Albrecht Schaeffer
Das Prisma
Albrecht Schaeffer

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Lene Stelling

1

An einem Wintermorgen des Jahres 1860 erwachte der Pförtner der Taubstummen-Anstalt in der kleinen Stadt G. am Dollart und knüpfte, seiner Gewohnheit gemäß, noch im Dunkeln mit der Linken die Schnur vom Bettpfosten, welche die zu seinen Häupten angebrachte Anmelde-Glocke während der Nachtstunden am Läuten verhinderte. Die Schelle schlug augenblicks an, lärmte eine Weile und wurde allmählich still. Der Alte erhob sich daraufhin, entzündete die bereitstehende Laterne mit seiner einen Hand, ging zum Fenster und öffnete es. Der sorgsam vom schmalen Gehsteig gekehrte und zum Wall aufgehäufelte Schnee leuchtete glitzernd auf, aber draußen schien Niemand zu sein. Erst als Stelling, fröstelnd in der eindringenden Kälte, sich hinausbog, gewahrte er am Boden, neben den vier Stufen, die zur Haustür herausführten, einen verdeckten Korb; und dann, gleich rechts vom Fenster und gerade unter dem Klingelzug, eine dicht an die Hauswand gedrückte weibliche Gestalt. Ihr Kopf war auf eine, bei ihrer sonst geraden Haltung eigentümliche Weise so tief auf die Brust gesunken, daß der alte Mann erzitterte. Er warf nun 164 eilig einige Kleidungsstücke über und trat mit seiner Laterne durch die Haustür. Die Gestalt stand wie zuvor.

Der alte Stelling ging hinunter und beleuchtete sie schaudernd. Von dem festen eisernen Krampen, in dem der Klingelzug festgemacht war, war eine Schnur nach unten gespannt und der Hals des Weibes eingeschnürt von einer Schlinge. Sie war sehr einfach gekleidet; eine schwarze gestrickte Jacke wurde vor der Brust von zwei weißen Knöpfen schlecht zusammengehalten. Die Züge ihres Gesichts waren unter der Entstellung des Todes und der Kälte kaum zu deuten. Es war bläulich weiß, an Stellen blau angelaufen; unter dem dunklen Kopftuch hervor kräuselte sich blondes Haar; die Stirn war hoch, schmal und sah edel aus; zwischen den halbgeöffneten Augenlidern glitzerte etwas zugleich Blödes und Listiges; zwischen den blauen Lippen des ebenfalls halb offenstehenden Mundes war die Zungenspitze sichtbar. – Stelling, der seine Laterne an die Erde gestellt hatte, betrachtete dies ängstlich und voll Abscheu, indem er frierend den empfindlichen Armstumpf, dem die Hand fehlte, mit der anderen rieb.

Jetzt meinte er ein leises Wimmern zu hören und wandte sich zu dem Korb. Das graue Tuch von ihm ablüftend, fand er ein kleines Geschöpf darin, gequälten roten Gesichts, kaum hörbar quäkend aus nassem Munde.

Er trug den Korb in das warme Zimmer, sah nach dem Glutrest im Ofen, fachte ihn an, legte Papier und Holz auf. Währenddem hörte er über sich die Geräusche der aufstehenden Magd. Mit einem Brotmesser trat er wieder 165 ins Freie, schnitt die Tote ab, trug sie, die ihm an die Brust sank, seinen Widerwillen beherrschend, ins Haus, schwer genug – die Füße schleiften am Boden – und legte sie auf das Sofa.

Er saß neben ihr, als die alte Magd herunterkam. Sie erschrak, machte aber, ihrer Art nach, weiter kein Wesens und nahm den Korb mit dem Kinde in die Küche.

Die Augen der Leiche zu schließen, gelang dem Alten; der Mund widerstand und fuhr fort, halboffen die Zunge zu zeigen; das Antlitz hatte nun einen sehr erschöpften Ausdruck und als könnte sie nicht atmen. Die eine Hand, die mit steif gespreizten Fingern zu Boden hing, war hager, nicht unfein, nur entstellt wie das Antlitz von Tod und Frost. Weder an dieser noch an der andern – der Alte sah nach – befand sich ein Ring.

Die Magd trat ein mit dem leeren Korb, setzte ihn hin und sagte, sie habe keinen Namen oder Zettel gefunden. Stelling schwieg, fuhr sich nur einmal mit der linken Hand über das Haar, bemerkte dabei dessen Unordnung, stand zögernd auf und begann die Geschäfte des Ankleidens und Waschens, die er – selbst das Rasieren – mit der linken Hand mühelos erledigte. Häufig trat er dabei neben die Tote hin und betrachtete sie in ihrer tiefen Erschöpfung.

Mitunter hielt er auch inne während einer Beschäftigung, dem Schließen von Knöpfen, oder mit dem Rasiermesser, bevor er es ansetzte, und dachte: Ob dieses nun wohl der letzte Schlag sein wird? – Er war im ganzen viel mehr bekümmert als erschreckt. 166

2

Dieser nun einundsiebzigjährige Mensch war in seinem Leben von Unheil verfolgt worden.

Als er siebzehn Jahre zählte, kam sein Vater, der Lotsen-Kommandeur war, beim Versuch der Bergung eines Schiffes um, ein tollkühner Mensch, Trinker und Spieler, eine Ausnahme unter den Lotsen. Er hinterließ keinen baren Groschen; seine Witwe, eine Pfarrtochter, mußte sich das Nötige zum Leben neben ihrer winzigen Pension durch Weißnähen schaffen. Der Sohn, der hatte studieren wollen und sollen, wurde von mildherzigen Menschen so weit unterstützt, daß er Lehrer werden konnte. Kaum in Stellung in einem Dorfe der Gegend, heiratete er seine Knaben-Liebe, ein Mädchen so arm wie er; ein augenscheinlich so unsinniges Unternehmen, daß die Menschen, die ihm bis dahin geholfen hatten, ihn seinem Schicksal überließen, als er unter die deutschen Truppen in Napoleons Armee gepreßt wurde, und ihn nicht loskauften. Das war 1810; ein Knabe war eben geboren. Im Winter 1812 kehrte Stelling aus Rußland zurück; eine Hand war so weit erfroren, daß sie entfernt werden mußte. Er fand Nichts mehr vor als seinen zweijährigen Sohn im Waisenhaus. Seine Mutter war an Hunger, Schwäche und Gram, seine Frau, die sich zerarbeitet hatte, an der Auszehrung gestorben innerhalb weniger Wochen.

Da war er zu Nichts mehr fähig. Was er beim Brande Moskaus, bei Smolensk, an der Beresina, in den Einöden des Schnees erlebt hatte, das hatte seine weiche Seele 167 beinahe erdrosselt; was ihn aufrechtgehalten, die Hoffnung auf Weib und Kind und Mutter, deretwegen all Jenes überstanden werden mußte, davon war fast Nichts mehr übrig. Er zeigte sich sehr scheu, schreckhaft bei jedem plötzlichen Geräusch, sprach kaum, wollte nur in einer Ecke sitzen, konnte nichts Neues mehr anfangen. Er ließ sich im Armenhause unterbringen, im Korbflechten unterrichten und flocht. Etwas lebte er auf, als er im Jahre 1818 den Posten an der neugegründeten Taubstummen-Anstalt erhielt. Der früh grau gewordene Mensch, mageren, etwas rosigen und zarten Gesichts, in dem die Lider immer die Augen verbargen, gefiel dem damaligen Direktor der Anstalt, er rüttelte ihn liebevoll auf, lieh ihm Bücher, und von nun an las Stelling ununterbrochen, an seinem Fenster sitzend, mit Vorliebe geschichtliche Werke und Philosophie, zu der er sich die Kenntnisse langsam eroberte. Sein Knabe blieb ihm fremd; er war unbändig, suchte das Weite, sobald er sich tummeln konnte, und mit zwölf Jahren, schon groß und stämmig, lief er davon und ging zur See. Seitdem hörte weder sein Vater noch sonst Jemand in der Stadt von ihm.

*

Aber von ihm eine Botschaft mußten diese Beiden hier sein, dieser Leichnam und das Kind. Stelling war das, ohne Beweise, ganz klar. Nein, Jemand sollte daherkommen und sich von allen Häusern der Stadt gerade das seine ausgesucht haben, um sich am Klingelzug zu erhängen und ein Kind vor die Tür zu stellen? Gab es da 168 Nichts zu erraten? Kein Ring an der Hand – das Kind war ledig geboren. Wenn Tilman, der Sohn, auch jetzt fünfzig Jahre alt sein mußte, konnte er darum doch einem Mädchen ein Kind gemacht und es verlassen haben, so gut wie sein Großvater, der Lotse, eine Tochter im Hafen-Viertel gehabt hatte, als Stelling schon erwachsen war, deren Mutter freilich nur eine Dirne gewesen. – Tilman – vielleicht war er umgekommen wie sein Großvater; sein Leichnam trieb nun am Kap Horn oder landete triefend an einer von hundert Inseln im Südmeer, an den Karaiben. – Aber warum kein Zettel, kein Name? Stelling betrachtete das erschöpfte Gesicht der Toten und dachte, daß sie vielleicht nicht in dieser Absicht gekommen war. Das Versagen der Klingel war für sie vielleicht das Letzte gewesen, ihre Trostlosigkeit zu vollenden, ein Wink. Welche Zukunft konnte sie erwarten mit dem ledigen Kind? Was lag hinter ihr schon an Jammer und Schmerzen? Sie hätte ans Fenster pochen können, aber die Trübsal überwältigte sie wohl in der Frost-Nacht; sie machte ein rasches Ende ihrer langen Erschöpfung.

3

Stelling war fertig mit Ankleiden, beauftragte die Magd, eine Viertelstunde an seiner Stelle den Eingang zur Anstalt zu überwachen, und ging zum Direktor.

Einige Zeit später wurde das Kind, ein Mädchen im Alter von ungefähr einem Jahr, getauft und von Stelling rechtmäßig an Kindesstatt angenommen. Sie erhielt den 169 Namen seiner Mutter, Helene, und wurde Lene gerufen, Lene Stelling. Die Nachforschungen nach ihrer Mutter blieben ergebnislos. Die nach Stellings Sohne ergaben, daß er vor einigen Monaten schon mit der dreimastigen Bark Amalie Rothofen, die für eine Lübecker Firma gefahren, als Steuermann in einem Taifun in den chinesischen Gewässern umgekommen war.

Das Kind wuchs auf und wurde von einer leisen Sonderbarkeit, die Wenigen auffiel. Es schrie nicht, solange es hülflos war, und späterhin blieb es still, als hätte es von Anfang gewußt, in wessen Hause es aufwuchs, und wieviel zum Schweigen gekommen war, bevor die Einlaß-Glocke anläutete und sein dürftiges Winseln vernommen wurde im Morgen-Dunkel, in der Stille des Schnees und des Todes. Sie sprach kaum, niemals ungefragt, und fragte selbst nie; ihre kaum vernehmliche Stimme zu erheben, konnte kein Lehrer sie zwingen. Wurde hart mit ihr verfahren, bekam ihr flaches, unbestimmtes, ganz blondes Gesicht einen solchen Ausdruck von Angst, daß Jeder mit Schelten einhielt. Sie weinte aber niemals. Sie war von äußerster Empfindlichkeit gegen jedes mehr als laute Geräusch; schauderte zusammen, kroch in sich, schlug lange die Augen nicht auf oder mit der Miene hülfloser Bangigkeit. Ihr Gang, immer auf den Fußspitzen, war fast ein Schweben. Mit andern Kindern, solange sie die Schule besuchte, spielte sie nie, ging nie in fremde Häuser, blieb immer für sich, wurde von Erwachsenen sonderlich gefunden, von den Alters-Genossinnen bald kaum mehr bemerkt. Sie war 170 ganz unauffällig und die Folgsamkeit selbst. Es gab Nichts, das sie aus eigenem Antrieb getan hätte, und vielleicht deshalb nur wurde sie von den Anderen ausgeschlossen, da es gegen die kindliche Natur geht, Jemand zwei- oder dreimal und jedesmal wieder zu derselben Sache aufzufordern. Nach zwei Jahren Schulbesuch fragte ihr Großvater sie einmal, ob sie denn gern zur Schule gehe, worauf sie nach einem Zögern mit Nein antwortete, und mit Ja, als er fragte, ob sie lieber von ihm unterrichtet sein wollte. – Das geschah von nun an, und sie wäre den Augen der Stadt völlig entschwunden, wenn sie nicht zuweilen an einer sichtbaren, obwohl nicht erreichbaren Stelle aufgetaucht wäre.

4

Lasse dich nun, mein Leser, von mir in die kleine Stadt am Dollart führen und zugleich nach rückwärts in jene Zeit der sechziger und siebziger Jahre, als Lene Stelling dort Kind und Mädchen war. Bleibe nicht, wie sonst Hergereiste zu tun pflegen, am Eingang der schmalen Straße stehen und sage: Hier ist Nichts zu sehen, und außerdem eine Sackgasse – dieweil sie am anderen Ende von einer hohen grauen Mauer mit breitem, eichenem Tor abgeschlossen ist. Sieh dir das kleine Haus rechts davor an mit dem hochgeschweiften Giebel, der schön geschnitzten braunen Tür über vier nach oben kleiner werdenden Stufen und dem Porzellan-Schild: Zum Pförtner. Der Klingelzug daneben ist jener Klingelzug. Tritt mit mir durch das Tor, und du wirst dich in einem schönen und geheimnisvoll scheinenden Bereich finden. 171

Vielleicht erwartetest du, einen Hofraum zu betreten; aber du stehst nur wieder im Anfang einer Straße. Sie ist breiter als die Gasse, durch die du kamst, und scheint es noch mehr, weil die kleinen Häuser linker und rechter Hand Gärtchen vor sich haben und mit der Schrägung ihrer Dächer der Straße zugewandt stehen, so daß Alles breit und offen darüber ist und nur abgeschlossen von den gewaltigen Wipfeln uralter und riesenhafter Eschen, die hinter den Häusern stehen. Sie gehören zu dem Park, in dem die ganze Anstalt liegt, und in dessen, in großem Oval umhergezogener Mauer das Pförtner-Haus eingefügt liegt. Wenn du dich wenden willst, siehst du die seitlichen Fenster und daneben den kleinen Zaun, der den hinter ihm liegenden Garten vom Park abschließt, und der in die graue Mauer verläuft.

Nimm nun an, ein schöner Sommer-Tag sei gewesen und Abend geworden. Der Friede ist tief und in seiner Wärme doch kühl, denn da ist viel Schatten. Da sind diese kleinen Häuser, aus tiefroten Ziegeln erbaut mit sehr reinen weißen Fugen und blauen, an die Hauswand zurückgeschlagenen Läden. Die kleinen Gärten davor siehst du überquellen von hundert Arten Blumen in allen Farben des Lichts, gelblichen und rosigen Stockrosen, dem hartblauen Rittersporn, blaßgelben mannshohen Königskerzen und den großen Büschen des Flox, ziegelrot, lachsfarben und weiß; die grünen Staketen-Gitter verschwinden unter den Blüten der rankenden Bohnen, rot und weiß, des gelbroten Nasturziums, der ganz bunten und großen Winden, blaurot und 172 rosa und purpurn. Alles liegt schon im Abend-Schatten, aber oben, hinter den zerrissenen, hangenden und rauschenden Wipfeln der königlichen Eschen glüht das helle, flüssige Gold des Äthers. Dort oben im Raume schießen die schwarzen Punkte der Mauerschwalben, und du kannst sie schreien hören. Den Hintergrund schließt ein großes und mehrstöckiges Haus aus rotem Backstein, doch ohne weiße Fugen, zum Teil grün vom Wein überklettert, etwas düster.

Vernahmst du schon diese Stille? Vielleicht entdecktest du zwischen der Blumen-Wildnis irgendwo eine Gestalt, die über den Zaun lehnt und dich still ansieht. Oder eine andere scheint irgendwo zu sitzen, die nach oben schaut und sich nicht wendet, wenn du ihr näher kommst. Hier ist Abgeschiedenheit; hier ist Schweigen; hier scheint viel Geheimnis.

Für wen singt die Amsel in ihrer goldenen Höhe? Muß sie nicht fühlen, daß sie eingeschlossen sitzt in einer Kugel mit gläsernen Wänden? Wer hört das große, langmütige Rauschen der alten Bäume? Wer die eintönige Rufstimme des Kuckucks aus dem Park? Hier sind keine Ohren; hier ist Alles still; hier wird nicht gehört.

An den Fenstern gewahrst du Gesichter von Arbeitenden hier und da, die nicht aufschauen, wenn wir vorübergehen. Im großen Haus – außer der Wohnung des Direktors enthält es die Schul- und Schlaf-Säle der Kinder, auch einen Andachts-Raum – zeigen sich Gesichter von Knaben, die stille herabsehen auf dich; von anderen sind vielleicht 173 Köpfe und Schultern sichtbar, und diese halten mit ernsthaftem Ausdruck ihre Hände gegeneinander und machen langsame Bewegungen mit den Fingern und zu Stellen des Gesichts.

Komm weiter. Rechts und links, wo die Straße endet, sind Zwischenräume zwischen den letzten Häusern und dem großen Gebäude, durch die du in ein dämmeriges Wald-Inneres blickst. Und hier zur Linken im Schatten unter den Bäumen gewahrst du jetzt eine Seilerbahn, so abgeschieden und unmerklich, als wäre sie lange schon außer Gebrauch. Aber ein Mensch kommt rückwärts darin hergegangen mit schwebendem Seil; rufe ihn an, er wird sich nicht wenden.

Nun tiefer in die Stille des Parks, auf engen Wegen, im Buschwerk, aus dem überall die riesenhaften Stämme und Wipfel der Eschen emporsteigen. Da ist die kleine Wiese, von Wegen umfaßt, unter Gebüschen und alten Bäumen, wo inmitten die ziegelrote Staude Flox steht, jene wohl, von der ein Dichter sang:

Was stehst du oft? Was hören deine Ohren?
Und warum siehst du schließlich, wie verloren,
Die Falter flimmern um den hohen Flox?

Ein Mann steht dort, einsam, und wie er dir entgegenkommt, einfach und sauber gekleidet, grüßt er dich mit einem Kopfneigen, ernsthaft und stumm. Was empfindest du, wie er vorüber ist?

Komm weiter die freundlich verschlungenen Wege. Und nun den kleinen Pfad zwischen Tannen hinunter, – er 174 führt gegen einen uralten Eichbaum von ungeheurer Größe und Stärke; eine schmale Wendeltreppe ist herumgelegt, und über dem untersten riesigen Ast siehst du, zwei Meter hoch über deinem Kopf, eine hölzerne Plattform befestigt mit einem Geländer, kaum erkennbar im Astwerk. Steigen wir hinauf. Ein Tisch steht oben und ein Stuhl; auf dem Tisch ein Glas mit Nelken. Dies ist der Platz von Lene Stelling.

Er stammt aber noch aus der Zeit, als der Park und das rote Haus ein Herrensitz war. – Die Aussicht liegt frei. Weite grüne Kleefelder, unterbrochen von einigen Kornstreifen und Gemüse-Feldern und in der Entfernung von hundert Schritten durchzogen von einer mit roten Klinkern gepflasterten Allee, die zur Linken aus den ersten Häusern der Stadt kommt und zur Rechten in die Unendlichkeit des Marschlandes zieht, ziemlich genau parallel mit der schnurgraden Linie des Deiches, die von uns aus dreihundert Schritte entfernt sein mag. Heut ist dort Alles anders; die Allee ist noch, aber dahinter steht das Untersuchungs-Gefängnis, und weiter links liegen die neuen Auswandrer-Hallen. Wer aber an schönen Tagen in der Allee spazieren ging, konnte das helle Kleid von Lene Stelling erkennen, wenn sie auf der Plattform saß, mit ihren Schulaufgaben beschäftigt, oder mit einem Buch, oder auch mit Nichts als dem Ausschaun über den Deich. Du kannst wie sie den blauen Streifen des Wassers fern draußen sehen, der weiter nordwärts, zur Rechten, wo der Dollart sich öffnet, zur Fläche wird, im Abend ein sehr stilles Blau. Lene 175 Stelling konnte dort noch die gewaltigen Leinwand-Bauten der Briggs und Fregatten über den Himmelsrand auftauchen sehen, wo nun die Rauch-Fahnen der Amerika-Fahrer den Himmel verschleiern und selten ein Barkschiff erscheint.

In diesem Garten, in diesem Schweigen wuchs Lene Stelling auf. Heut ist man fortgeschritten und weiß, daß ein taub geborener Mensch deshalb nicht stumm zu sein braucht, und daß er und daß selber der Stumme, das heißt der, dem die Werkzeuge der Rede verkrüppelt sind oder verwachsen, sprechen lernen kann. Heute giebt man sich auch mehr Mühe mit Jedem, der irgendwie geschädigt ist an seiner Natur – mehr Mühe als mit den Gesunden, von denen es heißt, daß sie sich selbst helfen können –, und sucht ihn dem gemeinsamen Leben Aller anzugleichen und zuzuführen. Wenn du bedenkst, daß in den vierziger Jahren noch Menschen nicht nur durch Beil und Strang, sondern auch durch das Rad vom Leben zum Tode befördert wurden, so wirst du auch in jenen sechziger Jahren das Mittelalter nicht so entfernt sehen; nicht so entfernt, daß man für derlei Menschen mehr getan hätte als zu sorgen, daß sie weder Hungers starben, noch Anderen zur Last lagen. Aber für zugehörig hielt man sie nicht; man ließ sie sein, was sie waren, Ausgeschlossene irgendwie, die im Mittelalter gebettelt hätten und für sich gehaust wie die Zunft der Bettler und die Leprosen. – Nun brachte man sie immerhin in Anstalten unter, wo sie ein Handwerk lernten und jene Sprache, mit der sie 176 sich untereinander, aber nicht mit der Welt der Gesunden verständigen konnten, die der Finger und der Zeichen.

Zu Lene Stellings Zeit hatte die Anstalt an hundert Insassen, zur Hälfte Erwachsene, zur Hälfte Kinder. Diese erlernten die Zeichensprache, wurden vermittels ihrer in den Elementar-Wissenschaften des Schreibens, Lesens, Rechnens usw., später in einem Handwerk unterrichtet. Die Erwachsenen, darunter nur wenig Frauen, wohnten in den kleinen Häusern, je zu Zweien und Dreien, von denen stets Einer gewissermaßen der Hausherr war, denn dieser war seßhaft, so daß diese eine Gemeinschaft bildeten wie die Unsterblichen der französischen Akademie, in die sich nur gelangen läßt, wenn eins der Mitglieder stirbt. Diese übten ihre unterschiedlichen Handwerke und Fertigkeiten aus – des Schusterns, Schneiderns, Böttcherns, Korbflechtens, Schlosserns, Uhrmachens usw., zum Teil im Dienste der Anstalt, zum Teil indem sie sich Arbeit aus der Stadt besorgten. Die Übrigen waren ihre Schüler und Gehülfen, die, wenn sie ausgelernt hatten, in die Welt zurückkehrten, sei es zu ihren Angehörigen, wenn sie deren hatten, sei es um sich schlecht und recht allein durch das Leben zu bringen. Gern schieden sie nie, mußten immer genötigt werden, und die Verwandte hatten, schieden am ungernsten.

Zwischen diesen sehr stillen Gestalten, in dem um sie gesammelten Schweigen, das selten einmal der rauhe und röhrende Laut Eines unterbrach, den die Erregung eines Gesprächs dazu verführte, oder Eines, der nicht ganz 177 stumm war und beim Arbeit-Erfragen in der Stadt sich einige fragende, fordernde und grunzende Töne angewöhnt hatte, – ging Lene Stelling hindurch, ohne geringste Gemeinsamkeit. Lene hatte keinen eigenen Willen je gehabt, und so mochte im Anfang die Schuld bei den Andern gelegen haben, von denen Niemand das Kind anzureden vermochte. Sie widerstand auch im Leben nie, wenn später Einer sich zu ihr gesellte und mit Zeichen auf sie einredete, im Glauben, von ihr verstanden zu werden. Aber sie hatte diese Sprache nicht gelernt. Was ihren Vater angeht, so betrat er die Straße der Anstalt nur, wenn er mit dem Direktor zu sprechen hatte, das heißt, um sich ein Buch zu holen, und dies pflegte er zumeist nach Einbruch der Dunkelheit zu tun, wenn die Straße leer war. Dies weniger aus Abneigung gegen die Bewohner, als aus seiner allgemeinen Scheu vor den Menschen. So hatte er auch nie daran gedacht, das Kind die Sprache der Tauben zu lehren.

Aber das Kind, wenn sie ihrer gedachte, dachte: die Stummen! und nicht: die Tauben! Taubheit äußerten sie ja nicht, wie hätte sie sich also empfinden lassen. Daß sie mit ihr nicht sprachen, daß sie Zeichen machten im Gespräch miteinander, überhaupt daß sie stumm waren, das ließ sich verstehn, und das war es, was sie dem Kinde unheimlich machte. Es überwand im Leben nicht ein Gefühl der Furcht oder mehr des Abscheus gegen diese so stillen Wesen, die auf eine so unmerkliche, so geheimnisvolle Weise unvollkommen waren und verkrüppelt. Es 178 unterwies sie Niemand, ihr wurde Religion gelehrt, aber nicht Liebe, sie hatte keinen Willen noch Antrieb in sich, es war ihr unbekannt, daß man sich Mühe geben mußte auch um Etwas, das einfach da war und in Ordnung schien in seiner Art; sie behielt ihr anfängliches Grauen, und so reifte ihr das Verhängnis.

Niemals trat sie in eines der Häuser. Wie ein Mensch aus dem Märchen, der hinabgeführt wird in die Meeres-Unterwelt zu den stummen Völkern der Tiefe, die ihn nur ansehn können und seine Hand ergreifen, so, in immer gleicher, kaum verhaltener Eile durchmaß sie die Straße, um im Park zu verschwinden.

5

Lene Stelling, die bis zu ihrem elften und zwölften Jahr das unscheinbarste Gewächs von einem Kinde gewesen war, entfaltete langsam und lange unmerklich an diesem erst wesenlosen Stamm eine immer vollere Blüte und wurde schön. Ihr Haar, früher von glanzlos weißlichem Blond, wurde reich und glänzend, später so üppig, daß sie es nicht in Zöpfen tragen konnte und aufsteckte, ein mächtiges silberblondes Nest von Flechten um die zierliche Kleinheit des Kopfs. Die nichtssagende Flachheit der Züge formte sich zu einem kleinen und reinen Oval, die flach sitzenden Augen vertieften sich und schienen nun erst groß, und ihre früher unkenntliche Farbe, ein graues Blaßblau, wurde dunkel wie auch die Brauen, die zu zwei sehr dünnen und vollkommen gerundeten Bögen wurden. Die Nase 179 nahm eine Biegung von sanftem Hochmut an, nur der Mund, weich und rosig, blieb unbestimmt in den Umrissen wie auch das Kinn. Besonders merklich verlängerte sich ihr Hals und wuchs in schöner Biegung zwischen den Schultern hervor, deren Wölbung im Profil gesehn fast zu gebogen erschien und wie gekrümmt. Alles an ihr war zart, hatte die Leichte von Gewächsen und die Stille von ihnen auch. Sie ging wie vorübergetragen. Da es weder in ihrer Art lag, den Blick fremder Augen zu erwidern, noch die Augen niederzuschlagen, so hatte sie sich gewöhnt, nach oben zu blicken, auch den Kopf etwas zurückzulegen, was ihr einen schwärmerischen Ausdruck verlieh.

Wußte Jemand, was für ein Wesen dies war? Die wechselnden Direktoren der Anstalt waren meist zu beschäftigt, um sich mit ihr abzugeben, und sie war schön und gebrechlich, ein Ding, das man ansieht und nicht zu berühren versucht. Die Beziehungen zu ihrem Großvater waren mit dem Aufhören des Unterrichts – und die Zeit, wo sie nach seinen Begriffen und Kenntnissen genug gelernt hatte, kam früh – eingeschrumpft und fast leblos geworden, wesenhaft nur noch in den Begrüßungen am Morgen und Abend und hier und da einem freundlichen Anblicken. Der Alternde fühlte sich zufrieden, ein Geschöpf um sich zu haben, das Nichts verlangte. Den wechselnden Mägden kam sie nicht nah. Sie war kaum je ohne Beschäftigung. Sie hatte das Haus, des Vaters und die eigene Kleidung und Wäsche in Ordnung zu halten, die Mahlzeiten zu bereiten, ihr kleines Stück Garten zu pflegen, 180 Gemüse zu ziehn, im Frühsommer die Beeren, später das Baumobst zu ernten, zu verwahren oder einzukochen, – Arbeit genug für den Tag. Im Winter las sie auch Manches und bekam neben den geschichtlichen Werken, die sie aus der Hand des Großvaters nahm, auch dichterische vom Direktor, soviel er hatte, den Lichtenstein und die Novellen von Hauff, mehreres von Clauren, den Titan Jean Pauls, die Theaterstücke Körners, Uhland und Schiller, die sie dann ruhig immer noch einmal las. Bei schönem und warmem Wetter saß sie auf der Plattform im Baum, auch in der Dämmrung zuweilen, nach dem Abendbrot, zuschauend, wie der Abend über dem Dollart entschwamm in lautlosen Farben des wandelnden Himmels. Wurde sie dann ins Ferne gefesselt von der vereinsamten Flocke eines rostroten Segels auf der noch lichtübergossenen Fläche? Empfand sie ein meerfernes Ziehen und Rufen? Hörte sie Hörner blasen, sah sie die traurigen Eilande der abgeschiedenen Meeres-Bewohner, die aus dem Blauen heraufstiegen, fischleibig zur Hälfte, unheimlich Unvollkommene, klagenden Auges und schwermütig blasend über die glänzenden Einöden? Niemand wußte, was in ihr war.

Ein so unwissendes Geschöpf war Lene Stelling wie ein Stern. Sie hatte die menschliche Gestalt, wandelte in ihr und nutzte sie auch, aber sie war ähnlicher einem Traum als einem Wesen. Denn von Allem, was sie tat, tat sie nicht ein Ding aus sich und mit Willen, sondern weil Umstände es fügten und mit sich brachten. Wie um die 181 schlafende Seele im Traum mögen um sie her die Dinge sich gestellt und geordnet und wieder entzogen haben, um andere vorzulassen, ohne Wirkung, Erscheinungen allein, von denen mitunter ein wenig Lust und Wohlgefühl – wie vom Vater, von den Blumen –, mitunter Angst oder Abneigung floß, wie von den geheimen Gestalten der Stummen. Ein wesentlich gewordener Traum des Lebens, das war sie wohl, leise und schöngestalt und bewußtlos in schwebender Blondheit.

6

Lene Stelling blieb, als sie schöner ward, nicht unbehelligt von dem stummen Volk. Es kam nicht vor, daß sie zurückging durch den Park, ohne Jemand zu begegnen, einer stummen, wartenden Gestalt, die lächelte, wenn sie kam, auch wohl Zeichen machte, – und dann blieb sie stehn, sah eine Zeitlang den redenden Gebärden zu, lächelte, oder nickte, oder schüttelte den Kopf, wie sie erriet, mit was sie erwidern sollte, bis sie es fertigbrachte, zum Abschied zu nicken und weiterzugehen. Es mußte auf jedem Wege im Wald Einer warten, denn welchen sie auch wählte, traf sie doch jedesmal Einen. Dabei dachte sie Nichts; es war das Recht der Stummen, im Park zu gehn. Aber da sie ihnen nicht gerne begegnete, versuchte sie jedesmal einen andern Weg, und es kam vor, daß sie, ohne Jemand zu treffen, bis zur Wiese gelangte, die zwei Wege je im Halbkreis umfaßten; und dann wartete sicher Jemand auf einem von ihnen, und sie wählte den andern, 182 und da sie einen raschen Gang hatte, war es oft nicht möglich sie einzuholen. Auch wurde der Anschein, als würde ihr aufgelauert, von den verhaltenen Menschen immer vermieden.

Dies war Alles, was sie fertigbrachte, auszuweichen, abzubiegen auf einen andern Weg, wenn sie von fern Jemand sah, den Blick weghebend über die Augen des Wartenden, die hell wurden, wenn sie erschien, und deren trauriges Sichverdunkeln sie nicht mehr sah. Sehr beliebt war sie bei den Stummen, Lene Stelling, die Ohren hatte, zu hören, und Lippen, zu reden, und von beiden keinen Gebrauch zu machen wußte.

7

Im Jahre 71, als Lene Stelling zwölf Jahre zählte, kam ein junger Mensch in die Anstalt, der von Geburt weder taub war noch stumm, sondern Beides erst geworden im Kriege mit Frankreich, wo der Knall eines explodierenden Wagens mit Munition ihm die Trommelfelle zerriß, während zugleich der Nervenschreck ihn der Sprache beraubte. Seine Verlobte, eine gutherzige kleine Person, brachte ihn her, einen schönen, geraden Menschen, noch ganz verstört, mit feurigen braunen Augen, mit dem Kopf eines David des Buonarotti, breitstirnig unter reichlichem blonden Haar, und mit schön und lebendig gewölbten Lippen. Benedikt hieß er und war ein Gärtner. Er blieb; alljährlich erschien seine Braut, ihn zu holen, aber er wollte nicht fort; er war einesteils zu stolz, als 183 Sprachloser, als so ungleich Gewordener unter den Menschen herumzugehn, und andernteils traf es sich so, daß der bisherige Anstalts-Gärtner starb und er seine Stelle einnehmen konnte. Seine Verlobte fuhr fort, auf ihn zu warten, ihm alljährlich zuzusetzen mit Bitten, Beschwörungen, Tränen; auch das Zureden des Direktors fruchtete so wenig wie ihre Ausdauer und Treue, da sie nie einen Andern nahm. Er machte ihr verständlich, daß sie glücklicher sein müsse ohne einen Krüppel wie ihn, daß ihm wohl war in der Stille und unter seinen Blumen, wo nur diese, aber sonst Niemand etwas von ihm verlangte.

Der Garten gedieh unter seiner Hand, und er liebte darin Überraschungen. An jeder Stelle, die Sonne genug bekam, säte er Samen von Blumen, die dann, jede zu ihrer Jahreszeit, plötzlich erblüht in leuchtenden Farben standen. Er faßte die Seilerbahn in Sonnenblumen ein, er ließ den blauen Rittersporn oder die grauen und hellgelben Königskerzen an Wegkreuzungen erscheinen, und er sorgte dafür, daß die Wiese im Frühling zart übersprenkelt schien mit den gelben und weißen und violetten Tupfen des Krokus.

Insgeheim aber liebte er das Kind Lene Stelling, als Erster wohl, dessen geübtes Auge die Blüte der Anmut an ihr sich entfalten sah. Doch brachte er seine Neigung nicht wie die Andern zum Ausdruck. Diese, die nicht ihresgleichen waren, die sie als Fremdlingin kommen und gehen sahen in ihrem Reich, konnten ein Recht empfinden, sie anzuhalten, sie anzureden. Er war im Grund ihresgleichen, mit ihr 184 durch sein früheres Leben verbunden, und zu seiner naturgewordenen Menschen-Scheu mußte es ihn doppelt widerwillig machen, nicht in der Weise mit ihr umgehen zu können, wie sie und er selber es gewohnt war. Lieber gar nicht als so. Er sprach auch mit Andern die Zeichensprache, die er gelernt hatte, ungern, zu hochmütig, mit den Fingern zu zappeln, und den Umgang entbehrte er freiwillig, da er den mit den Blumen hatte. Daher wartete er wohl hier und da auf sie, vornehmlich an Stellen, wo eine seiner Überraschungs-Pflanzen über Nacht die Farben aufgetan hatte, abwartend, ob sie stehen bleiben würde, verstohlen lächelnd, doch stets ohne Wort. Benedikt vergaß nie, wer er war; ihm schien Nichts erlaubt, als sie zu lieben, die übrigens noch ein Kind war. Möglicherweise auch war er mißtrauisch, ob sie ihn – und die Andern – überhaupt verstand. Denn da er eine Ausnahme war unter ihnen, hatten seine inneren und zarteren Sinne es nötig, sich zu erhalten; und wenn er häufig die Stummen ihre Zeichen-Reden an das Kind halten sah, ohne daß sie je selber sich dieser Sprache bediente, konnte ihm das wohl verdächtig erscheinen, selbst wenn er nicht wahrnahm, wie aufs Geratewohl gemacht ihre Zeichen des Verstehens waren.

Durch seine Blumen sprach er mit ihr, einseitig zuerst und sehr allgemein die Sprache des Dienenden und der Huldigung; später verständlicher, wie er meinte, seit er einmal auf ihre Fensterbank eine kleine Schrift über die Blumen-Sprache gelegt hatte, – die freilich Lene Stelling nur verwundert, woher sie kam, und flüchtig ansah, – ohne sich 185 Etwas daraus, oder sonst Etwas zu merken. Nur daß die Blumen, die jetzt ständig ihren Tisch auf der Plattform schmückten, die sie auf ihrer Fensterbank liegen oder in einem Gefäß stehen sah, – daß sie von ihm kamen, konnte sie denken. Aber Lene Stelling war noch ein Kind, damals an Jahren und immer an Geist.

8

Das Frühjahr, vor dem Lene Stelling achtzehn Jahre alt geworden war – denn ihr Großvater hatte ihren Geburtstag auf den im Winter angesetzt, wo er sie vor seiner Tür fand –, war überschwänglich an Blüte, an Sonne, an ständig sich steigernder Glut, über die hoch Gewitter vom Dollart, als ob sie sich nicht zu entladen wagten in diesen Kessel von Flammen, hinwegzogen, – und alsbald schien es, als sei unter die Insassen der Anstalt ein Dämon gefahren. – Das Frühjahr freilich pflegte sie stets zu erregen und etwas durcheinander zu bringen.

Denn Diese waren ja nicht, was sie dem Gesunden scheinen mögen, wenn er ihrer Einen allein in seiner Welt sieht, Ausnahmen und Unvollkommene, die sich beständig einstellen müssen und auf der Hut sein mit ihrer Unvollkommenheit; dies waren sie keineswegs innerhalb ihrer Gemeinschaft, keineswegs verschieden voneinander, und Keiner war unvollkommen, sondern Jeder dem Andern so gleich wie der Gesunde, in seiner Welt, dem Gesunden. Ihr Leiden hatte ein Dasein nur im Einzelnen und im Vergleich mit der vollkommenen Menschheit. Was konnte 186 sie voneinander unterscheiden? Sie wohnten Alle miteinander auf der gleichen Ebene ihres Unglücks und verkehrten in ihr miteinander, nicht, wie mit den Gesunden, von einer tieferen Stufe aus. Gemeinsames Schicksal schloß sie enger zusammen, und dies tat auch ihre Sprache, die sich nicht, wie die des Mundes, dämpfen ließ in Gegenwart Andrer, sondern überall sichtbar ertönte und vernehmbar für Jeden. Die Not ihrer Lage, der Gemeinsamkeit nicht zu entbehren, zwang sie dergestalt zur Offenheit; machte sie freilich auch mißtrauisch zugleich, – wie ja Mißtrauen der natürlich wachsende Charakterzug der Tauben ist, die unter Gesunden leben.

Sie also in ihrem Bereich waren Menschen wie die Gesunden im ihrigen, nicht besser und nicht schlechter, und deshalb machte auch der Umstand, daß sie nicht zu sorgen hatten, solange sie dort waren, sie nicht friedlicher oder weniger zänkisch. Soviel Kümmernisse, Verdrießlichkeiten, Unlieblichkeiten, Ärgernisse und Selbstplagen, wie der gemeine Mensch zu haben verlangt, ließen sich leichtlich erfinden auch dort, wie für Jeden, der in einer Gemeinschaft lebt, die nicht von Gott ihre Satzungen, wenn auch nur vermeintlich, empfing. Denn nur solange er sich nicht allein befindet, hat der Mensch Recht; Recht in Meinungen, Empfindungen, Einbildungen, mit seinem ganzen Dasein; unter Mehreren dagegen ist er genötigt, sich und sein Dasein immerfort zur Geltung zu bringen; sich zu beweisen, und den Andern, daß er ist; Recht zu verlangen und zu gewähren; und wo gäbe es dazu einen anderen Weg als das Unrecht, wenn auch nur eingebildetes? 187

In diesem Frühjahr nahm aber das Gezänk überhand mit dem ungehörten Schmettern der Nachtigallen. Sie zuckten von Uneinigkeit allesamt; aus hundert und einer Ursache gab es alltäglich Streit zwischen Zweien, in den Andre sich mischten oder hineingezogen wurden; und da der eingeborene Instinkt ihres Menschseins sie nicht selten dazu verführte, den Mund zu Hülfe zu nehmen und gehässige und sprachlose, verstümmelte und rauhe Laute und Schreie von sich zu geben, so war dies bald an allen Ecken zu hören. Später wurden sie gar handgemein.

Lene Stelling, in Wahrheit die Ursache dieser Zänkereien, schien vorerst keine Rolle darin zu spielen. Es waren ja auch in der ganzen Anzahl verhältnismäßig Wenige, die sich, wie die römischen Auguren, insgeheim einig wußten in ihrer Verehrung der Holden. Alsbald aber gerieten die ihr Auflauernden im Park aneinander. Argwöhnisch, eifersüchtig auf einmal suchte Einer den Andern auf, sei es damit der ihr nicht allein begegne, oder weil er dessen Stelle für günstiger hielt, oder weil er sich beeinträchtigt fand durch die Nähe Jenes, durch sein Warten überhaupt, und sie überhäuften sich dann gegenseitig mit Schmähungen ihrer Zudringlichkeit, Verhöhnungen ihrer Aussichtslosigkeit und fließenden Strömen von Schimpfworten, deren sie einen so reichlichen Schatz hatten wie alle Welt. Die Ungeduld des Buchstabierens erhöhte die Heftigkeit; sie entflammten einander, Lene Stelling wich aus, wo sie von weitem Zweie gegeneinandergestellt sah, die erhitzten, funkelnden Gesichter fast zusammengestoßen, ungebärdig hin 188 und her fahrend mit Händen und zuckenden Fingern. Gehört konnte ihr Kommen von Keinem werden, fing ihrer Einer aber den Schein ihres Kleides auf, so brach er hastig die schmählichste Rede ab und stürzte in die Gegend, wo sie etwa noch anzutreffen war; der Andre ihm nach, und Lene Stelling, angstvoll ihre Schritte beflügelnd, konnte sie hinter sich einander drängen und schlagen hören und keuchen. Andermals, wenn sie selber bei einer Wegbiegung überrascht wurde vom Anblick Zweier, die sich noch lautlos gestritten hatten, an denen sie nun, erschreckt von den leidenschaftlichen Gesichtern und Gebärden, vorüberzukommen versuchte, so traten die Beiden an den Wegrand, gesträubt, in höchster Eile bemüht, den Zorn vom Gesicht loszubekommen und statt seiner ein dürftiges und mißratenes Lächeln vorzunehmen. – Und wie die Schar der früher auch voreinander sich geheim haltenden Liebhaber nun Scheu und Zurückhaltung fallen ließ, so taten sie es auch bald vor den Übrigen – nach dem Grundsatz: wer Zank hat mit Jemand, braucht einen Dritten, um sich zu beklagen. Bald hätte Lene, wenn sie nur hätte lesen können, ihren Vornamen aller Enden in die Luft geschrieben sehn können. Die ganze Anstalt war nun hineingezogen in die Streiterei, ob es erlaubt wäre, Lene aufzupassen, sie anzureden, dabei harmlose Andre zu stören, gar beiseite zu drängen, oder was sonst die kindischen Ursachen der Zwistigkeiten mehr sein mochten. Denn nie um mehr als um dergleichen Kleinigkeiten handelte es sich; um das Recht, Lene Stelling zu grüßen, mit Lene Stelling zu reden; nicht etwa um 189 Verliebtheit und Liebe. Die Bedauerlichen wußten zu gut, daß davon nicht die Rede sein konnte, und Keiner wagte daran zu rühren; es blieb eine Art Heiligtum, dessen Unverletzlichkeit stillschweigend ausgemacht war. Dazu waren der Liebhaber, ähnlich wie bei der ithakischen Penelope, fast ein Dutzend, und sich lächerlich zu machen, davor bewahrte diese Ärmsten ein Rest von Vernunft.

Schließlich fanden Prügeleien überall statt, sie brachen aus dem Dickicht wie wilde Tiere, ihr Röhren ward hörbar wie das von solchen, und die niemals gesättigte Brunst dampfte aus ihren entstellten Gesichtern. Da merkte denn auch sie, die Bewußtlose, die lange Zeit ahnungslos geblieben war, daß es sich um ihre Person handelte bei dem lautlos hitzigen Getöse um sie her; sie merkte, wenn auch nur dünn, daß all Dies gegen sie gerichtet war, wenn sie auch die wirkliche Ursache kaum begriff. Denn selbst wenn sie auf die Spur geraten wäre, daß die Stummen in sie verliebt seien, so hätte sie den bewußten Gedanken daran unterdrückt. Alles was sie dachte, war daher die Einbildung, daß die immer unheimlich Gewesenen nun offen böse und feindlich gegen sie wurden; daß sie ihr etwas zu Leide tun wollten. Gleichwohl war dies kein reines Empfinden in ihr, und ein andres mischte sich dunkel hinein.

9

Unter denen, die Lene nachstellten, war ein Bursche, der sich schon im Vorsommer, nachdem er kurz zuvor die Anstalt betreten, merkbar täppisch gegen sie benommen hatte. 190 Ein gedrungener stämmiger Mensch von Aussehn, seines Zeichens Steinmetz oder Bildhauer – eine Werkstatt für Grab-Denkmale war in der Anstalt –, der auf kurzem Nacken vorgeduckt ein gewaltiges Haupt wie ein Büffel trug, ein wenig ähnlich dem Beethovens, nur – er war Halbitaliener – völlig schwarz von Haar, Augen und Brauen, die zwei dichte, engzusammengewachsene Wülste über den glühenden Augen bildeten; breit und niedrig von Stirn, ein prächtiges Stück von einem Tier. Er war erst als Knabe ertaubt und konnte sprechen, doch war das mehr ein Würgen und Hacken von harten Lauten, steinichten Brocken von Konsonanten ohne Vokale. Er hielt sich nicht nur für einen Künstler, sondern schlechthin für den größten der Welt, modellierte wildbewegte Figuren und phantastische Geschöpfe, wähnte sich verkannt und unterdrückt und war von einer wuchernden und maßlosen Aufgeblasenheit, indem er sich für eine Mischung von Beethoven und Michelangelo hielt, denn er komponierte auch und schrieb Verse. Alles dies übrigens ohne eine Spur von Bildung, und sicherlich war er begabt; sicherlich auch schon zur Hälfte dem Wahnsinn verfallen, der jeden Augenblick in hellem Größenwahn auflodern konnte. Was er machte, war wüst und süßlich. In die Anstalt war er nicht eigentlich wegen seiner Gebrechen gekommen, sondern weil der dortige Steinmetz sich in der Stadt niedergelassen und geheiratet hatte, und um die versäumte Schulbildung nachzuholen. Ein Mäzen der Stadt, der ihn vor kurzem entdeckt hatte und fördern wollte, glaubte dies billiger zu bekommen durch die Anstalt. 191

Cesare – das war sein Name – verliebte sich augenblicks mit Leidenschaft in Lene Stelling. Bald hatte er die Neigung Benedikts, des Gärtners, zu ihr ausgekundschaftet und auch, daß er sich der Blumen bediente, um sein Gefühl zum Ausdruck zu bringen. Da ihm nun seine eigenen Annäherungsversuche mißglückt waren – die Lene entfloh vor seinem Gegurgel, mit dem er sie in seine Werkstätte einladen und sie bitten wollte, sie modellieren zu dürfen –, verfiel er in jenem Frühjahr darauf, eine Okarina zu kaufen, ein ganz in die Umgebung passendes Instrument. Denn wenn man sich ausdenken wollte, daß Fische singen könnten, so müßten ihre weichen und zahnlosen Mäuler so weiche und runde Noten entquellen lassen wie die der Okarina.

Mit der ließ er sich nun immerfort und allenthalb hören, in der Nähe des Pförtnerhauses am Abend, am frühen Morgen oder auch mitten in der Nacht; oder an dieser und jener Stelle im Park, wenn er das Mädchen auf seiner Plattform im Baum wußte, – hörbar für Keinen als für sie, denn ihr Vater, der Achtundachtzigjährige, horchte, soweit er es wahrnahm, nicht danach hin, und die Ohren des Direktors waren fern. – Lene Stelling war unmusikalisch, verstand daher weder, was er voll Anspielung blies, noch die häufigen falschen Noten, hatte aber ihr kleines Behagen an der einfältigen Süßigkeit des Getöns, das ihr etwa so vorkommen mochte, als ob der Kuckuck in diesem Jahr sich verfrüht und ein paar Noten mehr mitgebracht habe. Unmusikalisch, wie sie war, brauchte sie es nur wahrzunehmen, wenn sie Lust hatte. 192

Was aber die schöne und sanfte Erscheinung Benedikts nicht fertiggebracht hatte, das gelang der umdüsterten und verwegnen des Cesare: Eindruck auf das Mädchen zu machen, sie leise zu verwirren. Allerdings bewirkte ihre Angst vor allen Erscheinungen des Lebens, deren Grenzenlosigkeit im Verhältnis zu ihrer Unwissenheit stand, daß die Empfindungen, die Cesare erregte, wiederum mehr furchtsamer und schauriger Natur waren. Sie erschrak vor ihm, wo sie ihn sah; ihr graute vor ihm, wenn er in ihre Vorstellungen eindrang; Schrecken und Grauen nicht ganz ohne Süße; aber gemäß dem Zwang ihres hundertfach gebundenen Wesens, hütete sie sich bald vor solchen Gefühlen und verlegte sie, die sich nicht abweisen ließen, in ihre nächtlichen Träume, wo sie sich nun in tausend unkenntlichen Bildern und Vermummungen erschreckender und beglückender Art darstellten. Was sie in Wahrheit geträumt hatte, wußte sie nie, da die Träume symbolisch verfahren, indem sie hundertmal hundert Dinge für hundert andere setzen, – und wie hätte sie wissen können, daß, wenn sie in Märchen-Erinnerung träumte, in das riesenhafte und gräßliche Nest eines ungeheuren Kuckucks geraubt zu sein, magisch hineingebannt und verurteilt, endlose Gewinde aus Myrte zu flechten, – daß dies Cesare bedeutete, und Okarina, und heimliche Hochzeits-Begierden.

10

Mit dem Höhepunkt des Maimonds war die Anstalt in Aufruhr. Gezänk, Betrunkenheit – Cesare schmuggelte 193 Branntwein ein aus der Stadt –, Schlägereien überall, und endlich, da Klagen aus der Stadt einliefen über liederlich gefertigte, über verspätet gelieferte oder gar nicht gelieferte Arbeit, wurde der derzeitige Direktor aufmerksam, – ein kleiner, sehr frommer Mann von der Art, die niemals und nirgend ein Böses zu argwöhnen wagt und dann aufs Tiefste entsetzt und empört ist über das Unheil. Die Taubstummen hatten sich wohl gehütet, ihre gefährlichen und pathetischen Gestikulationen vor seinen Fenstern aufzuführen, und so lärmvoll waren sie schließlich nicht, daß aus den Häusern oder dem Park etwas zu seinen Ohren dringen konnte. Ebenfalls waren sie so schlau gewesen, die von der Anstalt geforderte Arbeit ordnungsmäßig zu leisten. Der Direktor würde auch jetzt nichts Schädliches gefunden haben, wenn es ihm nicht einige von den Weibern gesteckt hätten, wo die Ursache zu suchen sei, wobei sie nicht unterließen, die Lene zwar leise, aber deutlich zu verdächtigen.

Der Direktor, entsetzt und entrüstet, sprach mit Lene Stelling ein Wort, unter dem das empfindsame und unbewußte Geschöpf in Tränen der Scham zerfloß, da er in ihr Bewußtsein hineinzwang, was zu ahnen selbst sie sich inbrünstig gesträubt hatte. Sie wußte Nichts; wußte um so weniger, als sie den Park seit langem kaum noch betreten hatte, denn ein Schlagfluß hatte, im Herbst des Vorjahrs, ihren Vater zur linken Hälfte gelähmt; sie konnte den sowohl geistig wie leiblich zusammengesunkenen, bald neunzigjährigen Mann selten allein lassen und mußte, so sehr er mit 194 Eigensinn darauf bestand, sein Pförtner-Recht auszuüben, mit der Magd abwechseln in der Überwachung, da er häufig entschlief. – Schrecken, Scham und Schmerz brachten das willenlose und sonst Alles in sich behaltende Mädchen so weit, daß sie tränend beteuerte, nie mehr einen Fuß in die unheimliche Straße der Stummen setzen zu wollen, und daß sie andrerseits bekannte, wie sehr ihr an dem Plätzchen im Baum gelegen war.

Die Sache endete damit, daß den Taubstummen das Betreten des Parks von nun an nur zu bestimmten Stunden am Tage gestattet wurde. Lene Stelling würde ihn, wenn überhaupt, nur auf dem Wege hinter den Häusern herum betreten.

Wie mit einem Schlage war danach die Anstalt beruhigt. Zum Teil mochte dies daran liegen, daß der Frühling seine Höhe überschritten hatte und im Begriff war, dem Sommer Platz zu machen. Außerdem wirkte das Verbot und vor allem die Unsichtbarkeit der Anstifterin Lene. Der ganze Aufruhr war im Grunde nur deshalb so hoch gestiegen, weil die Kräfte dazu einmal entfesselt waren, weil es keinen Einhalt gab von innen heraus, und weil, wie so häufig auch hier, der Anlaß vergessen wurde über der Sache selbst. Nun war die kleine Gemeinde, ähnlich den kleinen Revolutionären in deutschen Kleinstädten von anno 48, zufrieden, ihren Aufruhr gehabt zu haben; sie sahen die Nutzlosigkeit des Ganzen ein, kehrten, froh, ihre Triebe einmal entbunden zu haben, zwar ungesättigt aber erfrischt zu ihrer Arbeit zurück, – und nur selten noch 195 einmal konnte die Lene von ihrem Kammerfenster aus am Zaun, der den Pförtner-Garten gegen den Park abschloß, eine Gestalt auftauchen sehn, die flehend die Arme nach ihr streckte oder verzweifelte Finger-Reden hielt. So konnte sie auch nun erst wahrhaft erkennen, daß wirklich sie gemeint war. Was übrig blieb am Ende, wahrnehmbar für das Mädchen, war die Okarina.

Cesare und Benedikt, diese Beiden, des Einen Blumen-, des Anderen Töne-Sprache, blieben übrig aus der Schar der Liebhaber, den Sommer über fortfahrend, ihre mehr oder minder zartgestimmten Huldigungen darzubringen. Im Hochsommer aber begann Cesare zudringlicher zu werden, ebenso wie er sich unter den Anstalts-Genossen immer ungebärdiger benahm, ihnen die Ruhe störte mit Aufwiegelungen wegen zu schlechten Essens, zu geringer Entlohnung, und ihnen finstere Einbildungen in den Kopf setzte, allgemein revolutionärer Art, oder wegen Unterdrückung und Beeinträchtigung ihrer Menschen-Rechte, – unsinnige Dinge, auf die nur die Jüngsten hinhörten. – Alsbald überschritt er das Verbot, drang in den Park ein, wenn er das Hingehen des Mädchens von einem Hinterfenster aus belauert hatte, redete sie an und versuchte einmal sogar, sie festzuhalten. Das wäre ihm gelungen, da Lene Stelling Widerstand nicht kannte, aber der Gärtner kam dazwischen, Cesare ließ los, das Mädchen entfloh zitternd.

Sie betrat nun den Park nicht mehr; aber eines Abends in ihr Zimmer kommend, sah sie von unten Cesares Kopf über der Fensterbank erscheinen; er legte die Hände darauf 196 und wollte sich emporziehn – die Brüstung außen befand sich in Mannshöhe –, Lene Stelling entwich durch die noch ungeschlossene Tür, selber kaum wissend wie. Noch einige Male sah sie ihn so, hielt aber von nun an das Fenster, dann auch die Vorhänge geschlossen. Die Okarina wehklagte halbe Nächte lang, Lene Stelling sah häßliche Dinge in ihren Träumen, jedoch sie schlief immerhin. – Wiederum von einer andern Seite fand sie sich verfolgt, da Benedikt, der Gärtner, den das geschlossene Fenster verhinderte, Blumen hineinzustellen, seine Schüchternheit überwand und sie ihr an das Vorderfenster brachte, wobei er es gar wagte, sie ihr selber hineinzureichen. Lene lächelte weich und willenlos und verfiel auf Nichts, was sich dagegen tun ließ. Nur mehr und mehr fühlte sie sich von Gewalten umstrickt, träumte schreckensvoller des Nachts und um so mehr, je mehr sie vor sich selber zu verheimlichen hatte am Tag.

11

Eines Nachts im August dieses Jahres, der, wie der Frühling, sich überreichlich verschwendete mit Blumen, Sonne, Früchten, Sternen und Gewittern, erwachte der alte Stelling vom wilden Geschrei einer männlichen Stimme, in dem er alsbald die Worte: Haltet! Haltet! und: Hülfe! dann: Einbrecher! Halunke! Kanaille! unterscheiden konnte, was in Pausen vielleicht eine Minute währte. Dann wurde das Schreien schwächer, die Stimme schien zu ersticken, plötzlich war Stille. 197

Der bewegungslose Greis in seinem Bett horchte umsonst in die Nacht, aber das Schweigen dauerte an. Auch im Zimmer der Magd über ihm regte sich nicht ein Laut. So lag er, verstört, bis zum Morgen. Endlich hörte er die Geräusche der aufstehenden Magd, hörte sie herunterkommen, in der Küche hantieren, und erst nach wiederholtem Rufen seiner schwächlichen Stimme kam sie herein, angstvoll aussehend.

Wo seine Tochter bleibe? Ob sie nichts gehört habe in der Nacht? – Das halbwüchsige Geschöpf brach augenblicks in Ströme von Tränen aus. Vom Fräulein Lene wußte sie nichts; das Geschrei hatte sie gehört, vor Angst aber nicht gewagt, sich nur zu bewegen, und wußte also nichts Näheres. Über den Flur zu Lenes Kammer geschickt, kam sie mit dem Bescheid, daß die Tür wie immer verschlossen, daß auf ihr Klopfen und Rufen keine Antwort gekommen sei.

Darauf in höchster Angst, schickte der Gelähmte das Mädchen zum Direktor. Der kam und war so vernünftig, den Anstalts-Schlosser mitzubringen. Die Tür zum Zimmer der Lene ward aufgebrochen und das Mädchen bewußtlos, aber lebend und scheinbar unverletzt in ihrem Bette gefunden. Der Vorhang des Fensters lag, herabgerissen wie es schien, auf den Dielen; von den Scheiben staken nur Splitter in den Rahmen; ein Stuhl lag umgestürzt.

Als der Direktor aus dem Fenster blickte, machte er die Entdeckung, daß die Beete darunter in wüster Weise zerstampft, die Blumen zerrissen waren. Ein Rosenstock lag, mit den Wurzeln ausgerissen, am Boden. 198

Schon aber kamen Leute aus der Anstalt gelaufen mit entsetzten Gesichtern und Gebärden: Cesare sitze oben auf der Pumpe hinter den Häusern, ein blutiges Tuch um den Kopf geschlungen, und spiele auf der Okarina. – Das Blasen war allerdings fortwährend zu hören gewesen, doch hatte der Einzige, dem es vernehmbar war, der Direktor, bislang nicht darauf geachtet.

Und schon kamen Andre mit einer neuen Schauer-Nachricht: die beiden Mitbewohner im Hause Cesares lagen in ihren Betten, tot, fürchterlich zugerichtet von Messerstichen.

Der alte Stelling verstand von den in Zeichen geredeten Botschaften zum Glücke Nichts. Dann kam der Arzt, brachte Lene Stelling zum Bewußtsein und stellte fest, daß eine Gewalttat an ihr geschehen war. Sie lag starr, nur schaudernd zuweilen, und gab keinen Laut von sich.

Der Direktor wagte es, ehe noch die Polizei zur Stelle war, aus dem, der Pumpe gegenüberliegenden Fenster nach Cesare zu sehn. Er saß dort, mit den Beinen angeklammert wie ein Gorilla, blöd lächelnd und nickend, die Okarina mit beiden Händen am Munde, der er in unaufhörlicher Wiederholung die Töne des Liedes: Guter Mond, du gehst so stille! friedfertig entlockte. Gegen die Polizisten wehrte er sich später nicht und ging mit, nur verlangend, daß ihm gestattet wurde, zu blasen.

So war denn Alles geklärt bis auf die Spuren des Kampfes unter dem Fenster – auch Blut klebte an der Mauer – und das unverständliche Geschrei in der Nacht, da es keinen stimmbegabten Menschen in der Anstalt gab und ein 199 Eindringling doch nur in Absichten gekommen sein konnte, die den Rufen: Haltet! und: Einbrecher! zuwiderliefen. Aber auch dies Dunkel erhellte sich im Lauf des Tages. Benedikt wurde vermißt; es wurde überall, auch im Park, nach ihm gesucht, und da fand man ihn denn. Er hing von einem Ast über die Plattform herab, mit den Füßen in Höhe des Tisches, der am Boden lag, also wohl von ihm umgestoßen war, als er sich fallen ließ. Daneben stand ein halb mit Wasser gefülltes Glas; um den Strauß Nelken, der sich zweifellos darin befunden hatte, waren beide Hände des Toten gekrampft, so daß er in betender Haltung begriffen schien. Als er herunter genommen war, zeigte es sich, daß er eine blutige, aber leichte Schramme am Kopf hatte, von einem Fall, nicht von einer Waffe, und einen gleichfalls wenig gefährlichen Stich in der linken Achsel.

Da aber, wer durch einen Nerven-Schrecken die Sprache verlor, sie durch plötzliche Anspannung aller Nerven wiedergewinnen kann, so war dem Direktor nun klar, wer das Geschrei in der Nacht ausgestoßen hatte, und wessen Füße mit dabei gewesen waren, die Beete unter dem Fenster zu zerstampfen.

12

Lene Stelling gab nicht eine Silbe heraus. Im Hause ging und schaltete sie nach einiger Zeit wie zuvor, und war nur, soweit das möglich, noch stiller geworden. Bald zeigten sich die Merkmale der Schwangerschaft. Der alte Stelling war noch am Leben, als sie gebar. Sie brachte, 200 fast ohne Beschwerde, eine abscheuliche Mißgeburt hervor, die das Leben keine zwei Stunden behielt. Wenige Tage danach nahm sie, scheinbar unverändert, ihren Platz am Bett des Greises wieder ein, der von dem Letzten nicht viel mehr begriffen hatte und nun langsam aus seiner Dämmerung und ganz gelinde in das Dunkel hinabsank.

An Lene aber zeigte sich bald eine Wandlung. Sie verlor die Beziehungen zur Umwelt; sie wurde gegen Anrede taub; sie hörte nach und nach auf zu sprechen. Sie versank nach innen, in die Stille, von der Niemand weiß, und so könnte es wohl scheinen, als ob die Lebenden der Anstalt, die sie mißachtet, und die Toten, die sie nicht begriffen hatte, sich an ihr rächten, da sie, was Jene waren, am Ende wurde.

Die Seele, die in ihr blieb, drang in die Augen ein und war dort noch eine Zeit wie ein entfärbter Falter zu sehn. Nicht lange, so kam er frei.

 


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