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Der moderne Kolorismus

Über das Wesen des modernen Kolorismus ist wenig erst gesagt worden; es fehlt, trotz der vielen Schriften über Malerei, an gründlichen Untersuchungen über die Farbe. Das Problem ist jung und eigentlich erst seit einigen Jahrzehnten aktuell. Neben der Zeichenlehre, die schon Jahrhunderte alt ist, gibt es nicht auch eine künstlerische Farbenlehre; moderner Kolorismus, das ist nahezu ein Pleonasmus.

Die absolute Farbe, das heißt die Eigenfarbe der Erscheinungen, hat allerdings von je eine Rolle in der Malerei gespielt; und einen Kolorismus im Sinne des harmonischen, ja des ausdrucksvollen Zusammenstimmens dieser Eigenfarben hat es auch immer gegeben. Doch war die Farbe mehr oder weniger zwischen den Konturen der Zeichnung oder sie war nur ein Bestandteil des Hell und Dunkel; die koloristische Begabung des Malers äußerte sich darin, wie er die einzelnen Farben als Klänge behandelte und sie zu Akkorden verband. Das Entscheidende in alten Kunstwerken ist die Zeichnung und die Wirkung von Hell und Dunkel. Man kann die Farbe von den Bildern alter Meister abziehen, ohne daß den Werken der Lebensnerv durchschnitten wird; die Farbe gehört nicht durchaus zum künstlerischen Organismus, sie ist etwas Hinzugefügtes, ist weniger ein Mittel, das Leben auszudrücken, als vielmehr ein Mittel, das schon dargestellte Leben mit mehr Schmuck und Illusion zu umgeben.

Allerdings gibt es Kunstwerke, in denen große Maler versucht haben, der Farbe einen höheren als einen nur dienenden Rang anzuweisen. Man denke an Veronese und Tintoretto, an Velazquez und Greco, an Rubens oder, vor allem, an Frans Hals, wie er sich in Haarlem darstellt, und man wird erkennen, wie große Meister sich bemüht haben, auch mit der Farbe unmittelbar Leben und Bewegung auszudrücken, ihr das Starre, Unbewegliche zu nehmen und flüssig farbig zu malen. Über einen gewissen Punkt sind sie alle aber nicht hinausgelangt, konnten sie nicht hinausgelangen, weil erst eine neue Sehform aufkommen mußte, der die Farbe ein ebenso lebendiges Ausdrucksmittel ist, wie es die Zeichnung für die alten Meister gewesen ist. Mit Recht berufen sich moderne Koloristen auf Rubens als auf einen Vorgänger, und es ist sehr bezeichnend, daß Purrmann, zum Beispiel, ein Bild von Rubens in freier Weise, nur die Farbenorganisation betonend, kopiert hat, als er sich bewußt dem Kolorismus zuwandte; mit Recht verweisen sie auch auf Delacroix, der für sich selbst das Gesetz der Komplementärwirkung im Licht und Schatten und das Gesetz der farbigen Reflexe entdeckt und mit starkem Gestaltungsvermögen künstlerisch angewandt hat, der Goethes vom Auge »geforderte Farbe« gesehen und sich systematisch einen »Chronometer« angefertigt hat, um das Gesetz der Komplementärwirkung stets vor Augen zu haben. Dennoch hat weder jener noch dieser eine Revolution des Sehens hervorgerufen. Beide gehen im wesentlichen noch von der Zeichnung und vom Hell und Dunkel aus, wenngleich einige ihrer Bilder schon nicht mehr ohne die Farbe gedacht werden können. Die Entdeckungen blieben bei ihnen, wie bei Frans Hals, der bereits in farbigen Flecken malte, ohne Folge.

Sogar ein Maler wie Corot, der der neuen Kunst doch sehr nahe steht und den man paradox einen Koloristen in Grau nennen könnte, hat programmatisch noch diese Sätze verkündet: »Zwei Dinge müssen zuerst studiert werden: die Form und darauf die Valeurs. Diese beiden Dinge sind für mich die wichtigsten Stützpunkte in der Kunst. Farbe und Technik geben dem Werke sodann den Reiz. Es erschien mir sehr wichtig, eine Studie oder ein Bild damit anzufangen, daß ich die dunkelsten Töne (vorausgesetzt, daß die Leinwand weiß ist) angab und so der Reihe nach fortfuhr bis zum hellsten Ton. Ich möchte von dem dunkelsten bis zum hellsten Ton zwanzig Nummern aufstellen. So wird unsere Studie oder unser Bild ordnungsmäßig aufgebaut sein. Diese Ordnung darf natürlich weder den Zeichner noch den Koloristen beengen. Achtet stets auf die Masse, die Gesamtwirkung, auf das, was euch zuerst auffiel! Verliert niemals euren ersten lebendigen Eindruck. Also erst die Zeichnung suchen, darauf die Valeurs, die Beziehungen zwischen Form und Valeurs. Das sind die Stützpunkte. Sodann die Farbe und schließlich die Technik.«

Zu einem selbständigen Ausdrucksmittel ist die Farbe von jenen Malern erhoben worden, die man Impressionisten nennt. Es ist nicht auf Grund verstandesgemäßer Überlegungen geschehen, sondern gefühlsmäßig; es war eine neue Sehform, die die Farbe in ihr Recht eingesetzt hat, ein vollgültiges Ausdrucksmittel zu sein, ein Mittel, um atmendes Leben wiederzugeben. Es ist der Wille zur Darstellung des Bewegten, der die Farbe entdeckt und der geschaffen hat, was man Kolorismus nennt. Denn von Kolorismus darf man nur sprechen, wo die Farbe unbedingt nötig, wo sie ein unentbehrliches Ausdrucksmittel ist, wo sie für das, was ausgedrückt werden soll, nicht entbehrt werden kann. Sehr fein hat Erich Hanke in seinem Buch über Liebermann gesagt, worauf es ankommt. Er schreibt, die Impressionisten hätten sich den Leitsatz: »Licht, Farbe und bewegendes Leben« zu eigen gemacht und sie hätten geglaubt, damit ihr Wollen klar auszudrücken. In Wahrheit passe dieser Satz aber auf alle gute Malerei. Licht, so fragt er, ist es nicht in Rembrandts »Nachtwache«? Farbe, ist sie nicht im Kleid der »Judenbraut«? Und wie sollte ohne bewegendes Leben ein Kunstwerk zu denken sein?« Er sagt: nicht »Licht, Farbe und bewegendes Leben,, muß es heißen, sondern »Licht und bewegendes Leben durch die Farbe«. Mit Recht weist er darauf hin, daß in der neuen Anschauung von der Farbe recht eigentlich der Gegensatz zwischen alter und neuer Malerei liegt. In der Tat werden in Bildern von Manet, Monet, Sisley und Renoir unversehens alle Helligkeiten und Dunkelheiten zu Farben, es verschwinden die Schwärzen sowohl wie die weißgelben Lichter, die Bildfläche ist übersponnen von einem Gewebe mehr oder weniger komplementärer Töne, ist aufgelöst in farbige Flecken und Pinselstriche, die aufgelockerte Malerei ist auf Fernwirkung berechnet, sie nimmt in einer neuen Weise die Schöpfungskraft des menschlichen Auges in Anspruch und stellt, wie durch ein Wunder, die Illusion der Bewegtheit her. Der Maler zieht die den Raum schaffenden Helligkeiten und Dunkelheiten als Farben nach vorn in die Fläche; während der Betrachter aber dieses Spiel des von der Farbe aufgesogenen Hell-Dunkels und der von der Farbe aufgelösten aber nicht vernichteten Zeichnung auf sich wirken läßt, beginnt ihm der Raum in einer neuen Weise zu leben. Die Malerei gerät ins Helle. Die Skala reicht nicht mehr vom hellsten bis zum tiefsten Ton, der Maler kommt mit einem geringeren Umfang aus. Das heißt: die Farbe schafft eine neue Bildökonomie; indem das Auge in Farben denkt, gewinnt die Komposition einen neuen Charakter. Sie wird beweglicher und verliert das architektonisch Feste, ohne doch an Ordnung zu verlieren, sie scheint unmittelbarer aus der Natur abgeleitet. Die Farbe komponiert. Die Schatten haben nicht in erster Linie logische Bedeutung, sondern sind koloristische Empfindungswerte, sie erscheinen nicht mehr nächtlich, sondern ganz taghaft. Auch tritt das Gegenständliche mehr zurück, ohne daß die innere Wirklichkeit darunter litte; die Gegenstände sind wie von ihrer materiellen Schwere befreit. Es tritt, mit einem Wort, durch die Erhebung der Farben zu einem der Zeichnung und Modellierung gleichwertigen Ausdrucksmittel ein neuer Stil der Malerei ins Leben.

siehe Bildunterschrift

August Renoir, Kinderbildnis.

Man kann freilich nicht auf irgendein beliebiges Bild Manets oder Renoirs, Monets oder Sisleys weisen, um diese Behauptung zu erhärten. Es ist für alle Meister des Impressionismus vielmehr bezeichnend, daß sie mehr oder weniger altmeisterlich, im Sinne der Akademie sogar begannen und daß in ihrer Lebensmitte dann eine Krisis eintrat, aus der sie mit gewandelter oder doch konsequent nun erst durchgeführter Natur- und Kunstanschauung hervorgingen. Der Manet der »Olympia«, oder der des »Bon Bock« ist ein anderer als der des »Landhauses in Rueil«, der Monet der »Dame in Grün« ist anders als der der Themsebilder, der Renoir der »Diana als Jägerin« hat einen andern Stil als der des großen Familienbildes oder der Landschaft mit der Kastanie in der Nationalgalerie. Die Metamorphose besteht bei allen darin, daß sich ihnen Hell und Dunkel in Farben verwandelt haben, daß die Zeichnung dabei aufgelockert worden ist, daß die Eigenfarben aufgehen in einer Gesamtfarbigkeit der Natur und daß die Modellierung alle Schwere verliert. Die Farbe in der »Olympia« und in den verwandten Bildern hat noch etwas Absolutes, in Manets späten Landschaften ist sie dagegen ganz relativ, sie kennzeichnet nicht mehr die Gegenstände, sondern erscheint wie ein Kleid des kosmischen Seins. Die Entwicklung geht stufenweise vor sich, etwa so wie Meier-Graefe es mit Bezug auf Renoir einmal schön ausgedrückt hat: »Renoir begann mit einer festen Form. Er öffnete sie, um Farbe hereinzulassen, und schloß sie wieder, um sie zu festigen. Das Verfahren wiederholt sich. Es gleicht dem ruhigen Atmen eines gesunden Körpers.«

In Deutschland ist es ähnlich gewesen. Zwar kann man Liebermann und Trübner nicht als Impressionisten im Sinne der Franzosen bezeichnen; dennoch ist auch in ihrem Lebenswerk der Punkt nachzuweisen, wo die altmeisterlich feste Form aufgeopfert wird zugunsten einer offeneren Form. Und es ist auch hier die Farbe, die den Wandel vollzieht. Man darf den späteren Liebermann freilich nicht einen Koloristen nennen, er ist und bleibt, als rechter Deutscher, eine Schwarz-weiß-Natur. Innerhalb dieser nationalen Bestimmung aber hat auch er seine Malerei von einem gewissen Zeitpunkt ab wie ein Kolorist behandelt. Der Zeitpunkt ist bezeichnet, wenn man feststellt, wann er begann, die Natur als Ganzes zu sehen statt in Teilen und diesen Eindruck einer Ganzheit intuitiv vor der Natur selbst darzustellen, wenn man feststellt, wann er aufhörte, für seine Bilder genaue Detailstudien zu machen, und als das Publikum begann, ihm kurzsichtig den Vorwurf zu machen, er sei ein Skizzist. Blickt man auf Trübner, so findet man den Zeitpunkt, wo aus dem Maler altmeisterlicher Tonigkeit ein Kolorist wurde, als er mit den saftig grünen Landschaften und der glühenden Fleischmalerei begann. Zwar ist er dabei bedenklich oft ins Vitriolblaue und Anilinrote geraten, er ist auch in die Farbe um ihrer Prächtigkeit willen verliebt gewesen; dennoch bezeichnet auch hier der Wandel einer persönlichen Anschauung einen Stilwandel der deutschen Malerei überhaupt. Die Farbe hat im Kunstwerk eine neue Funktion.

siehe Bildunterschrift

Paul Cézanne, Stilleben.

Henri Matisse, Landschaft.
© 31.12.2024

Der moderne Meister, der neben Renoir, aber in einer andern Weise, die Farbe als Ausdrucksmittel am höchsten hinaufgetrieben und ihr ungeahnte Wirkungsmöglichkeiten entlockt hat, ist Cézanne. Er hat einen Schatten zuweilen kaum dunkler gegeben als ein Licht, und doch rundet sich der Kopf, der Baum, die Frucht so plastisch wie bei einem mit Licht und Schatten hart modellierenden alten Meister. Er ist ein großer Entdecker neuer ausdrucksvoller Farbenintervalle. Man weiß, wie Cézanne sich gemüht hat, die Farbennuancen zu treffen, die das Leben herstellen und die Bewegtheit imaginieren. Wie Flaubert stundenlang über ein bestimmtes Wort grübeln konnte, so hat Cézanne, zwischen Motiv und Malleinwand immer wieder hin- und hergehend, um einzelne Farbtöne sich bemüht, und er hat lieber die Leinwand leerstehen lassen, als daß er sich mit dem Ungefähr begnügt hätte. Diese Arbeitsweise war aber nicht nur persönlich bestimmt, sie wird bis zu gewissen Graden die Arbeitsweise jedes Koloristen sein, der nicht die Tapete, sondern das Leben will. Der Erfolg wird zu einer Sache der persönlichen Sensibilität und künstlerischen Verantwortlichkeit. Der moderne Kolorist tritt, da alles neu gefunden sein will, entweder als ein charaktervoller Ergründer auf, oder er sinkt gleich zum Dekorateur herab. Cezanne ist in diesem Sinn ein großer Ergründer, der neue Wahrheiten zur neuen Schönheit hinaufführt. Die Art, wie er die Farbe empfindet und der Form verbindet, ist sakral, im Gegensatz zu der sinnlichen Anschauung Manets oder zu der naiven Zärtlichkeit Renoirs. Er hat die Farbe monumentalisiert und mit Abstraktion umkleidet; sie wird unter seiner Hand magisch. Doch bleibt sie streng am Natürlichen gebunden, sie ist Licht und Schatten, Reflex, Raum und Materie. Sie tritt in größeren Pinselzügen auf und hat mehr Festigkeit als bei den Impressionisten, weil sie mehr vom Licht unabhängig gemacht ist als dort. Wenn die Impressionisten die farbige Einheitlichkeit der Lichtnatur geschaffen haben, so hat Cézanne mit Hilfe der Farbe eine einheitliche Elementarnatur geschaffen. Als eine organische Verbundenheit tritt die Farbe hier und dort auf; doch ist die Anschauung des Organischen dort, wie gesagt, sinnlich betont und hier sakral. Die künstlerische Verwunderung vor der Erscheinung ist bei Renoir ein Entzücken, bei Cézanne ist sie nahezu ein Überwältigtsein. Darum hat man seinen Namen auch so oft neben dem Van Goghs genannt, der an diesem Erschrecken zugrunde gegangen ist. Man kann die beiden Maler im tieferen Sinn aber kaum vergleichen. Der Holländer war eine der merkwürdigsten künstlerischen Persönlichkeiten der neuen Kunst, Cézanne ist ein Gesetzgeber. Die Farbe vor allem ist bei Cézanne etwas anderes als bei Van Gogh. Bei diesem tritt sie, wie bei den Expressionisten, halb symbolisch auf, sie erscheint ideenhaft, wirkt darum (darum!) dekorativ und ist mehr zwischen den Linien der kräftigen, holzschnittartigen Zeichnung. Sie wird Mittel zum Zweck, wo sie bei Cézanne reines Ausdrucksmittel eines optisch-seelischen Erlebnisses und ganz die Äußerungsform eines Malers ist.

Vielleicht ist die Farbe bei Cézanne hier und da schon etwas überreizt. Darauf deutet der Umstand, daß zuweilen die Kontur zu Hilfe gerufen wird, um Farbflächen, die zu sehr auf einer Höhe liegen und verschiedenen Körpern angehören, gegeneinander abzugrenzen und so die allzusehr aufgelockerte Zeichnung etwas gewaltsam wieder herzustellen. In einem Bild Manets wäre solche Kontur eine unmögliche Stilwidrigkeit, ein Bild Renoirs würde davon in Fetzen gerissen werden. Bei Cézanne stören diese Konturen wenig, ein Beweis, wie abstrakt diese Malerei bei all ihrer sinnlichen Fülle schon ist. Den Nachfolgern aber, die sich naturgemäß mehr an das begrifflich erfaßbare Abstrakte halten als an das Sinnliche, ist damit ein gefährlicher Weg gewiesen. Sie haben das Bestreben, sie müssen es wohl haben, die Farbe als Ausdrucksmittel noch weiter zu steigern und es – zu übersteigern. Und in dem Maße, wie sie es tun, müssen sie versuchen, etwas wie eine Harmonielehre der Farbe aufzustellen. Matisse hat in den Grenzen seines schönen Talents diese Arbeit am kräftigsten und lautersten geleistet. Sein Kolorismus, der bezeichnend Hand in Hand geht mit strengen Kompositionsbestrebungen, vermeidet ganz nun das Grau, das bei den Impressionisten und selbst bei Cézanne noch nicht völlig verschwunden ist, er besiegt absichtsvoll in jeder Weise das »Trübe« und entfernt aus dem Bild den Neutralton. Er malt mit dem reinen Pigment. Hatte sich der farbige Pinselstrich der Impressionisten bei Cézanne in breite Flecken verwandelt, so werden diese bei Matisse nun zu großen farbigen Flächen, die gegeneinander mit dunkeln oder hellen Konturen abgegrenzt werden. Eine gewisse Farbenmathematik wird sichtbar. Die Ordnung wird exakt, der Geschmack erscheint fast wissenschaftlich. Doch ist auch in dieser Abstraktion noch immer viel schöne Sinnlichkeit enthalten, weil Matisse nicht die Dekoration will, sondern das Leben. Die Farbe ist in die Hände eines Epigonen geraten, aber in die Hände eines meisterlichen. Die Farbe kehrt nun scheinbar auch hier, wie bei den Expressionisten, in einer neuen Weise zur Eigenfarbe zurück; doch ist gewissermaßen die Wirkung von Licht, Schatten und Reflex in die Eigenfarben hineingezogen worden, sie wird rein optisch bestimmt. Die Eigenfarbe wird gesteigert, sie wird zum Leuchten gebracht, sie erscheint wie beladen mit optischer Bedeutung. Matisse gibt eine Synthese der Eigenfarben und der Wirkungsfarben, er vereinigt Eindruck und Wissen. Sein Formalismus ist voller Empfindung. Bezeichnend für ihn ist die Vorliebe für Interieurwirkungen. Die Luft im geschlossenen Raum ist seiner ebensosehr ergründenden wie arrangierenden Phantasie am zuträglichsten, er braucht Kontraste, die die freie Natur nicht leicht bietet. Es ist auch bezeichnend, daß er ein Lehrer vieler Maler geworden ist, daß er überhaupt lehrhaft denkt. Und es ist endlich charakteristisch, daß er nicht dauernd bei seinen Bildern großen Formates bleibt, sondern immer wieder auch zurückkehrt zu mehr impressionistischen und gegenständlichen Darstellungen, daß er also das Bedürfnis fühlt, dann und wann die eigene Grundsätzlichkeit zu durchbrechen. Er ist als Maler nicht mehr so natürlich einheitlich wie seine großen Vorgänger; er erstrebt absichtsvoll die höchste Einheitlichkeit. Er ist ebenso kritisch wie produktiv; es drängt in ihm jede Empfindung ins Bewußtsein. Über das, was die großen Maler der letzten Jahrzehnte getan haben, und über das, was er selbst tut, gibt er sich aufs genaueste Rechenschaft.

Hier stehen wir heute. Die Errungenschaften von Matisse hat noch kein Jüngerer so umgestaltet, daß man von einer neuen Phase des modernen Kolorismus reden dürfte. Man wird gut tun, abzuwarten was weiter erfolgt. So reizvoll es sein würde zu untersuchen, was noch kommen kann, welche Gefahren für den Kolorismus in Matisse schon und mehr noch in der farbigen Anschauung der Expressionisten lauern, und in welcher Weise der reine Kolorismus zur Linie und zum Hell-Dunkel wieder zurückstrebt, wieder zurückstreben muß: für diesmal mag es sein Bewenden haben bei der Feststellung dessen was ist.


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