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14.

Als die ärmlichen Holzhütten der Ruthenendörfer an ihm über grünen Böschungen vorbeiglitten, streckte sich Jan behaglich aus, nahm eine Zigarette. Es war töricht, sich mit diesen Menschen zu quälen. Diesen Volkswellen des Ostens konnte niemand helfen. So beschwichtigte er sich. Jahrhundertelanger Rückstand wird weder durch Systeme noch durch Umwälzungen ausgeglichen. Hart fordert die Zeit ihren Tribut.

Bei verschiedenen Stationen – alle waren sie eintönig, unsauber und voll Spionenfurcht – sah Jan bekannte Raubvogelgesichter, mit denen sich sein Weg gekreuzt hatte, unauffällig in den Zug steigen. Merkwürdig verwandelt sahen sie aus, ebenso bürgerlich bequem wie er selbst. Beinahe war er versucht, einige anzusprechen. Aber seine natürliche Scheu hinderte ihn daran.

Mit jähem Staunen sah er, daß diese Menschen, denen jene furchtbare ausdruckslose Grenze zwischen Verbrechertum und Durchschnittsmensch ins Gesicht gegraben war, vielleicht dieselbe Mission hatten wie er selbst.

Furchtsam zog er sich zurück. Ueberwachte man ihn? Forderte man Rechenschaft über sein Tun und Lassen? Er drückte sich in die Ecke, zog den Mantel um sich wie eine Hülse und täuschte Schlaf vor.

Jäh erkannte er, daß er unwissend der Kontrolleur dieses Gesindels gewesen war. Das also war seine Aufgabe gewesen. Ihn ekelte.

Jan hatte kein Recht zu schlafen. In Lemberg flogen Extrablätter.

Polnische Militärzüge rollten nach der Grenze.

In der Ukraine brannte der Bürgerkrieg auf. Entsetzliches Flammenwerk auf entsetzlichen Ruinen, auf einem Boden mit zwei Meter tiefer Ackerkrume, wie nirgends sonst in der Welt.

Jans Gedanken hasteten. Jetzt würden die Bauern mit primitiven Stöcken und Feldwaffen in zusammengeballten Haufen darum kämpfen, daß ihnen die Erde nicht mehr genommen würde von Gewaltherrschern, die schlimmer waren als die Häscher des Zaren. Gleiche Söhne des Volkes, verdüstert durch das mißverstandene Kulturgift Europas, mit roten Sternen auf den Mützen, mit modernen Waffen ausgerüstet, wälzten jetzt eine Gemeinschaft nach der anderen nieder, hier ein Dorf, dort ein Haus, Mann und Weib, Kind und Kreis, die losgelassene Bestie ...

An den größeren Stationen immer wieder Extrablätter. Jetzt wagte er sie zu lesen. Mordrausch, nichts als Mordrausch. Habgier und feiges Warten auf Sieg bei denen, die es eigentlich anging.

Nein, die anderen kamen nicht aus ihren Schlupfwinkeln hervor, bis das sorgfältige Rechenexempel günstig aufgegangen war. War das Freiheit oder Freiheitsdienst, daß Moskau und Washington miteinander ihre Rechensteine schoben, von denen Menschenblut troff, auf denen Hunger und Elend, Ausbeutung, Gemeinheit, nacktes Zahlenkalkül wie grinsende Teufel saßen, einerlei ob es schwarze oder weiße Steine waren, die über dieses schrecklich karierte Brett mit fleischigen und schlanken Fingern hin- und hergeschoben wurden.

Die Nacht hatte sich über die fahle Ebene heruntergelassen. Die Sonne war ohne Form in einem bleichen, grauen Nebel ertrunken. Hier ertrank alles, das Gute und das Böse. Hier war es, als hätten Europa und Asien ein gähnendes Loch, durch das alles ins Nichts wirbelte wie gespenstischer Blätterfall.

Ferne am Horizont dunstete irgend etwas rot auf. Vielleicht brannte ein Bauernhof. Irgendeine menschliche Habe stand wie eine traurige Fackel in der Nacht.

Das Gewissen jagte Jan van Kerken auf. Jetzt standen drüben nicht eine, sondern viele Fackeln in der Nacht. In seinem Reisekoffer steckte noch die Beute, ein Teil jener Summen, die er verschleudert hatte, bis dies zustande kam.

Die Rauchfetzen, die die Lokomotive mit verworrenen Funkenbändern neben der Zugseite herwarf, waren nicht mehr wesenlos, nahmen Gestalt an, waren geisterhaft vielformig, wie Trümmer von Menschen und Menschenleibern in einer Hölle.

Jan saß nun allein in seinem Abteil und fror. Links und rechts flog polnisches Land vorbei. In der Nacht standen die Feuersäulen der oberschlesischen Eisenhütten und der Kokereien am Horizont. Die Oefen stießen von Zeit zu Zeit ihr glühendes Innere heraus. Rotes Eisen sah man auf Streckbanken, gebeugte Menschen darüber. Maschinen schrien und lärmten. Eisen klirrte, ächzte und verschlang den Groll, den tiefen germanischen Groll, daß die Söhne des Weltvolkes sich unter unbändigen Pfuschern um ihr Brot mühen mußten.

Zugwechsel in Kattowitz warf Jan in die nüchterne Enge des europäischen Schnellzuges. Bestimmungslose Leere ergriff von ihm Besitz. In seinem Leben weckte sich wiederum jener geheimnisvolle, unergründliche erloschene Krater, der mit irgend etwas angefüllt werden wollte.

Im dämmernden Herbstmorgen glitt die Schlange des D-Zuges durch das Vorland des Riesen- und Erzgebirges. Behaglichkeit, Ergebung, Fleiß und tägliches Gleichmaß strahlte aus Dörfern und Städten wie unsichtbarer Glanz, der den kalten hellen Morgen des Himmels belebte, seine Oede mit tausend freudigen Dingen wichtig machte und sich selbst mit vielfältigen Eigenarten schmückte. Jan ließ diesen Zauber, den er nie zuvor so stark erfaßt hatte, auf sich einwirken. Etwas Schweres löste sich in ihm los, kollerte wie ein Stein eine schiefe, schollige Ebene langsam hinab. War es denn so unerreichbar, ein einfacher Bürger zu sein, der mit innerer Zufriedenheit das ihm in der Welt zugemessene Geviert beschritt und das Gleichmaß seiner Jahre wie ein kostbares Geschenk ertrug?

Der Zug war nüchtern geworden. Geschäftsreisende und Kaufleute lasteten ihn aus. Lärmendes Reden erfüllt die Gänge und Abteile. Kurse wurden genannt, Unternehmungen, Aktien, Geschäftserfolge gerühmt, Pleiten angesagt, Firmen erhoben und verdammt.

Jan bäumte sich auf gegen dieses Feilschen und empfand seinen Protest gleichzeitig als Heuchelei. War er nicht auch Geschäftsreisender gewesen, Geschäftsreisender des Balkans von Europa, dessen Konten mit Blut geschrieben wurden, dessen Soll ein phrasenreiches, unentwirrbares Durcheinander war und dessen Habenseite nur tiefverborgenes, namenloses Elend von Unterdrückten war, das nie veröffentlicht wurde.

Es war keine Zeit mehr weiter nachzudenken. Der Zug glitt bereits durch die Berliner Vorstädte ...


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