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Max Liebermann

1847 – 1935

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Max Liebermann, Lithographie zu »Kleists kleinen Schriften«.

Es lebt kein Künstler, der fester mit Berlin verwachsen wäre und der mehr für das Ansehen der Reichshauptstadt getan hätte. Man kann sich Liebermann in keiner anderen Stadt recht vorstellen, kann ihn nur als Sohn des altberlinischen Judenpatriziats denken, und es scheint mehr als ein Zufall, daß das von ihm bewohnte Elternhaus neben dem Brandenburger Tor liegt, mit dem Blick auf Linden und Tiergarten. Das Schicksal des neuen Berlin ist auch das Schicksal Liebermanns. Er steht nicht nur da am Ende einer langen Reihe Berliner Künstler, deren erster Chodowiecki ist und die über Namen wie Gottfried Schadow, Blechen, Franz Krüger, Steffeck und Menzel dahinführt, sondern es beginnt mit ihm auch recht eigentlich die neue Zeit für Berlin. Menzel war der letzte preußische, Liebermann ist der erste großdeutsche Maler Berlins. Durch ihn erst ist Berlin künstlerisch zur Reichshauptstadt geworden. In der schnell wachsenden Großstadt, in diesem Mittelpunkt des politischen und wirtschaftlichen Lebens, ist es zuerst begriffen worden, daß die deutsche Kunst vom Provinziellen erlöst und zu europäischer Geltung wieder erhoben werden muß. Berlin hat München überflügelt, weil es am wenigsten gezögert hat, dem Impressionismus die Tore zu öffnen, weil das unentbehrliche Fremde dort am selbständigsten verarbeitet und die notwendig gewordene Revolutionierung der Kunst am entschlossensten durchgeführt worden ist. Der Künstler aber, der diese Aufgabe der Zeit zu seiner persönlichen Aufgabe gemacht hat, unter dessen Führung der Geist Norddeutschlands auch kulturell die Leitung im Reiche übernommen hat, ist Max Liebermann.

Die Bedeutung der Tat, daß Liebermann bei uns den Impressionismus verwirklicht hat, liegt darin, daß der Impressionismus – wie ich es vor fünfzehn Jahren in der »Zukunft« formuliert habe und wie auch Liebermann es später in einer seiner Sezessionsreden ausgedrückt hat – eine Weltanschauung ist, das heißt, ein Schicksal, das jedermann persönlich angeht, eine Angelegenheit der Menschheit, woran die Deutschen nicht vorübergehen durften. Alles kam darauf an, welcher Art der Vermittler war, der uns die neue Sehform ins Deutsche übersetzte, wie groß die gestaltende Kraft war, die für das Allgemeine die besondere deutsche Form fand. Wir müssen es segnen, daß der Führer zu den neuen Zielen ein großes Talent war, eine naive Natur und ein reiner Wille. Liebermann hat sich seine geschichtliche Mission sicher nicht klar gemacht, aber er hat sie instinktiv empfunden, und bei jedem Strich, den er machte, die Verantwortung gefühlt. Er fühlte, daß er sein Berlinertum betonen müsse, um die deutsche Kunst erweitern zu können, daß er den vorwärtsdringenden, auf geistige Erweiterung zielenden Geist der Hauptstadt idealisieren müsse, wenn ein neues künstlerisches Deutschland entstehen sollte.

Liebermann konnte die deutsche Malerei revolutionieren, weil er der Schöpfer eines Malstils geworden ist, den eine ganze Jugend als die ihr gemäße Ausdrucksform erkannte. Zuerst hat er die Kunst gereinigt. Er hat sie von der mechanischen Nachahmung der Natur befreit und von allem Subalternen. Seine Arbeitsweise hat weiter dargetan, daß es sich in der Kunst um Formenschöpfungen handelt und daß der Abstand vom Gegenstand die erste Bedingung aller malenden Kunst ist. Doch hat er nicht Verachtung der Natur gelehrt; er hat, im Gegenteil, seine Staffelei unmittelbar ins Freie hinausgetragen, während seine Genossen im Atelier blieben. Er hat gezeigt, daß der Maler, im Sinne der alten Meister, Aug in Aug mit der Natur schöpferisch sein soll, daß der Künstler angesichts der Natur vom Naturvorbild muß absehen können; und damit hat er die deutsche Kunst ein neues Verhältnis zur Natur gelehrt. Einer neuen Art von Phantasie hat er den Weg bereitet, als er die Phantasie von der Anschauung, vom Handwerk, sogar von der Technik aus begriff. Auch hierin hat er im Sinne der alten Meister gehandelt. So revolutionär sein Beginnen zuerst erschien, so sehr war es doch erhaltend; je mehr Liebermann in einen Gegensatz zu seiner Zeit geriet, um so näher stand er bei den großen Malern der Vergangenheit. Zu einem neuen Malstil ist er gelangt, weil er die eine unteilbare Kunst meinte, die in jeder Zeit zwar ein neues Gesicht hat, im Wesen aber immer dieselbe ist. Dieser Stil, der sich in der Folge als die Ausdrucksweise einer ganzen Generation erwies, kann als der Stil einer abkürzenden Darstellungsweise, als malerische Kurzschrift bezeichnet werden. Liebermann hat die inspirierte Studie zum Range des Bildes, des vollendeten Kunstwerkes erhoben. Nicht weil er das Flüchtige wollte, nicht aus Unvermögen, sondern weil er heftig immer ein Ganzes wollte, weil der Wille zur Synthese ihn so beherrscht, daß er nicht die kleinste Kreideskizze machen kann, ohne sie geistig abzurunden und ihr eine gewisse Endgültigkeit zu geben. Sein Stil gestaltet das Bleibende im ewig Wechselnden, er gibt zugleich mit dem Unmittelbaren eine Summe von Eindrücken, er schreitet vom Besonderen zum Ganzen fort, vom Erlebnis des Auges zur Erfahrung des Gesetzlichen, von der Einfühlung zur Abstraktion. Er führt den Schüler mitten hinein in die lebendige Natur und zwingt ihn dann, sich über den Augenblick im Augenblick selbst zu erheben.

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Max Liebermann, Studie zu den »Flachsscheuern«.

Liebermann hat die Deutschen von jener Verträumtheit befreit, die ihnen so lange zum Wesen der Kunst zu gehören schien. Die Romantik hat er überwunden, sowohl die idyllisch-naturalisierende wie die klassizistisch-stilisierende, die Romantik der poetischen Ideen ebensowohl wie die der Bildung. Wo seine Art doch ins Romantische hinüberzuspielen scheint, da erhebt sich die Stimmung zum Kosmischen. Die Romantik dieses Künstlers heißt Lebensgefühl, sie ist im Räumlichen, in der Richtigkeit der Tonwerte, sie ist ein Bestandteil der Form. Das erste und letzte in der Kunst Liebermanns ist die Form; er verdient den schönen Titel eines Handwerkers der Form. Die Formgestaltung aber gelingt so sicher und überzeugend nur, weil der Künstler die große Sachlichkeit hat, weil er »vom Objekt das Gesetz empfängt«. Nie hat er sich vom Stoff, vom Gegenstand helfen lassen, er hat vielmehr mit Fleiß das Unscheinbare in die Sphäre des rein Künstlerischen erhoben. Auch benutzt er die Malerei nicht zu irgendwelchen unkünstlerischen, wenn auch noch so edlen Zwecken. Durch sein ganzes Leben geht die Frage: was ist Kunst? Er hat versucht, die Antwort zu finden, hat sich selber Rechenschaft gegeben und ist dahin gekommen, über Kunst auch zu schreiben. Und dieselbe Frage hat ihn zu einem der feinsten Sammler moderner Meisterwerke werden lassen. Es scheint, als hätte mit seinem Hirn die deutsche Kunst über sich selbst nachgedacht. Wenn eine neue Jugend jetzt besser als früher weiß, worin die Aufgaben der Kunst bestehen und wie ihre Wirkungen zustande kommen, so verdankt sie es nicht zuletzt Max Liebermann.

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Max Liebermann, Mutter und Kind, Zeichnung.

Dem Lebenswerk ist eine eindrucksvolle Größe eigen, weil es sowohl die Naivität wie die Kultur des Klassischen hat. Es ist eine reife Frucht lebendiger Überlieferungen und wertvoller Lehren, aber es ist bis zum letzten naiv und unbeeinflußt von akademischen Konventionen. Die ungemeine Naivität verleiht der Form das Endgültige; und dieses wiederum gibt der Form Kultur. Diese Kunst, die zuerst so struppig erschien, ist sehr vornehm. Je länger man sie kennt, um so mehr verwandelt sich die technische Heftigkeit in Anmut und die scheinbare Rauheit in Glanz und Schönheit. Liebermanns Kunst ist reif in all ihrer Bewegtheit. Das wird noch heute nicht von vielen erkannt. Wie jeder Bringer neuer Formen, ist Liebermann mißverstanden worden. Zuerst hat man ihn einen Maler der Dunkelheit genannt, dann einen Apostel des Häßlichen, einen Sozialisten, einen Naturalisten und endlich einen vaterlandslosen Internationalen. Man hat ihn zynisch und brutal gescholten, hat seinen Bildern die Farbe und die Zeichnung, die Komposition und die Technik abgesprochen, hat ihn phantasiearm genannt und traditionslos. Nichts von alledem war richtig. Immer meinte Liebermann nur eines: die Kunst, wie die großen Meister sie von je verstanden haben. Als man ihn gesetzlos nannte, erfüllte gerade er das Gesetz der Überlieferung besser als jeder andere; als man ihn undeutsch schalt, tat er das Entscheidende für die deutsche Kunst. Keiner hat so sicher wie er den Weg durch eine bewegte Zeit verfolgt. In seinem Lebenswerk gibt es nicht Abwege. Es gibt darin stärkere und schwächere Epochen, Werke von sehr verschiedener Qualität, aber nicht grundsätzliche Irrtümer. Darum steht Liebermann als Sieger da. Als ein noch immer von vielen nur widerwillig anerkannter Sieger. Volkstümlich ist Liebermann nicht; er wird es nie sein. Aber weder die Gegnerschaft Zurückgebliebener noch die allzu ungestüm Vorauseilender kann ihm den Ruhm schmälern, das Schicksal der deutschen Kunst bestimmt zu haben, wie die Geschichte es wollte, ein Lebenswerk geschaffen zu haben, das von Jahr zu Jahr imposanter erscheint, dessen Wirkungen unabsehbar sind und das aus der Geschichte der Kunst nicht mehr fortzudenken ist. Man hört gegen Liebermanns Malerei oft den Vorwurf der Kälte aussprechen. Aber diese Kälte ist zu großen Teilen nichts anderes als die Phrasenlosigkeit und der Mangel an Sentimentalität, es ist die starke Objektivität und die Abwesenheit alles weich Romantischen. Was diese Kunst meisterhaft macht, ist subjektiven Sympathien und Antipathien entzogen. Sie schmeichelt nicht und ist nicht sensationell; sie ist, bei aller modernen Nervosität, einfach wie die Kunst der alten Holländer. Sie hat die Kühle reifer Galeriekunst. Die Ursachen, daß sie nicht volkstümlich wird, sind dieselben, die einen Maler wie den großen Frans Hals nie populär werden lassen.

Moderne bürgerliche Malerei bester Art! Sie stellt den hellen, klaren Tag dar. Nie hat Liebermann die Natur wie im festlichen Sonntagsgewand gemalt, sondern stets in der Werktagsstimmung. Es gibt von ihm kein Bild von Morgen- oder Abenddämmerungen, keine Darstellung künstlichen Lichts, keine Schilderung von Sturm, Gewitter oder anderen dramatischen Naturvorgängen. Er malt nur das stille, starke Licht des Tages und die Dinge, die sich diesem Licht in den Weg stellen, davon überflutet werden und sich darin bewegen. Die Gelassenheit geduldig arbeitender Menschen zeigt er in einem Gerinnsel farbiger Sonnenflecke, oder vor weiten Horizonten, die unbestimmt ins Kosmische weisen. Sein Pinsel gewinnt der Natur eine neue Art von bürgerlicher Monumentalität ab. Auf seine Kunst passen die Worte des alten Hermann Grimm von der »liebevollen Durchdringung und Verehrung der leidenden Natur«, von dem »Alleinsein-Wollen mit der Natur«.

Für die deutsche Kunst bezeichnet diese einfach schöne Malerei den Weg ins Freie. Darum ist darüber auch so viel gesprochen und geschrieben worden. Sich mit Liebermann auseinandersetzen, das heißt, sich mit der neuen deutschen Kunst auseinandersetzen. Wie von selbst ist Liebermann zum Führer der Berliner Sezession und damit zum Präsidenten der wichtigsten deutschen Künstlergruppen geworden. Und sein Judentum hat ihn für die Stelle eines Erweiterers, eines Vermittlers des Fremden noch besonders geeignet gemacht; denn es hat ihn verhältnismäßig leicht Hemmungen überwinden lassen, die selbst für einen Menzel noch unüberwindlich waren.

Mit dieser Feststellung ist keineswegs gesagt, daß seine einzelnen Leistungen unbedingt über alles zu stellen sind, was die deutschen Zeitgenossen hervorgebracht haben. Neben ihm haben Maler gelebt, die ihm gleich zu schätzen sind, die ihn mit gewissen Fähigkeiten sogar übertroffen haben. Aber der eine blieb, als eine der größten Handwerksbegabungen des ganzen Jahrhunderts, in der süddeutschen Atelierkultur stecken, der andere kann als Genie nur gelten in den Grenzen eines starren Preußentums; einer rang um den großen Stil in der italienischen Fremde, und ein anderer glaubt das Höchste in den stillen Heimatstälern der Volkskunst zu finden. Ihre Kunst ist deutsch, aber sie kann nicht zugleich auch europäisch werden. Liebermanns Malerei erst weist wieder über die Grenzen Deutschlands hinaus. Ohne dabei aber den deutschen Charakter irgendwie zu verlieren. Im Gegenteil, je mehr die Wirkung ins Weite sichtbar wird, um so deutlicher wird auch erkannt, mit wie festen Wurzeln die Kunst Liebermanns im Boden Deutschlands haftet. Es ist die Zeit gewesen, die von dem geistigen Schüler Menzels die Befreiung vom künstlerischen Partikularismus forderte, die den Preußen aufrief, sein Talent in den Dienst einer das ganze Reich beherrschenden Malerei zu stellen. Weil Liebermann den Ruf der Zeit als Trieb und Drang früh schon empfand, ging er als junger Künstler nach Paris in die Lehre Munkacsys und Courbets, Millets, Manets und Degas', entdeckte er sich Holland, kopierte er Frans Hals und studierte er Rembrandt in einer neuen Weise. Er brachte sein von Menzel befruchtetes Deutschtum in Berührung mit dem Europäischen, er machte es weltläufig und kehrte dann in sein Elternhaus als ein besserer Berliner noch zurück. Seine Lehr- und Wanderjahre sind gewissermaßen Lehr- und Wanderjahre der deutschen Malerei überhaupt gewesen. Wie von selbst ist der anfänglich Gemiedene und dann Angefeindete zum Führer geworden. Was er malte, und auch mit glücklicher Gabe des Wortes aussprach und schrieb, war in einem edlen Sinn aktuell. Es war ein Programm. Und so wurde die Kunst Liebermanns zur »Flagge für Freund und Feind«.

Unter den Eigenschaften Liebermanns ist eine, auf die gar nicht genug hingewiesen werden kann, weil sie die wichtigste ist und doch dem deutschen Talent am meisten abgeht: die künstlerische Naivität. Wer Liebermann in erster Linie als eine scharfe Intelligenz versteht, wer vor seinen Bildern von kritischem Naturalismus und Verstandesarbeit spricht, kennt seine Kunst schlecht. Es ist nützlich einmal zurückzudenken, wie es denn war, als vor drei Jahrzehnten die Bilder Liebermanns in den Ausstellungen häufiger auftauchten. Man stand ratlos davor. Nicht um des Naturalismus der Stoffe willen, sondern weil man in die Form keinen Sinn bringen konnte, weil diese künstlerische Umdeutung der Natur, diese Hieroglyphenschrift des Pinsels unerhört waren. Heute hat sich jedermann in die Formen Liebermanns hineingesehen, seine Anschauung der Natur ist nahezu Gemeingut geworden, und man sagt vor denselben Bildern, die zuerst unverständlich schienen: so ist die Natur. Ich erinnere mich deutlich, wie fassungslos ich mit zweiundzwanzig Jahren noch vor Liebermanns Werken gestanden habe, bis ein einziger Augenblick mir dann den Schlüssel in die Hand gab. Es wird vergessen, wie sehr die Natur in der Kunst Liebermanns transponiert ist, wie sehr seine Form ein Produkt der künstlerischen Phantasie ist. Dieses aber war es eben, was unsere Malerei damals brauchte: künstlerische Phantasie. Liebermann hat die deutsche Malerei von der Tyrannei des Stoffes, des Gegenstandes befreit, er hat sie vom Imitativen ebenso erlöst wie vom Zwang literarisch-kultureller Ideen, vom Einfluß der Poesie und der Philosophie, er hat die malerische Phantasie erneuert und damit einem neuen Stil der Malerei bei uns Grundlagen geschaffen, auf dem viele Geschlechter nun fortbauen können. Kraft dieser Phantasie hat er einer neuen Sehform den Weg bereitet, die sich in der Folge als die Sehform eines ganzen Geschlechtes erwiesen hat. Diese entscheidende Tat aber konnte nur gelingen, weil Liebermann eine naive Natur, weil er als Künstler aufs höchste unbefangen ist. Er ist und war unvoreingenommen, er fühlt und denkt unkonventionell und hat mit siebenzig Jahren noch nicht verlernt, als Künstler ein Kind zu sein. Ein Kind dem Gefühl nach, wenn auch überreif an Erkenntnis und Erfahrung. Er kann als Künstler hinter sich selbst zurückbleiben, und er tut es nicht selten, aber er kann nicht paktieren, kann mit dem Pinsel in der Hand nicht sich selbst belügen – was nicht zu tun ungeheuer schwer ist. Er ist naiv sogar im Denken und Theoretisieren. Seine Schriften sind durchaus Zeugnisse einer hohen geistigen Unbefangenheit. Darum enthalten sie so selbstverständlich erscheinende Wahrheiten, worauf doch keiner schon gekommen war. Indem Liebermann sich Rechenschaft gab, hat sich die deutsche Malerei selbst mit dem Kunstproblem auseinandergesetzt.

siehe Bildunterschrift

Max Liebermann, Lesende, Aquarell.

Diese künstlerische Naivität war in Teilen freilich immer da; aber sie hat nie recht die Führung gehabt. Liebermann gab sich restlos dieser Naivität hin – und er veränderte damit die ganze deutsche Kunst. Dieser sehr kluge Mann ist stets so klug gewesen, im entscheidenden Augenblick nicht klug sein zu wollen. Die folgenschwersten Irrtümer gehen daraus hervor, daß wir stolzen Menschenkinder meinen, der Verstand sei der oberste Richter, er habe zu entscheiden über Wert und Unwert der Empfindungen. Was der Verstand aber will und wünscht, das ist nicht eigentlich das tiefste Leben. Etwas Namenloses schafft die entscheidenden Werte, »es« lebt in uns, Gottnatur wirkt in uns Wahrheit und Schönheit, Kraft und Wert. Wohl dem, der diesem Genius des Lebens vertraut und sich in den Dienst jener überpersönlichen Lebenskraft stellt, die das Individuum nur als Werkzeug benutzt. Liebermann hat es getan. Wie Tobias vom Engel, so ist er vom Instinkt durch die Irrtümer unversehrt dahin geführt worden, bis ins Patriarchenalter stets wachsend, weil er sich selbst nicht hemmte, weil er dem naiv gestaltenden Gefühl nicht vorwitzig in den Weg trat. Und wie von selbst ist er den Weggenossen so zum Führer geworden. Mag die Nachwelt die Lebensarbeit Liebermanns noch so streng sichten, in einem Punkt steht das Urteil schon jetzt fest: das Werk dieses Künstlers bezeichnet in der deutschen Malerei eine Zeitwende, und seine Gestalt wirkt gleichnishaft wie keine andere.

siehe Bildunterschrift

Max Liebermann, Federzeichnung.


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