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1.

Wie das Meer, so hat auch die Geschichte der Menschheit ihre Flut und Ebbe: nur bemessen sich hier die Zwischenräume nicht wie dort nach Stunden, sondern nach Jahrhunderten. Auf Zeiten, wo die Völker, wie mit schlafender Seele, zwischen der gemeinen Sorge um des Lebens Nothdurft und dem grobsinnlichen Genuß ein dumpfes Dasein hinfristen, folgen Epochen, wo der prometheische Funke in den Menschen aufs Neue aufglüht, wo ihre Pulse frischlebendig allem Großen und Schönen entgegenschlagen und ihre Brust mit Entzücken das Fluidum der Begeisterung trinkt, welches die gesellschaftliche Atmosphäre durchzieht. In solchen Flutzeiten, wo freilich mit der edelsten Leidenschaft nur allzuhäufig die gemeinsten Affecte sich verbinden, wird der Mensch im Guten wie im Bösen über das normale Maß seines Vermögens, ja seines Wollens hinausgerissen. Da treibt mit der unwiderstehlichen Gewalt einer Springflut die Nationen ein dämonischer Trieb vorwärts. In solchen Perioden werden Staaten errichtet oder zertrümmert, werden Fesseln zerbrochen und Bastillen zerstört. Die Erde erdröhnt von Waffen, denn die mächtigsten Gedanken einer Zeit streben gewaltsam nach Verwirklichung. Unter ungeheuren Wehen ringt sich ein großer Zukunftsgedanke aus dem Mutterschooße der Gegenwart und greift mit zwingender Macht von den höchsten Höhen der Gesellschaft bis in die tiefsten Niederungen hinab oder umgekehrt. Hat er aber dem Zeitalter sein Gepräge aufgedrückt, so ist seine Mission erfüllt. An die Stelle erbitterten Kampfes tritt die schlaffe Gewöhnung. Der Mensch lebt sich in die neuen Zustände ein, als müßten sie ewig dauern, als müßte der irdischen Dinge rastloser Wechsel endlich für immer zur Ruhe gekommen sein. Also herrscht nach der Flut die Ebbe in der moralischen Welt, bis wieder ein neuer Anstoß zur Bewegung dieser conservirenden oder reagirenden »Kraft der Trägheit« ein Ziel setzt und neue schicksalsmächtige Ideen – erst von ferne mit lindem Säuseln sich ankündigend, dann mälig und mälig zum tosenden Gewitter anschwellend – einen vermorschten Gesellschaftsbau vor sich niederwerfen und auf den Trümmern ausgelebter Formen eine frische Saat der Zeit aufgrünen lassen.

Dessen zur Bestätigung sehen wir, vom Alterthum zu schweigen, im 12. und 13. Jahrhundert die Gedanken, welche den Ideengehalt des Mittelalters ausmachten, in ihrer Vollreife thätig und mächtig. Die Ausbildung des Lehenstaates einerseits, die Entscheidung des Kampfes zwischen Kaiserthum und Papstthum zu Ungunsten des ersteren andererseits, bezeichnen nach der politischen Richtung hin die Triumphe damaliger Anschauungen. Das religiöse Dichten und Trachten des Mittelalters erreicht in den Kreuzzügen mit ihren furchtbaren Zwischenspielen – Geißlerfahrten, Judenschlachten, Albigenserkriegen – seinen Gipfel- und Glanzpunkt. Und wie auf dem realen Gebiete, so findet zur angegebenen Zeit die mittelalterliche Idee auch auf dem idealen ihre größtmögliche Verwirklichung. Die gothische Architektur beginnt ihre frommen Riesenbauten, in welchen der christkatholische Gedanke am vollständigsten zur sinnlichen Erscheinung kommt. Die Troubadours der Provence und die Trouvères Nordfrankreichs stiften jene romantische Poesie, welche dann unsere deutschen Epiker und Lyriker der Hohenstaufenzeit zur Vollendung führen. Durch Thomas von Aquino wird die auf das katholische Dogma basirte Philosophie des Mittelalters, die Scholastik, zum Abschluß gebracht und endlich faßt der Genius von Dante Alighieri in dem Focus seiner Göttlichen Komödie alle Seiten der mittelalterlichen Weltanschauung zu einer Einheit zusammen, in Zügen, »wie sie der Blitz in Felsen schreibt.«

Aber von dieser Höhe welcher Sturz in den Sumpf des 14. Jahrhunderts! Da entartet Alles. Die romantischen Typen des Mittelalters werden zu grotesken Verzerrungen, die Sitte wird zur Unsitte, das Ritterthum zum Räuberthum und eine plumpe Zuchtlosigkeit zieht alle Stände und Geschlechter in ihren Strudel. Der lange Verwesungsprozeß der mittelalterlichen Lebensformen setzt sich dann im 15. Jahrhundert fort, bis Kirche, Staat, Gesellschaft ganz offenkundigem Marasmus verfallen sind. Doch jetzt ist die Zeit der Ebbe wieder zu Ende: in den letzten Jahrzehnten des 15. und in den ersten des 16. Jahrhunderts rauschen die Wogen einer weltgeschichtlichen Flut reinigend über die verschlammten Länder hin. Die große Wiederherstellung der Wissenschaften hebt an, sobald die erneuerte Bekanntschaft mit der antiken Bildung, die Wiedererweckung der classischen Studien, als das Morgenroth eines neuen Geistestages aus Italien über die Alpen herüberleuchtet. In die dumpfe Nacht nordischer Möncherei dringen die Sonnenpfeile eines lebensfreudigen Humanismus. Nun wird es der Menschheit zu eng in dem mittelalterlichen Dogmengehäuse: ihre Glieder dehnend sprengt sie es und strebt allwärts nach Luft, Licht und Bewegung. Was die Weisen aller Zeiten gedacht, was die Dichter ersonnen, die besten Resultate einer vieltausendjährigen Kulturarbeit – Guttenberg's glorreiche Erfindung macht sie allmälig zum Gemeingut der Menschheit. Der erste Karthaunenschuß, welchen abzufeuern die Entdeckung des »Schwarzkünstlers« Berthold Schwarz möglich macht, ist das Signal zur anhebenden Zerstörung der Feudaltyrannei. Gioja gibt den Seefahrern den Kompaß, den sichern Wegweiser in der Wasserwüste des Ozeans, und alsbald rückt eine Heroenschaar moderner Argonauten – Diaz, Gama, Colon, Magelhaens – die Gränzen der Erde in vorher kaumgeahnte Fernen hinaus, während Kopernikus, Galilei und Kepler die Vorstellungen vom Weltgebäude auf ganz neue Grundlagen stellen, die Sonne als die Weltleuchte »in die Mitte des schönen Naturtempels auf einen königlichen Thron setzen, von welchem aus sie die ganze Familie der kreisenden Gestirne lenkt«, und es durch ihre Findungen ihrem Nachfolger Newton ermöglichen, das »Spiel und den Zusammenhang der inneren, treibenden und erhaltenden Kräfte« zu erkennen und zu enthüllen.

Die humanistischen Studien, in Deutschland mit dem Ernst und der Wärme einer Herzenssache betrieben, brachten den Geist religiöser Opposition zur Reife, welcher schon während des Mittelalters in den deutschen Mystikern sich bethätigt hatte. Die philologische Polemik eines Reuchlin und Erasmus wurde durch Hutten zur nationalen erhoben. Alle Classen des deutschen Volkes, bis zum leibeigenen Bauer herab, waren ergriffen und getrieben von dem Verjüngungshauch, welcher durch die Zeit ging. Da schritt zu Wittenberg der beherzte Mönch aus seiner Zelle hervor und machte den Gedanken der Reformation zur That. Aber der große Reformator besaß wohl gesunden Menschenverstand und Muth genug, die beleidigte Natur an den Mönchsgelübden zu rächen, nicht aber Genie und Weltkenntniß genug, die patriotischen Hoffnungen und Entwürfe seiner besten Zeitgenossen staatsmännisch zum Ziele zu führen. In Luther's theologischer Beschränkung lag der Keim des Unglücks, daß die Reformation gerade in ihren besten Tendenzen scheiterte, um so entschiedener scheiterte, als die leider gleichzeitig eingetretene Hispanisirung des Hauses Habsburg an entscheidender Stelle das Verständniß der reformatorischen Ideen verwehrte. So gewann unser Vaterland, statt der gehofften kirchlichen, staatlichen und gesellschaftlichen Wiedergeburt, nur die kirchliche Spaltung, womit die Einheit des deutschen Reiches nach innen und seine Weltstellung nach außen vernichtet war. Andere Völker, vor allen das englische, ernteten, wie das herkömmliches deutsches Geschick ist, von unseren Anstrengungen die Früchte. Aber wenn auch keiner der vaterländischen »Blüthenträume« reifte, welche die edle Leidenschaft eines Hutten beim Beginn der reformatorischen Bewegung geträumt hatte, dennoch wird diese Epoche ihren Rang als eine der emanzipativsten in der Weltgeschichte behaupten. Der große Bruch mit dem System des Mittelalters war erfolgt. Der bloß mechanischen und äußerlichen Autorität trat der innere freie Trieb des Menschen, dem starren Dogma die sittliche Selbstbestimmung der Persönlichkeit, der todten Werkheiligkeit der lebendige Glaube gegenüber. Die freie Forschung war begründet. Noch schüchtern zwar und ungelenk begann die Vernunft ihrer Souverainetät sich bewußt zu werden; aber doch schon übte sie im Stillen ihre Kraft, um später Schritt für Schritt zur Erkenntniß und Verkündigung der Menschenrechte vorzuschreiten. Von der Reformationszeit datirt der Kampf der zwei großen Prinzipien, welcher seither der eigentliche Motor der geschichtlichen Entwicklung gewesen ist, – der Kampf des germanischen Prinzips der Autonomie mit dem romanischen der Autorität.

Das 17. Jahrhundert brachte zunächst den großen romanischen Rückschlag. Die römische Kirche, vermittelst des Jesuitismus restaurirt, erhob sich kriegerisch gegen das Vordringen des Protestantismus. Es trat da eine jener Perioden ein, bei deren Betrachtung der Historiker alle Kraft seines Glaubens an den Genius der Menschheit aufbieten muß, um nicht an dieser zu verzweifeln. Ein Krieg von fast beispielloser Dauer und Zerstörungswuth wurde auf deutschem Boden ausgefochten. Er verminderte die Bevölkerung unseres Landes um drei Viertheile, warf die Städte in Ruinen, machte die Dörfer zur Heimat der Wölfe, ganze Landschaften zu Einöden und endete, nachdem er die gesammte deutsche Kultur in Frage gestellt, mit einem Friedensschluß voll Unheil und Schmach. Zur Zeit unserer großen Kaiserdynastieen die herrschende Großmacht, zur Reformationszeit die leitende Geistesmacht des Erdtheils, sank Deutschland im 17. Jahrhundert nicht nur zu politischer Nullität, sondern auch zur geistigen Sklaverei herab. Das Lutherthum und der Calvinismus waren in dieser unseligen Zeit zu seelenloser Kleinmeisterei erstarrt, mit kläglichstem Schulgezänk die Gemüther einengend und verbitternd, vom nationalen Leben losgelöst, hierarchisch unduldsam nach unten, unglaublich nachgiebig nach oben. Mit der Kanzel wetteiferte an Unersprießlichkeit, Kleingeist, Engherzigkeit und Servilität die Kathedra. Das offizielle gelehrte Wesen von damals war eitel Barbarei. Die Dialektik des Aberwitzes, welche von den Theologen und Juristen beider Confessionen zu Gunsten der Hexenprozeduren entwickelt wurde, liefert den schrecklichen Beweis hiefür. Die Pedanterei ging ins Ungeheuerliche: – ein Professor zu Tübingen brauchte z. B. volle fünfundzwanzig Jahre (1624-1649), um sein Collegium über den Propheten Jesaia fertig zu bringen. Die Literatur ihrerseits, Sklavin ausländischen Ungeschmacks, widerspiegelte hier die Dürre der Kathederweisheit, dort die sittliche Verwilderung der Zeit. Doch in Betreff der literarischen Zustände müssen wir, zurückblickend, etwas weiter ausholen.

Das germanische Heidenthum hat uns als Zeugnisse waldursprünglicher Poesie nicht allein jene großartigen nationalen Sagenkreise hinterlassen, welche die Urkunden des Heroenzeitalters unseres Volkes vorstellen, sondern auch einzelne dichterische Gestaltungen dieser Sagen. So das fragmentarische Hildebrandslied, das angelsächsische Beowulfslied und das, freilich erst im 10. Jahrhundert von einem St. Galler Mönch in lateinischen Hexametern niedergeschriebene Lied vom aquitanischen Walther. Diese Gesänge geben ein Bild von germanischer Sinnesweise und Lebensführung zur Zeit der Völkerwanderung. Hier athmet die primitive Kraft und Wildheit eines die weltgeschichtliche Bühne erobernd beschreitenden Volkes. Die römisch-christliche Kultur der karolingischen Epoche bemühte sich, diese urzeitlich-heidnischen Erinnerungen in den Hintergrund zu drängen. Doch waren dieselben mächtig genug, der berühmten altsächsischen im 9. Jahrhundert gedichteten Evangelienharmonie, der Heliand (Heiland), noch ein ganz nationales Gepräge zu geben, während in der wenige Jahrzehnte später entstandenen oberdeutschen Evangelienharmonie des Weißenburger Mönches Otfrid, der ältesten Kunstdichtung unserer Literatur, die nationalen Anschauungen den christlichen schon völlig untergeordnet sind. An die Stelle dieser geistlichen Dichtung trat in den Zeiten der Kreuzzüge die ritterliche, aus Frankreich, der Heimat des ritterlich-romantischen Ideals, Anregung, Formen und Stoffe holend. Während damals die Dramatik in den kirchlichen Mysterienspielen ihre ersten ungefügen Anläufe nahm, blühten Lyrik und Epik zu reichster Fülle auf. Was jene, den Minnegesang, angeht, so ist freilich nicht zu verschweigen, daß unsere Minnesänger das Feuer und die Energie der provençalischen Troubadours nicht erreichten. Die deutsche Minnedichtung ist im Grunde eine sehr zahme, eintönige, beschränkte. Es fehlt ihr nicht an einzelnen innigen Herzenstönen, aber auch nicht an einer starken Beimischung von bettelhaftem Knechtssinn. Der einzige Walther von der Vogelweide erhebt sich zu freieren und höheren Gesichtspunkten und zeigt uns in seinen Liedern, welche sich nicht, wie die seiner Mitsänger, ausschließlich und ermüdend monoton um Minneleid und Minnelust drehen, das Gefühl und den Verstand eines erleuchteten Patrioten. Unter den ritterlich-romantischen Epikern ragen Wolfram von Eschenbach und Gottfried von Straßburg weit über die anderen hinweg. In Wolfram war ein Genius von außerordentlichem Tiefsinn thätig. Er hat in seinem Gedicht von Parzival den Gralmythus zu einem psychologischen Epos gestaltet, welches man mit Fug die erste große That der deutschen Idealistik nannte. Die Idee dieses merkwürdigen Werkes ist das Verhältniß von Gott und Mensch, von Irdischem und Ewigem. Es will zeigen, wie der Zweifel im Menschen entstehe, wohin er ihn führe und wie er, im christlichen Sinne, überwunden werden könne durch das Mysterium der Erlösung durch Christus. Im ausgeprägten Gegensatze zu Wolfram, welcher die Erde himmelwärts zu heben trachtet, zieht sein Zeitgenosse Gottfried den Himmel zur Erde herab. Es ist Antik-Sinnliches, etwas von Hellenischem in diesem herrlichen Poeten. Er protestirt ausdrücklich gegen Mysticismus und Ascetik und sein Gedicht von Tristan und Isolde, bezaubernd frisch und melodisch, ist wie eine Antecipation Göthe'schen Humanismus und Göthe'scher Anmuth. Zur gleichen Zeit, wo diese Werke geschaffen wurden, wandten sich Dichter von großem, ja größtem Talent pietätsvoll zu den Ueberlieferungen des alteinheimischen Volksgesangs zurück. So entstanden die Sammlungen und Ueberarbeitungen der alten, Jahrhunderte lang durch fahrende Volkssänger gepflegten nationalen Heldenlieder von Sigfrid und dem Nibelungenhort, von Dietrich von Bern und seinen Recken, vom Hünenkönig Etzel, von der Friesenkönigstochter Gudrun, von der Schildjungfrau Brunhild, von Chriemhild und dem Rosengarten zu Worms. Das Nibelungenlied, in seiner Art das Gewaltigste, was der germanische Geist hervorgebracht, und das Gudrunlied sind die edelsten Gestaltungen dieser Sagen. Die Dichter, welche uns diese Heldengesänge in ihrer jetzigen Form gaben, zollten ihrer Zeit einen redlichen Tribut, indem sie den altheidnischen Riesengestalten christlich-romantische Gewänder anthaten; allein das heidnisch-wilde Muskelspiel der Helden und Heldinnen schiebt diese Gewandung fortwährend bei Seite. Wir stehen da überall auf urzeitlich-germanischem Boden und recht charakteristisch ist es, wenn z. B. im Lied vom Rosengarten der Mönch Ilsan, eine köstliche Figur, seiner Kutte zum Trotz ganz wie ein urwäldlicher Berserker sich gebärdet. Auseinanderzusetzen, wie die ritterlich-romantische Lyrik durch eine zum Theil ganz vortreffliche Lehrdichtung hindurch zuletzt zur elenden Pritschmeisterei, die ritterliche Epik durch breite Epigonenversuche hindurch zur ungeschlachten Prosa der Volksbücher sich abstufte, dazu ist hier kein Raum.

In dem Maße, in welchem während des 14. und 15. Jahrhunderts die Formen der ritterlich-romantischen Poesie zum Gemeinen und Rohen herabsanken, verwitterte auch das Interesse an ihrem Inhalt. Wenigstens unter den gebildeteren Classen der Nation, wo die Entwerthung und Entfremdung der Ueberlieferungen einheimischer Dichtung zu der mehr und mehr sich verbreitenden Bekanntschaft mit dem classischen Alterthum in genauem Verhältniß stand. Zu Anfang des 16. Jahrhunderts hatte die Literatur eine ganz antikisirende Richtung angenommen, und da die Gelehrten nur lateinisch sprachen und schrieben, so blieb der deutschen Muse nur übrig, beim eigentlichen Volk eine Zuflucht zu suchen. Dort, wo um diese Zeit eine Fülle schönster Volkslieder gedieh, mußte man die deutsche Poesie suchen, weit mehr als in den zwar wohlgemeinten, aber schnörkelhaften Singschulen der städtischen Meistersänger, über deren handwerksmäßige Plattheit nur Meister Hans Sachs vermöge reichen Gemüthes und klaren Verstandes emporragte. Die humanistische Bewegung wurde für die Literatur erst recht fruchtbar, als ein Mann wie Hutten die Probleme des Reformationszeitalters dem Volke in der deutschen Muttersprache zu vermitteln begann. Dann gab die Luther'sche Bibelübersetzung der Literatur mit einem neuen Inhalt auch die neue Form, deren beste nationalliterarischen Aeußerungen zunächst das protestantische Kirchenlied und die in Fischart gipfelnde reformistische Satire waren. Auch die polemischen Komödien jener Tage, den derben Ton des reichstädtischen »Fastnachtsspiels« auf die alte Mysterienbühne verpflanzend, gehören hierher. Das von katholischer wie von protestantischer Seite gleich eifrig geförderte Schulkomödienspiel hatte zwar seinerseits keine literarischen Resultate, trug aber doch zur Weiterbildung der szenischen Kunst nicht wenig bei.

Im 17. Jahrhundert ist die Lostrennung der Literatur vom Leben vollständig durchgeführt. Das Volk ist von der Betheiligung an jener ganz zurückgetreten: – sogar die sogenannten Volkslieder dieser Zeit sind nur Machwerke der Gelehrten. Diese monopolisiren die Literatur und sie nimmt unter ihren Händen die unerquicklichsten Gestaltungen an. Der Zusammenhang mit den Schätzen und Traditionen der alteinheimischen Literatur war völlig zerrissen: die gelehrten Literatoren wußten Nichts vom nationalen Alterthum, sondern nur vom griechischen und römischen, und zwar vielfach nur durch die umfärbende oder geradezu fälschende Vermittelung der Franzosen und Italiener, welche die Vorbilder einer sklavenhaften und plumpen Nachahmung abgaben. Zwar in den ersten zwei Dezennien des Jahrhunderts hatte noch ein besserer Geist in Deutschland sich zu regen versucht. Ein vaterländisch gesinnter Fürst, Ludwig von Anhalt-Köthen, hatte 1617 die Fruchtbringende Gesellschaft oder den Palmenorden gestiftet, welcher einerseits die neuhochdeutsche Mundart als allgemeine Schriftsprache neu befestigte, andererseits darauf ausging, die von Ausländerei trunkenen höheren Gesellschaftskreise an deutsche Sprache, Bildung und Sitte zu erinnern. Auf solche Bestrebungen gründete dann Opitz seine Wiedererneuerung der nach Inhalt und Form ganz elend gewordenen deutschen Dichtung. Er war ein wohldenkender Patriot, der aber unglücklicher Weise von Poesie keine Ahnung hatte. Deßhalb stellte er als Grundgesetz derselben in seinem berühmten »Buch von der deutschen Poeterey« (1624) die lehrhafte Verständigkeit hin und verwies zur Erfüllung desselben auf die unbedingte Nachahmung der Alten und ihrer modernen Nachahmer. Indessen auch größere Talente und Kräfte vermochten in der ungeheuern Trübsal des inzwischen hereingebrochenen dreißigjährigen Krieges zu keinen bedeutenden Leistungen zu gelangen. So ließ z. B. die schreckliche Zeit den Genius des tief und fein fühlenden Flemming nicht zur Reife kommen und trieb den hochbegabten Andreas Gryph, welcher unter günstigeren Umständen ein Stück deutschen Shakspeare's hätte werden können, in die falschen Geleise einer verzerrten und gräuelhaften Tragik hinein. In Folge der politischen Einflüsse des Auslandes, wie in Folge der Zusammenwürfelung aller Arten von fremden Kriegsvölkern auf deutschem Boden, schien das deutsche Wesen aus seinen Wurzeln gerissen werden zu sollen. Mit einer fast beispiellosen sittlichen Korruption ging ein unerhörtes Verderbniß der Sprache Hand in Hand. In Wahrheit, die Sprache der »Gebildeten« von damals war so bunt und abgeschmackt wie eine Narrenjacke. Vergebens setzten sich ernstere und redlichere Schriftsteller, wie Michel Moscherosch (Philander von Sittenwalt) und der Verfasser des vortrefflichen Sittenromans Simplicissimus, dem moralischem und sprachlichen Unfug entgegen. Die Literatur, in Nachahmung der italischen Seicentisten auf der tiefsten Stufe der Entartung angelangt, war nur noch ein Cultus der Zuchtlosigkeit und Grausamkeit. So finden wir sie in den Werken von zwei Chorführern der zweiten schlesischen Dichterschule, Hofmannswaldau und Lohenstein. Der Schwulst ihrer Sprache, wie die Lascivität ihrer Anschauungen übersteigen alle Vorstellung. Hätten wir nicht die gedruckten Zeugnisse vor uns, würden wir es geradezu unglaublich finden, was man in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in Deutschland für »galant«, für schön, für poetisch, für tragisch hielt.

Man muß jedoch diese verpestete Atmosphäre kennen, um die glorreiche Reinigungsarbeit, welche unsere großen Geister im 18. Jahrhundert vollzogen, in ihrem ganzen Umfange zu verstehen und nach ihrem ganzen Werthe zu schätzen. Niemals ist unter ungünstigeren Voraussetzungen ein schwierigeres Werk unternommen worden. Das 17. Jahrhundert steht als ein Brand- und Schandmal in der deutschen Geschichte. Nur noch in wenigen edleren Gemüthern glomm deutscher Sinn schüchtern unter dem Wust einer aus sittlicher Schlaffheit und schamloser Zügellosigkeit abenteuerlich gemischten Zeitstimmung. Das »alamodische« Unwesen, d. i. die blindeste Nachäfferei von Fremdländischem in Tracht, Sitte und Sprache, beherrschte die tonangebenden Kreise ganz und gar. Alles war in Deutschland daheim, nur Vaterländisches nicht. Die katholischen Höfe empfingen von Rom und Madrid her Anregungen und Befehle, die protestantischen verriethen die deutschen Interessen an Frankreich. Die Reichsverfassung war eine verrottete Maschine, die zwar mitunter laut knarrte und klapperte, aber keine Wirkung mehr that; denn des Reiches »Herrlichkeit« war durch den westphälischen Frieden zur Spottgeburt einer Anarchie herabgesunken, deren politisches Thun und Lassen vollkommen der Anarchie entsprach, welche in den sittlichen und literarischen Zuständen herrschte.

Am Schlusse des 17. Jahrhunderts stand eine große Veränderung im Staatswesen des Continents fertig da. An die Stelle des in Ruinen fallenden germanischen Feudalstaats, welcher sich nur in dem insularischen England und nur vermittelst zweier Revolutionen zur aristokratisch-repräsentativen Monarchie zu entwickeln vermocht hatte, trat auf dem europäischen Festland der romanische Absolutismus, in Spanien geboren, aber in Frankreich großgezogen, geschult, raffinirt. Hier hatte von Philipp August an eine Reihe von Königen und Ministern an der Ausbildung und Verwirklichung der absolutistischen Staatsidee gearbeitet. Es war das einem Lande ganz angemessen, dessen Bevölkerung wie nur wenige andere das Talent der Knechtschaft besitzt, wie nur wenige andere zur Ertragung der Freiheit unfähig ist und unter allen Umständen einen Herrn, einen Despoten, einen Götzen nöthig hat. Ludwig XIII. und nach ihm Richelieu und Mazarin hatten für das absolute Königthum so viel gethan, daß Ludwig XIV. nur noch die letzte Hand anzulegen brauchte, um die Phrase: Der Staat bin ich! zur vollendeten und allseitig anerkannten Thatsache zu machen. Er wurde das vergötterte Muster der festländischen Fürsten, auch solcher, welche durch seine beispiellosen Uebergriffe zum Kriege gegen ihn gezwungen waren. Die Mode des Absolutismus von Versailles grassirte mit der Heftigkeit anderer französischer Moden in Europa. Alle Classen der Gesellschaft waren unter diesem nivellirenden Despotismus dem Wesen nach gleich erniedrigt und nur die Formen der Knechtschaft statuirten Unterschiede. So eröffnete sich das 18. Jahrhundert.


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