Albrecht Schaeffer
Das Prisma
Albrecht Schaeffer

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Ilmerin, Uda und die Wölfin

1

Ilmerin hatte sich auf der Jagd verirrt. Auf dem Rücken die Armbrust, den kurzen Jagdspieß quer in der Faust, lenkte er sein scheckiges Roß stundenlang hügelauf, hügelab, rauschend im roten Buchenlaub zwischen grauen Stämmen, durch die Dickichte der Farne, durch Tannen; einen Weg fand er nirgend, keine Sonne schien, an der Wetterseite der Bäume die Richte zu erkennen, hatte der Grübler nicht gelernt. Nun ritt er schon eine Stunde lang durch einen düsteren Tannen-Grund, wo ein Bach rann und Nebel stiegen. Als der Grund ein Ende nahm, ging es aufwärts, der Boden ward steinig, Felsen stiegen zwischen Buchen; deren graue Stämme schienen seltsam, verwachsen, um sich gedreht, manche wie Gestalten, geduckt, mit langen gewundenen Armen, als ob sie an Kreuzen hingen. Dies wollte kein Ende nehmen. Dann trat das Roß aus dem Wald der verrenkten Heilande zu des Grüblers frommer Erleichterung in eine Felsen-Schlucht ein, nicht breiter, als daß es darin schreiten konnte. Aber sie öffnete sich wieder wie ein Trichter; was Ilmerin sah, war Dies.

Die Tiefe zu seinen Füßen war wie ein Becher, rund, von 394 ganz geraden und glattgrauen Felswänden umschlossen; schwarze, unbewegliche Flut stand darin. Doch bespülte sie nicht die Wandung, sondern dem Grübler gegenüber lag ein Uferstreif weißen Sandes, und dort war in eine Spalte der Felsen ein Haus gebaut, eine Hütte oder Kapelle, roh aus braunem Gebälk, mit strohernem Dach, einem Türmchen, in dem eine Glocke hing, und mit einem Vordach, das zwei Balken stützten mit Einhorn-Köpfen. Darunter saß lesend in einem großen Buch ein Einsiedler, ein uralter Mann, weißhäuptig, langbärtig, in einem Kleide aus Fellen.

Als der Grübler die Augen aufhob, sah er über dem wagrechten Rande der Felsenwand gegenüber in eine ferne flache Landschaft hinein, die schön blau war in der Abend-Sonne. Rechter Hand stieg ein spitzes Felsen-Geklüft aus der Ebene, das eine glänzende Ritterburg trug wie eine Krone; ein blauer See lag ihr zu Füßen; da waren rötlich-braune Wäldchen, ein Dorf und in der unendlichen Ferne ein Zackengebirge gelagert, sanft blau unterm blauweißen Himmel, wo die Strahlen der unsichtbaren Sonne spielten.

Indem aber war Ilmerins Roß an den Rand vorgetreten; er konnte lotrecht hinunter, wohl zwanzig Klafter tief in die Rundung der Felsen-Bucht blicken, wo Fadenbärte von Moosen lang und grün bis zum Wasser abtropften. Und dort ganz zur Rechten, wo es dunkler war, ragte der weiße Halbleib eines Weibes aus der schwarzen Tiefe, die sein Widerbild hielt, so klar und getrennt, als wären es zwei. 395 Wundersam aber war, daß die langen Haare der Nymphe, die sie in Händen hielt, schneeweiß waren und silbrig; sie schienen aus Schnee gesponnen, oder von einer Greisin.

Da hob sie das Antlitz empor, erblickte den Späher, stieß einen Schrei aus wie ein Sperber und warf ihr Haar über die Schultern nach vorn, so daß sie im Augenblick hinter einem silbernen Vorhang verschwunden war. Der Einsiedler indes hatte, als Ilmerin hinsah, sein Buch geschlossen und aufstehend auf seinen Sitz gelegt, der ein Tannenstumpf war. Nun schwand er im Innern der Hütte, gleich darauf bewegte das Glöckchen sich, schwang und läutete den Abend-Segen. Ritter Ilmerin entblößte sein Haupt, schlug das Kreuz und sprach: Ave!

Nun sank die Sonne. Als Ilmerin aufsah vom Beten, war die Tiefe unter ihm leer. Er gewahrte aber, daß ein schmaler Felsen-Steig linker Hand im Bogen an der Wandung nach unten führte, bis fast zu der Hütte, und er lenkte sein Roß hinab, sprang aus dem Sattel und näherte sich der Vorhalle.

Plötzlich stand sie unter den Einhorn-Köpfen in einem Kleide von fließendem dünnen Blau oder auch Grün, über das links und rechts vom Antlitz die Haare stürzten wie weiße Gießbäche. Ihre Züge erschreckten den Grübler. Sie waren auch weiß und sehr schmal, der Mund nur ein blaßroter Streif, sehr seltsam die Augen, nämlich hell weißgrau wie Steine, und hatten keinen Blick. War sie blind? Dies jedoch erschreckte nicht so wie ihre Brauen; die waren wie Rabensittiche schwarz, in der Mitte, wo sie zusammenstießen, dick 396 und fast gerade, nur an den Enden ein wenig umgebogen nach unten; und dies im Verein mit der Schwärze machte sie todestraurig.

Verstört fragte er: Wer bist du?

Sie sagte: Uda. Und du?

Ilmerin. Der Grübler heiß ich. Ich sollte Mönch werden.

Warum bist du es nicht?

Ich hatte zwei ältere Brüder. Dem Erstgeborenen sollte die Burg gehören. Unser Vater starb siebzigjährig. Da erschlug der zweite den ersten wegen des Erbes. Aber danach ging er und henkte sich. So blieb mir die Burg.

Diese Worte sprach er fast unbewußt, und während er redete, spürte er mit Angst und Bangen, daß eine magische Kraft von ihr ausging, die ihn schwach machte in Liebe und Grausen. Sie lächelte, aber so traurig, daß es seine Seele durchschnitt, und sagte: Wie siehst du mich an?

Er stöhnte: Du füllst mich!

Sie wandte sich ab, und in die Vorhalle trat der Eremit, ein großer, hagerer Mann, der sehr alt war. Ilmerin faßte sich, sagte, daß er sich verirrt habe, bat um Speise und Trank und Obdach. Das Mädchen sagte: Es ist mein Großvater. Er spricht nie. Komm mit uns!

Sie traten in die Hütte. Da brannte ein Herd-Feuer unter einem Kessel, und war ein Lager von Laub und Fellen, auch ein plumpes Betpult, ein Tisch und allerlei Geschirr, auch Bücher. Sie setzten sich und aßen. Es gab Milch von Ziegen, Waldfrüchte und ein Gemüse, das Ilmerin unbekannt war. 397

So ward es Nacht. Der Einsiedler trug Laub und Felle unter die Vorhalle hinaus, ein Lager für den Grübler. Der hatte im Hintergrund der Kapelle eine Tür offen gesehn zu einem kahlen Gemach; dort ging Uda hinein. Der Greis schob den Riegel vor.

Ilmerins Roß scharrte vor Hunger die ganze Nacht; kein Schlaf kam zu ihm; er sah über dem Felsen-Becher die Sterne, die ihn zahlreich erfüllten, und dachte an Uda. Er grübelte nach über Allem, was er gesehn hatte, warum es so war, warum Gott das gewollt hatte und warum er ihn hinzuführte. Gegen Morgen erfaßte ihn eine Schwermut, er saß auf, ritt den Felsweg empor, dann um den Rand des Beckens zurück und mühsam durch niedere Dorndickichte und lange Moräste in das Land hinein, wo der Morgen dampfte und eiskalter Regen fiel. Warum fällt jetzt dieser Regen? fragte der Grübler, schüttelte sich und fror. In einer der Hütten des Dorfs gab man ihm einen Knaben, der ihm Wege wies zu seinem eigenen Dorf. Er erkannte es fast nicht wieder und kaum seine Burg, die darüber auf einem steilen Waldhügel lag. Halb im Schlaf ritt er über die Brücke; den Tag durchschlief er.

2

Ilmerin dachte nur mehr an Uda, und seine Tage vergingen, er wußte nicht wie. Da er arm war, sein Dorf nur aus wenigen Hütten bestand, die Gegend kargte, der Boden schlecht trug, auch Jahre der Dürre und eisige Winter Mißwachs gezeitigt hatten, mußte er selbst auf der 398 Jagd und mit Fischfang den Unterhalt für sich und sein Gesinde beschaffen. Das waren etliche faule Knechte, zwei bäurische Mägde und eine halbtaube Schaffnerin. Der Grübler war nur ein schlechter Jäger, wenn er traf, wußte er kaum warum, um so weniger nun, da er immer nur einen Weg zu Uda suchte. Er gebrauchte die Vorsicht, bei jeder Streife über das ihm bekannte Gebiet hinaus durch Abbrechen von Zweigen die Richtung zu merken; aber die Folge war nur, daß ihm bald alle Wälder voll gebrochener Zweiglein zu hängen schienen, die ihn verwirrten. Wochen vergingen so wie ein einziger trauriger Traum.

Da fand Ilmerin doch eines Tages den Tannen-Grund wieder, diesmal zu Fuße wandernd; den Schecken hatte er längst einem Knecht überlassen, der besser jagte und ganze Hirsche heimbrachte über dem Sattel des Starken. Und als Ilmerin den Grund hinter sich hatte, stand er vor Uda, welche Beeren pflückte von einem Brombeerstrauch. – Ilmerin dachte: Ist es September geworden?

Da bist du! sagte das Mädchen, ihr Grames-Lächeln lächelnd. Ilmerin hatte keinen Atem in der Brust, würgte lange und sprach endlich: Sage, wer bist du?

Uda, sagte sie.

Weiter! verlangte er stockend.

Was sonst? fragte sie.

Dein Vater, deine Mutter, deine Heimat!

Sie seufzte. Ich weiß nichts.

Warum ist dein Haar gar so weiß? 399

Vom Schrecken. Es war schwarz. Ein großes Feuer war, ich war klein. Sie schauderte.

Du! stieß er hervor, willst du mein sein?

Sie fragte: Was ist das?

Ilmerin erstaunte. Mit mir kommen, erklärte er wie trunken, mein Weib sein. Es ist Liebe.

Sie horchte, schien aber nicht zu verstehn.

Mit dir kommen? wiederholte sie. Wo ist das?

Ilmerin beschrieb seine Burg. Nun schien sie willig zu werden und sagte: Komm! Wir wollen fragen, ob ich soll.

Er ergriff ihre Hand, da sie sich wandte, und bat: Sag, liebst du mich?

Was ist das? fragte Uda.

Er folgte ihr traurig. Als sie zu dem Einsiedler kamen, erhob der sich, öffnete die Lippen und sprach:

Tut es nicht! Ich war ein Ritter wie du. Ich hatte einen Sohn. Der nahm ein Weib, verließ es bei einem Kriegszug und fand sie daheim mit einem Buhler. Den erstach er in ihren Armen; sie gebar Uda. Danach lebte sie noch fünf Jahre, aber mein Sohn war in Schwermut verfallen, und in einer Nacht zündete er das Haus an und verbrannte sich mit Allem, was drin war. Nur ich rettete mich und das Kind. Gott wollte es so. Ich ward Einsiedler. Kein Mann sollte sie erblicken. Aber Gott will das Unglück um der Sünde willen, und er wird nicht nachlassen, bis wir Alle durch Flammen gegangen sind und wieder im Paradies-Garten. Kannst du aber, so mache dich eilends davon, 400 und ich will diese Gegend verlassen und sie wegführen, obwohl ich alt bin und hier zu sterben gedachte.

Nein, sagte Ilmerin, ich kann nicht.

So geht! sagte der Greis milde, hört niemals auf zu beten, ich werde es nicht mehr erleben. Wandte sich und schwieg wieder.

Ilmerin nahm Abschied von Uda; am Nachmittag kehrte er wieder mit seinem Roß, setzte sie auf das scheckige und zog es nach sich durch den Wald bis zum Fuße des Burg-Berges.

Ist es das? fragte Uda, emporblickend.

Ja, erwiderte Ilmerin, gefällt es dir?

Sie sprach: Es ist düster.

Die Burg war ein Dreieck mit flachen Rundtürmen an jeder Spitze; von den Seiten waren zwei nur haushohe Wälle mit Schießscharten und Galerien an der inneren Wand und mit mannshohen Zinnen, deren Schlitze nicht breiter waren, als ein halber Arm lang ist. Die dritte Seite des Dreiecks nahm das Haus ein. Klein waren die Fenster, die Scheiben aus runden Gläsern in Bleirändern, hier und da klebte das Schwalbennest eines Altans, die Giebel waren wie Treppen, Dohlen kreisten darüber.

Dort zog Uda ein. Ein Priester wartete in der Krypta. Die Heiligkeit der Handlung ergriff die Kniende so, daß sie nach kaum hörbarem Ja ohnmächtig umsank mit der Stirn auf den Fliesen. Der Grübler sah, daß sie fromm war und nichts Höllisches an ihr. 401

3

Ilmerin konnte Uda nicht umarmen. Es begab sich in der Brautnacht, da sie begriff, was er von ihr wollte, daß er in den Armen ein Gebilde von Stein hielt. Er entsetzte sich, sie aber begriff nichts, obwohl sie sehr schauderte. Himmel! sagte Ilmerin, was ist dies? Kann es nicht sagen, bat Uda demütig, laß uns warten!

Es zeigte sich nun, daß Udas Glieder aus einem andern, empfindlicheren Stoff sein mußten, als menschliches Fleisch ist. Jede Bewegung ihres Innern drückte sich nicht nur in ihn ab, sondern veränderte ihn gänzlich. Dann bedeckte ihr Antlitz, ihr ganzer Leib sich mit Flecken, die erst rot waren, dann die blaue und andere Farben annahmen. Im natürlichen Zustand waren Fleisch und Haut weicher als Samt, zart und fast durchscheinend wie Alabasterstein; aber sie konnte so körnig rauh werden wie ein Otter oder schuppig fast wie ein Fisch. Je nachdem ob ihr Inneres erkaltete oder sich erhitzte, verhärtete ihr Leib sich zu Stein oder wurden ihre Handflächen so heiß wie glühende Eisen. Einmal weinte sie, die Tränen fraßen Rinnen in die Wangen, und eine, die auf Ilmerins Hand tropfte, brannte wie siedendes Öl. Oft war der Anstoß hierzu der geringste, aber die Folge wuchs ohne Maß. Ilmerin kam später von der Jagd, als er versprochen hatte, oder er ging, wenn sie wollte, daß er blieb. Mehr nicht, und doch genügte es, sie in Feuer oder Marmor zu verwandeln. Früher, sagte sie, war das nie. Ilmerin erkannte, daß es die Liebe bewirkte, doch machte es ihn nicht froh. Er brachte ihr 402 Geschenke, ererbte Kleinode vieler Geschlechter, aber sie war unfähig, Metall zu berühren, sie schrumpfte gleichsam ein und ward fleckig, und Silber lief grünlich an, sein Dolch, dessen Schneide sie einmal berührte, bekam einen Rostfleck, einem goldenen Ringe entfiel der Saphir. Doch vergnügte sie sich an den glänzenden Dingen und schüttelte sie im Schoß ihres Kleides. Ilmerin mußte Strähnen trennen von seinem schwarzen Haar; sie flocht zwei Ringe daraus, aber den ihren konnte sie niemals lange am Finger tragen; sie klagte, er brenne wie Nessel. Damals weinte sie. Sie liebte ihn sehr, doch ward Alles nur immer trauriger.

Unheimlichere Zeichen gab es nach einiger Zeit. Gefäße und andere Gegenstände veränderten ihre Gestalt. Töpfe aus derbem Stein wurden schief, als ob sie verbogen würden, eine kleine Schale aus Glas, die Uda gern hatte, verschob sich allmählich, so daß sie auf der einen Seite dünn war wie Pergament, auf der anderen ganz dick. Zinnerne Becher verkrümmten sich, Kannen, die auf Schränken standen, und die Niemand berührte, bekamen Beulen und wurden knittrig. Das Gesinde begann sich zu fürchten. Uda sagte: Das war schon früher; es tut nichts. Liebst du mich, Ilmerin? Er seufzte, und sie gab sich viel Mühe. Ja, sie lernte mit der Zeit ihren Schauder vor ihm zu unterdrücken, und es gelang ihm, sie in Besitz zu nehmen. Aber in seiner Umarmung versteinte sie wieder, er schrie auf, da er seine Hüftknochen brechen meinte in eisernen Klammern. Doch wurde es besser mit der Zeit, und immer sich hütend vor Frost oder Feuer, lernte sie eine sanftere Liebe und viel Geduld. 403

Der Grübler nahm seine gewohnten Beschäftigungen wieder auf, jagte, fischte, hackte mit seinen Knechten das Eis der Teiche auf, holte den Hecht heraus, Barsche, Gründlinge und Krebse. Dabei verrannen ihm Tage wie Stunden. Über seine Sinne hatte nicht er mehr Gewalt, sondern Uda. Wo er ging und stand, war ihr Gesicht, das Augenpaar ohne Ausdruck, wo der Blick immer wieder sich suchen ließ in dem weißen Grau, und das grenzenlos Traurige der schwarzen Brauen, die in dem Antlitz saßen wie ein Insekt, wie zwei Käfer oder Würmer. Er grübelte über Diesem, grübelte über allen Schrecknissen ihres Wesens, fragte Gott, warum all Dies so sei, warum er nicht hineinfinden könne und doch darin gefangen sein mußte. Oft wurde das Unerträgliche einer ewigen Beklommenheit zu Zorn; es kam vor, daß, wenn ein jagdbares Tier vor ihm aufsprang, es das Angesicht Udas ihm zuwandte, und daß er seinen Bolzen hinein abdrückte mit einer Lust. Er fand, daß er sicherer traf, wenn dies so war, ja er fand, daß es berauschte, ein Tier zu töten unter der Vorstellung, es sei Uda. Danach aber weinte er, bereute in Qualen und bat Gott, es nicht wieder geschehen zu lassen. Er wußte oft nicht, ob er sie haßte oder liebte; wo er war, da war sie, und immer zog es ihn zu ihr zurück.

Womit vertrieb Uda die Zeit? Sie fand, von Ilmerins Mutter her, Rocken, Spindel und einen Webstuhl, und die Schaffnerin lehrte sie den Gebrauch. Aus einer Stadt mußte Ilmerin schaffen, was sie bedurfte, Wollgarn und seidenes aller Farben. Sie vergnügte sich sehr mit dem 404 Webstuhl und verbrachte die ganzen Tage mit nichts Anderem. Dann kam es vor, daß sie leise dabei zu sprechen begann oder zu singen, und was sie sang, war dasselbe, was sie abbildete in ihren Webereien. Hier verflochten sich abenteuerliche Gewächse, Bäume, Gesträuche und Blumen zu farbigen Wäldern, durch die fabelhafte Geschöpfe sich wanden, von denen nicht eines gegliedert war wie in der Natur. Die Hunde hatten Geweihe, die Eber Rüssel oder die Beine von Hirschen, Stiere hatten Höcker, die Pferde Hörner, die Marder Arme wie Affen, und die Fische erschienen geflügelt in den Kronen der Bäume. Auch fremdartige Menschwesen machte sie, die aus Buschwerk wuchsen, als wären sie Pflanzen. Sie hatten Fittiche statt der Arme, ihre Häupter verwuchsen in phantastischen Tiaren oder Kronen, die Gesichter waren bunt, und während mancher nur ein Auge hatte in Kinn oder Stirn, waren andere wie gestirnt mit unzählbaren Augen. Aus den Zweigen der Bäume spielten statt Laubes die kleinen Gliedmaßen von Echsen und Lurchen, die Beerenfrüchte schienen Augen, die Blumen waren Falter. Ilmerin grauste es oftmals vor den bunten Gespenstern, sie aber redete mit allen, indem sie entstanden, erzählte von ihnen und ließ Ilmerin wissen, daß er diese ganze Natur am Grund ihres Fels-Weihers finden könne, wo alle Tiefen voll davon wären, beherrscht von gläsernen Königen und kleinen steinfesten Gnomen, die all diese Kreatur in ihren Schmiede-Essen kunstreich erzeugten. Während ihres Singens flog ihr die Arbeit von der Hand, entfalteten sich mühelos die Wunder der 405 vertauschten Natur. Ilmerin gingen die Augen über. Sie fragte bekümmert: Was ist dir? Ach! seufzte er, daß du froh davon würdest! Bin ich es nicht? fragte sie. Er fand keine Antwort.

4

Endlich mußte Ilmerin erfahren, daß Uda noch viel grauenvoller beschaffen war, als er gewußt hatte.

Es war nachts; das Zimmer, wo Beide in einem Bett schliefen, lag in einem Turm. Es war klein und keilförmig, das Stück eines Kreises, dergestalt, daß die äußere Wand gebogen und doppelt so lang war wie die innere. An diese war das Kopfende des Bettes geschoben. Es bestand aus schwarzem Eichenholz, geschnitzte Säulen trugen das hölzerne Dach, von dem dunkle Vorhänge hingen. Gegenüber, in der Mitte der Wand, saß ein Fenster, klein und in sehr tiefer Bogen-Nische. Das Bett war nicht breiter, als daß zwei Menschen darin liegen konnten; so hatte es schon Ilmerins Eltern und Voreltern getragen, und nun lag er darin neben Uda und konnte nicht schlafen. Da schlug er leise den Vorhang zurück und sah in der tiefen Nische des Fensters, das offen stehend einen Streifen bläulichen Mondlichts auf die Nischen-Wand fallen ließ, Uda sitzen, als schaute sie in die Tiefe. Er wunderte sich noch, daß er ihr Aufstehn nicht bemerkt hatte, als er, in Grausen gerinnend, erkennen mußte, daß Uda neben ihm lag. Zwei Wesen Uda waren in der Stube, eins saß in dem Fenster, das andere schlief. Ilmerin schloß die Augen vor Angst und Gram, stöhnte auf und sprach: O mein Gott, ist es darum, daß ich lebe? 406

Seine Knie bebten im Frost der Schauder, er lag und hörte vernehmlich den Holzwurm pochen im Getäfel; die Dielen knackten; es kam ihm vor, die Schränke öffneten sich, Kleider schritten heraus und breiteten die Arme, er riß entsetzensvoll die Lider auf, sah Uda neben sich liegen, sah im Fenster das sitzende Gespenst, still und betrübt.

Von nun an mußte er oft und öfter die schaurige Verdoppelung oder Spaltung ihres Wesens gewahren, wenn sie lag und schlief. Er erwachte wohl und konnte sie gehen hören im Nebenraum, ihr Gewand schleifen hören, ihr Seufzen, ihren Schritt auf der Stiege. Er zwang sein Herz und folgte ihr durch die Finsternis, fand sie im niedrigen Saal der vielen kleinen Rundbogen-Fenster, wo sie geisterhaft tanzte in ihrer Traurigkeit. Am Abend konnte es geschehen, wenn sie sich niedergelegt hatte, er noch wach saß mit dem Leuchter über einer heiligen Schrift, daß sie zu ihm hereinkam und irgend Etwas tun wollte, das sie – so schien es – vergessen hatte oder nicht zu Ende gebracht. An der Art ihres Bewegens, daran daß sie ihn nicht zu gewahren schien, und an dem Grauen seines Innern erkannte er, daß sie zugleich auf dem Bett lag und schlief. Oder das Grauen zog ihn hin mit gesträubtem Haar, dann fand er sie hinter den Vorhängen, und sein Herzschlag stockte. Die Dinge bewegten sich nicht unter ihrer körperlosen Hand, und die Erscheinung zerfloß wohl über dem vergeblichen Bemühen. Sie zerfloß auch, als sie einmal sich Ilmerin näherte; er hielt still, diesmal schwankend im Zweifel, ob es die Erscheinung sei oder sie selber. Sie rührte ihn an, 407 der Schweiß brach ihm aus, plötzlich war sie verschwunden.

Ilmerin dachte, sterben zu wollen. Sprechen konnte er nicht. Sterben war, was er noch dachte, aber sein Leib war entkräftet, er brachte es nicht fertig.

Da kam eines Tages ein Bote aus dem Kloster, in dem Ilmerin lange und friedliche Jahre verbracht hatte, mit einem Schreiben des Priors, der Ilmerin vor den Konvent forderte. Es hieß in dem Brief, daß sich ein Gerücht verbreitet habe: Ilmerin herberge eine Unholdin an seiner Seite, einen Vampir oder eine Buhlerin des höllischen Fürsten, deren Seele es freistehe, den Leib zu verlassen und herumzugehn und die Menschen zu schrecken. Ilmerin sollte kommen und sich verantworten.

Der Grübler wußte lange, daß auch sein Gesinde die Erscheinung wahrgenommen hatte. Aber den Brief legte er fort, dachte nur zuweilen an ihn mit Ängsten.

An einem Tage mittwinters konnte Ilmerin vom Fenster aus eine Bewegung in der Ebene entdecken. Ein langer Zug wars mit Fahnen. Das Kloster war auf dem Wege, der ganze Orden; sie zogen durch den blitzenden Schnee, die Brüder, die Prälaten, der heilige Bischof selbst unter dem Baldachin, es glänzten die farbigen Stolen, die geschwungenen Weihrauchfässer blitzten, fein und bläulich stiegen die Rauchsäulen. Gewappnete folgten zu Pferd.

Ilmerin würgte die Angst, so daß er sich nicht bewegte. Nun kamen Knechte herauf, Ilmerin und Uda wurden hinuntergeführt, er hörte die Anklagen, blickte nur stumm 408 und gequält, während Uda bebte und Nichts zu antworten wußte.

Nun sollte die Probe gemacht werden. Der Zug bewegte sich zu dem gefrorenen See, es wurde ein Loch in die Decke gehackt, groß genug, daß ein Mensch darin schwimmen konnte. Da Uda schauderte vor der eisigen Tiefe, so wurde sie hineingestoßen. Sie versank wie ein Stein, Ilmerin schrie grauenvoll auf, sprang auf der Eisdecke umher, daß sie zerkrachte, stürzte in die Flut und ergriff Udas Haare. Die Mönche zerstoben, und manche retteten nur mühsam das Leben. Ilmerin brachte Uda auf das Eis, seine Hände waren zerschnitten, er lachte schluchzend, küßte und drückte sie, bis sie zum Leben erwachte.

O mein Gott! schrie er zum Himmel, nutzt es nichts, daß ich sie liebe?

Bischof, Prälaten und Mönche entfernten sich unzufrieden.

5

Eines Morgens, als Ilmerin sich erheben wollte, lag Uda neben ihm, still, und ihm schien, daß sie ihn ansah.

Sie sagte: Nun muß ich sterben.

Ach, fragte er erschrocken, bist du krank?

Sie sagte: Ich weiß nicht. Ich weiß, daß ich sterben muß. Es kann noch dauern, aber ich werde nicht mehr gehn können. Bist du traurig, Ilmerin? fragte sie bange. Dann weinte sie und sagte: Du wirst erlöst werden. Ach, ich weiß Alles von dir und mir. Laß mich sterben! Warum leben wir? Hätten wir uns niemals gesehn! 409

Sie stand danach nicht mehr auf, verbrachte liegend die Tage und Nächte. Ilmerin diente ihr, nahm die Mahlzeiten neben dem Bett, flößte ihr ein, was sie verlangte, Alles war fast schön geworden in dieser Zeit, sie liebten sich mehr. Ja, Ilmerin ertrug es, daß ihre gespenstische Seele ihn besuchte, und sie kam öfter als je, auch über die Grenzen des Hauses hinaus, und sie erschien ihm im Märzschnee unter Tannen, lächelnd, wenn er daherkam, ihr schwarzes Lächeln, weiß von Gewand, weiß von Antlitz und Augen, weiß von Haar in der Weiße des Schnees. Bist du Uda? fragte er beklommen. Sie mühte sich zu antworten und zerschmolz.

Wenn aber der Grübler allein war, so hob er die Augen zum Himmel und fand ihn nicht. Die Sonne, glaubte er, schien nicht mehr, das holde Blau war erloschen, statt eines Himmels war eine niedrige Decke von Grau, die Luft atmete sich mühsam darunter. Ilmerin wars, als lebe er am Grund eines Teichs unter der Eisdecke. Er stöhnte und haderte mit Gott, der furchtbar lastete auf dem Eise; zu anderen Stunden war er demütig, betete, weinte und fragte bescheiden: Nutzt es denn nichts, daß ich sie liebe?

So verstrich einige Zeit, da hörte Ilmerin Uda eines Nachts stöhnen und fragte: Was ist dir, Geliebte? Sie erwiderte: Es schmerzt so! In deinem Leib? Sie bejahte, er legte die Hand auf den glühenden und erkannte, was mit ihr war. Uda, sagte er, du wirst nicht sterben, du wirst gebären. Ach, seufzte sie, ist es das? Ich wußte nicht, daß es so ist. 410

Er konnte sie nun bewegen, aufzustehn, sie ging wieder an ihre früheren Geschäfte, nur ermüdete sie schnell, vermochte nicht zu stehn, saß am liebsten untätig an dem einzigen großen Fenster, wo sie die Aussicht frei hatte über die noch winterliche Ebene, die gefrorenen grauen Teiche im Schnee, die schwarzen Dorf-Hütten, wo selten bläuliche Rauchsäulen stiegen zum dunklen Grau des Schneehimmels, und die fernen schwärzlichen Wälder im weißen Dunst. Ilmerin las aus Büchern vor, die er hatte, den heiligen Schriften, Leben der Märtyrer und Legenden. Allmählich schwand der Schnee aus dem Gefilde, nun ward es braun, das Grau der Teiche bekam Risse und schmolz, das Dunkel ihrer Fläche füllte sich an den Tagen mit himmlischem Blau, die Liebenden konnten das Fenster öffnen, die scharfe Frische der Märzluft atmen und die kleinen Stimmchen der Meisen hören aus der Tiefe des Bergwalds. – Ein Kind! dachte Ilmerin, nun wird Alles gut werden!

Uda tat, als wäre auch sie froh geworden, aber sie war es nicht. Und die Monde vergingen, und eines Abends – das war am Tage, bevor sie gebären sollte – sagte sie zu dem Grübler:

Ich weiß, daß ich sterben muß. O Gott, daß ich leben bliebe und Alles schön würde, aber es wird nie besser werden als heut, und es muß sein, daß ich gehe. Gott hat alles Das so gewollt, wir verstehen das nicht, aber mir ist die Seele leichter als meine Glieder, und vielleicht ist es deshalb, daß Alles so schwer ist. Du bist wie die Andern, nur daß du grübeln mußt; ich bin nicht wie die Andern, darum ist 411 Alles so traurig. Du und ich müssen wieder getrennt werden. Lebe wohl!

Im Hause waren damals nur noch zwei Knechte und die Schaffnerin, die im Hause geboren und so alt war wie Ilmerins Vater. Uda brachte mit ihrem Beistand einen Knaben zur Welt. Ilmerin sah sie noch einmal vor ihm erscheinen und schmerzenvoll lächeln. Als er in das Zimmer brach, wo sie lag, fand er die Tote.

6

Am Nachmittag dieses Tages, als es schon finster wurde, saß Ilmerin an einem der kleinen Rundbogen-Fenster des kleinen Saals, sehr müde, erschöpft von Tränen und allerlei Hantierung. Aus einem größeren, weiter abgelegenen Dorf hatte er am Morgen einen Sarg heraufgeschafft, dazu die Amme für das Kind, eine abscheuliche, breite Dirne, doch hatte er keine Wahl, und auch diese fügte sich nur, weil ihr der Sarg den Tod der gespenstischen Burgfrau verbürgte. Danach hatte Ilmerin in der Halle den Katafalk aufgeschlagen und die Tote aufgebahrt mit den alten Tüchern und Leuchtern des Hauses. Dort lag sie nun, in all dem Schwarzen und kargem Silber, im Schein der langen Kerzen, ein Gebilde aus Schnee oder Marmor unter Tannen-Gezweigen, den Mund schmerzlich ein wenig geöffnet, die schwarzen Brauen in einem traurigen Staunen. Es war wieder November im Land, es gab keine Blume, die Ebene unter den Augen des müden Grüblers lag düster in langen Streifen des frühen Schnees, der an Böschungen, 412 Wegrändern und Gräben aufgeweht war. Am Himmel überm Kranze der schwarzen Wälder lag ein feuriger gelbroter Streif wie von einem weiten Brande, der mit dem sinkenden Abende trüber wurde, ein finsteres Rot, das erlosch.

Oh, darum nun alles Dies? Darum, damit es nun Alles ein Ende hatte und zu Nichts gewesen war, als endlich vorbei zu sein? Das Schaurige und das wenige Süße, all das nie zu Verstehende blieb nun für immer ungelöst, rätselhafter, unerklärlicher als jemals, da die lebendige Gestalt, aus der Alles hervorgetreten war, um wieder in sie zurückzukehren – die es Alles in einer Weise begreiflich gemacht hatte durch Liebe und Gram und durch Dasein – da sie nun leblos lag und ihm Nichts mehr deuten konnte.

Dieweil er so dachte, hörte er aus dem nebenliegenden Gemach das leise Wimmern des Neugeborenen, gedämpftes, wiewohl grobes Zureden und Singen der Amme, und er seufzte aufatmend im Gedanken an dies neue Leben. Das Kind war dunkeläugig, runzlig und rot, wie nach den Worten der Schaffnerin alle Kinder der Menschen. Soll, dachte der Grübler, Alles wieder von vorn beginnen? Wird es nun anders kommen? Ich will, versprach er sich und dem Kind, mit ihm fortgehn und sehn, ob der Einsiedler noch lebt. Ich werde in seiner Hütte wohnen, ich werde arbeiten, wir wollen es noch einmal versuchen. Gott läßt sich versöhnen, es muß nicht Alles durch Flammen gehn.

Den Grübler schläferte es, er begann zu träumen, die Wärme des mächtigen Ofens umgab ihn dicht und gelinde. Die Nacht sank rasch, das Spätrot erlosch, es war finster. 413

Ilmerin fuhr auf unter einem Erschrecken, indem er dachte, Uda stehe hinter ihm. In diesem Augenblick, wo Alles still war, die Stimme im Nebenraum verstummt, erscholl dort ein greller Aufschrei. Dann polterte Etwas, Schritte stürzten über die Dielen, die Tür wurde aufgerissen, und im Schein der drinnen brennenden Kerze zeigte sich die wilde Gestalt der Amme einen Augenblick. Dann fuhr sie mit einem heiseren Aufheulen an Ilmerin vorüber durch den Saal und hinaus. Ilmerin sprach: O Herr, es nimmt kein Ende!

Schritt für Schritt und versagenden Herzens näherte Ilmerin sich der Tür und sah in den Raum. Da saß die Tote neben der Wiege, das Kinn auf die Hand gestützt, totenhaften Gesichts, in ihrer Schwermut.

Geist! Geist! stammelte Ilmerin. Um des Heilands willen bitte ich dich, weiche von uns!

Da erhob sich die Leiche langsam, zauderte, senkte das Haupt und schritt demütig an Ilmerin vorüber, verschwindend vor der Tür.

Ilmerins Hirn stand in Flammen; er stürzte zu Boden, wo er stand. Ohne Bewußtsein von sich zu haben, schleppte er sich später in irgendeinen Winkel, wo er hinfiel und schlief.

Er erwachte im Finstern und glaubte das Wimmern des Kindes zu hören. Es schrie wirklich und kläglich, als er zu ihm kam. Er machte Licht, raufte sein Haar in Verzweiflung, da er Nichts hatte, es zu tränken, lästerte und verfluchte Gott.

Indem hörte er ein seltsames Aufheulen aus der Tiefe des Schloßhofes und erkannte schaudernd die Stimme der 414 Wölfin. Das Tier hatte vor kurzem ein Knecht gefesselt heimgebracht, nachdem er es wund geschossen. Es war trächtig. Ilmerin wandelte Mitleid an. Er pflegte seine Wunde und schaffte es in ein Verlies in einer der Schloßmauern, das mit festen Eisenstangen vergittert war, nachdem es in früheren Zeiten Bären und Lüchse beherbergt hatte, den Burgsassen zur Kurzweil. Wenige Tage später jungte die Wölfin und warf vier blinde Welpen.

Ilmerin hörte jetzt, wie dem Tier das Heulen in Winseln verging. Dann war Stille. Und dann hörte er durch die Tür, die er selber offen gelassen, das Tappen von Pfoten, hört' es heraufkommen, heißes, stoßendes Atmen dazwischen, und in der Tür erschien das Untier, keuchend aus rotoffenem Rachen, geduckt und gesträubten Haars, dieweil hinter ihm die Tote kam und es vorwärts zwang mit Augen und gebietender Hand. So drückte sie es durch den Raum bis zur Wiege; die Wölfin gewahrte das Neugeborene, winselte, stand eine Weile gleichsam ratlos mit peitschendem Schweif, warf sich endlich unter den Augen der Uda mit erhobenen Vorderfüßen über die Wiege und bot dem Kinde ihr Euter so lange, bis es fand und zu saugen begann. Die tote Mutter saß daneben auf einem Stuhl und sah es mit an voll Wehmut. Ilmerin schwanden die Sinne.

7

Als Ilmerin morgens im Dunkel erwachte, glaubte er, geträumt zu haben; nicht nur diese Nacht, ein volles Jahr und mehr, sein ganzes Leben. Er dachte, er sei eben Novize 415 gewesen und gekommen, seinen Vater zu begraben. Aber er würde nicht bleiben, würde zurückgehn ins Kloster. Er war jetzt erwacht und war wirklich, alles Andere war geträumt und war nicht. Ihm war leicht, aber in seinen Gliedern zuckte ein Feuer. Gehend taumelte er, vermochte mit Mühe einen Eimer zu fassen und kam halb stürzend die Wendelstiege hinab in die Halle, wo er Kerzen sah, die niedergebrannt waren, und einen Katafalk, den er für den seines Vaters hielt. Wie er aber den Hof betrat, krochen die jungen Welpen im Schnee um den Ziehbrunnen, die Alte lag hinter den Stäben, ganz ruhig. Ilmerin erbebte bei dem Anblick, Alles fiel ihm wieder ein, er hatte nicht geträumt, er wankte auf das Gitter zu und fand, mit letzter Kraft an den Stäben zerrend, daß einer am unteren Ende vom Frost gebrochen war und lose hing. Den bog er zur Seite, streckte die Hand durch die Öffnung, weinte und sagte: Komm, friß, friß mich! Die Wölfin jedoch sträubte sich, zitterte, knurrte und wich zurück.

Ilmerin lief in das Haus, schrie nach Knechten, nach der Schaffnerin; Niemand kam, Niemand außer ihm war im Haus.

Es ward wieder stiller in Ilmerin. Er schlich in die Halle, warf sich vor Udas Antlitz auf die Knie, flehte sie brünstig an, nicht wieder ihr und sein Kind mit der Milch des Untiers zu tränken. Er wolle gleich fortgehn mit ihm. Uda möchte erlauben, daß er den Sarg schließe. Bei Jesu Wunden, bei seiner Mutter . . .

Er stand auf, ergriff den Deckel des Sarges, schob ihn über 416 die Leiche hin, rückte daran und gewahrte, daß die Tote eine Hand über den Sargrand geschoben hatte. Endlich ergriff ihn der Wahnsinn, er versuchte die Hand zurückzuzwängen, er schluchzte und bat, es war umsonst, er schob die Tote aus dem Sarg, die Hand nicht hinein.

Da erkannte der Grübler, daß Gott seiner Seele nicht helfen wollte, solange sie in den Gliedern steckte, und er stürzte die Leuchter um, daß die Bahrtücher Flammen fingen, und tanzte hinein.

Als die Dorfleute sich zu ihrem Tagwerk erhoben, sahen sie den Himmel rot und die Burg auf der Höhe in Flammen. Sie klommen durch den Bergwald hinauf, dessen Kronen und Stämme das Feuer durchleuchtete, und machten am Graben halt, denn die Brücke war aufgezogen. Nicht ganz war sie's, sie stand schräge empor, die Knechte hatten es getan, als sie das Schloß verließen, indem sie Ilmerin einzuschließen gedachten. Aber unter dem abergläubischen Volk hatte Niemand Lust, um zu helfen, den Graben zu durchschwimmen und durch die Lücke ins Innre zu gelangen, und die schräg angehobene Brücke sah ihnen aus wie eine abwehrend erhobene Hand. So schauten sie zu, wie aus allen Fenstern des Hauses die Flammen schlugen, hörten die Wölfin heulen im Hof und das Winseln der Welpen. Jählings fuhr aber eine Flamme aus einer der Turm-Platten, und erstarrend sahen sie nach ihr die Gestalt der Uda über die Zinnen emporschlagen, gebildet aus einem so weißen und blendenden Feuer, daß alle Augen sich zudrückten. Ein Feuerstreif, fliegenden Haares, ihr Kind an der Brust, so stürmte sie in den Himmel empor. 417

Aber noch bekamen die Dörfler ein anderes Schauspiel zu sehn. Die Wölfin, die einige schon bis zur Brücke witternd und winselnd hatten hervorkommen und herüberäugen sehn, jagte plötzlich in einem mächtigen Schwunge die Schrägung empor, blieb oben angeklammert hängen mit allen Vieren, und Jeder sah, daß sie zwischen den Zähnen eins ihrer Jungen hielt, das sie nun, tief heruntergebogenen Halses, behutsam fallen ließ. Es drehte sich prustend im Wasser, wandte sich, schwamm an das Ufer, kroch herauf und schwand im Gesträuch, während die Mutter schon zurück war, schon mit dem nächsten Jungen wiederkehrte, mit dem sie verfuhr wie mit dem ersten. Und so mit jedem; nur das letzte hielt sie im Rachen, dieweil sie wie ein Dämon die Brücke empor und im klafternden Sprunge herunter zugleich das Ufer erreichte. Durch das helle Geprassel der Flammen, welche den Umkreis des Hügels taghell beleuchteten, hörten die Menschen die kläffenden Stimmen der jungen Wölflinge und das Heulen der Alten, mit dem sie sie frohlockend nach sich rief in die Tiefe.

Hiermit nimmt die Geschichte Ilmerins, Udas und der Wölfin ihr Ende.

 


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