie Bewegung war so blindselbstsüchtig, ihr ganzer Kram und Quark so unersprießlich, daß man stark versucht ist, den freilich nicht feinen Spaß gerechtfertigt zu finden, welchen sich Friedrich Wilhelm I. machte, indem er 1737 zwischen dem halbverrückten Magister Morgenstern und den Professoren der Universität Frankfurt a. d. O. eine feierliche Disputation veranstaltete über die These: »Gelehrte sind Saalbader und Narren.«

Auf zwei Gebieten jedoch regte sich schon zu dieser Zeit, wo das deutsche Leben ganz erstarrt schien, ein besserer Geist: – auf dem religiösen Gebiet und auf dem der Kunst in ihrer musikalischen Erscheinungsform. Das Sicheinsfühlen mit dem Unendlichen, das Beten, hat der Deutsche selbst in schlimmsten Zeiten nie ganz verlernt und ebenso wenig das Singen und Musiziren, eines reichen Gemüthslebens unmittelbarsten Ausdruck. Dem zu geistlosem und unduldsamem Formelwesen veräußerlichten Lutherthum hatte der Spener-Francke'sche Pietismus ein Element der Sänftigung, Bewegung und Fortbildung zugeführt, das bei der Reinheit seiner ursprünglichen Tendenz unzweifelhaft heilsam auf den deutschen Volksgeist einwirkte, wennschon dasselbe in späterer Trübung und Fälschung zu vielfach sinnlosem, politisch und sozial höchst verderblichem Sektenwesen ausgeschlagen ist. Auch die Musik schöpfte zunächst aus der religiösen Innigkeit und Begeisterung die Kraft, von dem an den Höfen gehätschelten wälschen Opernstyl sich zu emanzipiren und durch Meister wie Graun, Bach und Händel erhabene Offenbarungen des deutschen Genius verkündigen zu lassen.


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