Albrecht Schaeffer
Das Prisma
Albrecht Schaeffer

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Triumph der Empfindsamkeit

1

Der Abend war so weich.

O viel zu weich für ein empfindendes Herz, – und war dies ohnehin schon von Gefühlen vergiftet, zerrissen von Qualen, erschöpft von Schwermütigkeit, so mußte dieser Abend ihm den Rest geben. Nur vielleicht – das blieb noch zu hoffen – war die Bewegung des Gnadenstoßes, der dann herauszucken würde, so unversehens und lässig leicht, daß das Herz vom Leben sich löste, lautlos, wie vom Zweige ein Tropfen, wie vom Auge die überquellende Träne. Vorläufig jedoch war es schaurig, in dieser hülflosen Weichheit des Abends das Bevorstehen, immer wieder das Herauswollen einer Bewegung ahnen zu müssen, die so sein würde wie das Sichauflegen einer bittenden Hand auf die Schulter Dessen, der nur einer solchen Berührung noch bedarf, um anseinanderzubrechen in Ströme von Tränen.

Herr Eginhart empfand dieses, in der Terrassen-Tür stehend, unwissend, wie er dahin gekommen. Und während seine Augen sich schon beschleierten, ließ er sie, halb in Unbewußtheit, in einem schmerzlichen Zustand von Traumhaftigkeit 204 umhergehn, indem er sich wie ein Delinquent vorkam, der in den letzten Augenblicken die tausend Dinge des süßen Lebens aufrüttelt zu einer brennenden, ungeheuren Deutlichkeit, ohne sie doch – o Qual! – in sich hineinreißen zu können, um sie mitzunehmen in die unendliche Öde.

Was Herr Eginhart sah, war dies. Die zehn Schritt breite und dreißig lange granitne Fläche der Terrasse, in deren Mitte er stand, und die ihrerseits das mittlere Drittel des langhingestreckten Hauses einnahm. Sie hatte eine Brüstung von Säulchen, aber in der Mitte führte ein Dutzend flacher Stufen in den Garten hinab, der übrigens nur ein schmaler Streif zwischen dem Haus und dem Ufer des Kanals war; zu ihm leitete von der Treppe aus ein rund überwölbter Laubengang hin, jetzt, an diesem April-Abend noch kahl, ein Gerüst eiserner Rippen und Bogen, der aber im Sommer die schönen blaßblauen Dolden der Glyzinen tragen würde und noch später im Jahr die rosigen und die blutroten Büschel der rankenden Scharlach-Rose. Zu beiden Seiten des Lauben-Ganges befanden sich Rasenstreifen, von hellen Wegen gerändert, mit Fliederbüschen, Rosenstöcken und einigen mächtigen Platanen, die nun kahl ihre schwärzlichen Arme aus den fahlhellen Stämmen reckten. Jenseits war, unverändert wie immer, die Waldung der Föhren aufgestellt, nackte graue, geregelte Stämme unter schwarzen Kronen, nicht sämtlich ganz gerade, so daß es in ritterlich leichter Haltung eine Heerfront von Jünglingen schien. Weit hinter ihnen zurück, ein blauer Schleier der Sehnsucht, lagerten sich die Rücken der 205 deutschen Berge, die, nach Herrn Eginharts unmaßgeblichem Empfinden, der Stätte, die seine Füße trug, den Namen gegeben hatten: Beausigne oder der schöne Wink.

Die von ihnen gleitenden Augen senkten sich für eine Weile auf die Fläche des stillen Kanals, die goldblank und helle war von der Klarheit des Abend-Himmels, während die Tiefe darunter verdunkelt lag von der Spiegelung des Ufers und des Waldes. Dann weitergleitend zur Linken, lösten sie sich hinsinkend auf in die nicht mehr blendenden Feuer des Abendrots, in das – die Sonne selber mußte dort eben versunken sein – die Wasserfläche, ganz gerade, hineingelegt war wie ein breites Schwert, heilig erglänzend unter der ruhigen, hoch oben in die Reinheit ewiger Stille des Äthers verbrennenden Lohe. Über ihr schwebten zart goldene Ränder, kleine Bogen, Seelen von Wolken.

Ach, und war es denn dies – waren das Bäume nur, Wasser und himmlische Farben, woraus so namenlose Erschütterung drohte? Oder warf diese Luft, die angefüllt schien mit einem unablässigen Gewimmel unsichtbarer Genien, welche lächelten, als ob sie weinten, und die andrangen, unaufhörlich andrangen gegen das wehrlos gewordene Herz? Die es selber schon besetzt hatten wie die dichten Perlen des Abend-Taus eine Frucht? Nein, die schon auf und ab stiegen mit Schluchzen und Gesang in allen Schächten der Brust, daß keine Grenze mehr war zwischen draußen und drinnen – und schon – da schleifte es die Seele hin, einen Schleier der Ohnmacht durch Stämme, über Fluten, über Ebenen der Dämmerung in den brennenden Schmelz 206 jener Röte, endlich, endlich an der göttlichen Abend-Wange zu vergehn . . .

Am Ende der Terrasse aber, schwärzlich erscheinend vor dem Sonnen-Untergang, saß stille der Knabe an seinem Tisch, er, der geliebte Sohn der Geliebten: klein, emsig seinen vom Mittag ihm aufgesparten Rest der süßen Speise löffelnd. Jedoch legte er in diesem Augenblicke sein Werkzeug hin, putzte sich artig den Mund mit der um seinen Hals geknoteten Serviette, die er dabei abzog, und wandte sich langsam her.

Es war Guy, der achtjährige Sohn des Herrn von Beausigne, weiland Obersten im vierten Regiment Jäger zu Pferde des Kaisers und Platzkommandanten von Altenrepen, und seiner Gattin Jakobe, geb. Runge. Herr Eginhart, mit Vornamen Heinrich, war der Hofmeister. Das Jahr 1822. Die Mutter des Knaben zählte siebenundzwanzig Jahre, der Vater dreißig mehr, Herr Eginhart fünfundzwanzig. Dies die sehr nüchterne Aufstellung einer Rechnung, deren Summe für Herrn Eginhart ergab: unendliche Leiden.

Immerhin gelang es ihm jetzt, seiner Kraftlosigkeit einen Stoß zu geben und zum Tische zu gehen, wobei er die Augen des Kindes vermied; doch sah er sie in dem kleinen, noch weichen Gesicht, das noch die ganze Zartheit und Frische einer Blüte hatte: braun, rund, mit dem Hauche eines Lächelns und einer Bitte, während der Knabe die Hand zum Munde führte und hustete. Doch war das nur Zartgefühl, und sein Lehrer zwang sich, ihn anzusehn 207 und zu fragen, ob er fertig sei. Der Knabe nickte, blickte fragend, erhielt sein »Du darfst aufstehn!« legte darauf seine Serviette zusammen und erhob sich. Eginhart sah ihn dann an der Brüstung stehn, die nur sein Kopf überragte, mit dem Spitzen-Kragen aus blauem Samt, dem Hals und Kopf sehr zierlich entwuchsen, und in einer Haltung von unbewußter, aber den Liebenden verzaubernder Anmut, so daß der die Augen nicht abwenden konnte von dem Umriß des Knaben-Kopfes vor dem schönen Abendrot, das eine Linie von Goldflimmer um ihn zog. Die Stille umher war so vollkommen wie die Reinheit und Leere des Himmels.

O Gott, dachte der Hofmeister, wenn jetzt nur keine Nachtigall schlägt! – in völliger Verkennung der Gewohnheiten dieses Vogels, den auch im Elsaß um diese Jahreszeit noch Niemand hatte singen hören. Doch war der Tag warm und gelind wie ein Maitag gewesen; erst jetzt bildeten erste kleine Wirbel von Kühle sich in der Luft, auftauchend wie die schwärzlichen Flugkörper der großen Schnaken, die vom Wasser heraufkamen, einzelne, steigend und sinkend, fast lautlos und anscheinend nur beschäftigt mit sich.

O mein Knabe, dachte oder besser sang Herr Eginhart, wie liebe ich dich! Liebe ich dich schon um deinetwillen allein, weil du ein so unschuldiges, zartes und herzliches Geschöpf bist! Wie muß ich dich doppelt lieben als das Kind deiner Mutter! Und ach, wie mit dreifacher Liebe könnte ich dich umschlingen, wenn – Er errötete abbrechend heiß und schloß, die Zähne zusammenbeißend: Abschied! o Abschied! 208

Der Knabe änderte seine Haltung und sagte, den Kopf leicht wendend, so daß überraschend sein Profil erschien, lieblich mit der gewölbten Knabenstirn, der Weichheit des flüchtigen Kinns und der kleinen Stumpfheit der Nase: »Ob sie heut wieder kommen werden?«

In seiner Stimme war ein verräterisches Zittern gewesen, und an einer Bewegung seines Kinns konnte Eginhart erkennen, daß er mannhaft etwas verbiß. Dabei ertappte er sich auf einer Lieblosigkeit, wie er es nannte, da er die Frage des Knaben nicht gleich richtig bezog – nämlich auf die Rehe, sondern auf die abwesenden Eltern.

»Komm, Guy!« sagte er schwach und verführend, und das Unglück brach los, denn der Knabe wandte sich mit niedergeschlagenen Augen, um sich in der nächsten Sekunde an die Brust des Freundes zu werfen, aufgelöst in Tränen und Jammer, den er auf deutsch und französisch hervorschluchzte. Merkwürdigerweise war dies jedoch eine Erleichterung für den Hofmeister, der den Ausbruch unter beruhigendem Streicheln der braunen Haare und gütigem Zureden sich austoben ließ.

Der Grund aber davon war der, daß die Eltern Guys am Tage vorher mehrere Stunden weit über Land zu einer Hochzeit gefahren waren und erst am nächsten Mittag zurückkehren würden; daß heute sein, Guys, Namenstag war; und daß sein Vater ihn infolge eines abscheulichen Einfalls, nämlich aus Erziehungs-Gründen, zu Hause gelassen hatte. – Nun, bloß Eginhart verstand die ganze Unseligkeit des Kindes, und daß es nichts nutzen konnte, 209 wenn die Mutter vor der Abreise heimlich erlaubt hatte, auch diesen Tag als Festtag anzusehn, mit Festtags-Speisen und -Kleidung und fast keinem Unterricht, so daß er mit dem nächsten, der die Geschenke bringen und auch feiertäglich sein sollte, zwei Namenstage haben würde. Ach Gott, sie tat, was sie tun konnte, aber ein Kind rechnet anders und meint, daß ein Namenstag, der vorüber, nicht mehr nachzuholen, und einer, der nicht so ist, wie Namenstage einmal sind, schlechterdings keiner ist, also daß er, Guy, einfach keinen hatte statt zwei – wie er Herrn Eginhart jetzt mit Weinen und Geschrei und Anklagen auseinandersetzte. Trotzdem war auch dies – und Herr Eginhart wußte es wohl – nicht der wahre Grund seines Schmerzes; der steckte vielmehr in den Jammerworten, den immer wiederholten: »Sie hatten mich doch auch eingeladen!« welche nämlich bedeuteten, daß jene Freunde des Ehepaars Beausigne außer der Tochter, die sie eben verheirateten, noch eine Reihe von Kindern hatten, darunter das jüngste Hortense war, neun Jahre alt, ganz blond, ein Engel in blauer Schärpe.

Das, ja, das verstand Herr Eginhart nur, und der Knabe wußte, ahnte, wie sehr er und nur hier verstanden wurde. Nun aber, wenn seine hülflose Ausgelassenheit in Verzweiflung auch zumindest so tief war wie die seines Trösters, infolge der kindischen Aussichtslosigkeit in der Verstrickung des Leidens, so erlöste ihn doch der Ausbruch, konnte er vergessen hinterdrein und dazu auf einem guten Knie sitzen, seine Augen trocknen an einer verstehenden Freundes-Brust, 210 – während in ihr, schmerzhaft wie Eisen in einer Wunde, der Gedanke sich bewegte, dessen erste Hälfte nur ausgesprochen wurde: »Du wirst sie ein andermal sehn, mein Junge . . .« Die andere, verschluckte, dagegen lautete: »und ich sie niemals mehr.«

War es gewiß? Ja, war es nun wirklich gewiß? Lange, lange geplant, immer wieder hinausgeschoben, wurde es nun ausgeführt? Und wie denn? Das Fortgehn, ja, allerdings, das war beschlossen. Aber welcher Weg, welcher von beiden? Der zu dem Blau jener Berge, zu gehen mit Füßen, zu leiden im verödeten Herzen? – Oder der andere, weit über alle Gebirge hinaus, eine geschwinde Bahn, die alle Füße weit hinter sich läßt, aber die Ode des Herzens auf einmal stillt? – Ja, der wars; der würde es sein! So ruhig fühlte Herr Eginhart die Unabänderlichkeit, daß er mit einer Gelassenheit, die ihn beinah mit Stolz erfüllte, die Hand erhob und mit der Aufforderung: »Sieh!« auf den blitzend hellen Stern deutete, Venus, über der dunklen, erlöschenden Glut der Himmels-Rose. Der Stern war vergoldet vom blassen Gold, in dem er schwebte. Der Knabe sah, an die Brust des Lehrers gelehnt, gedankenvoll hin und sagte bald darauf halblaut, liebebedürftig in deutscher Sprache und in das kindliche Du fallend: »Erzähl was von Sternen!«

Eginhart erzählte von dem Abendstern in zweierlei Rede, nämlich innerlich etwa so, daß er beschrieb, wie seine scheidende Seele, ein leiser Wirbel der Lüfte nur, dort hinaufziehn würde, für Pulsschlags Dauer den Glanz des heitern 211 Gestirns verschleiernd wie die Träne ein überglückliches Auge, und hinein, dort ewig zu sein, leidlos, lustlos, bei ähnlich getrösteten Wesen, hinunterschauend von den Rosen-Gebirgen auf die düstere Welt, auf das Haus und die Fenster und den Garten und auf Eine, die aufsah mit nassen Augen, nun erst wissend, daß sie verlassen war. Und diese Rede war nicht an den Knaben gerichtet. Die andere im Gegenteil, die gesprochene, geriet ihm dergestalt rationalistisch und aufklärend, über jenen Planeten von ungefährer Größe der Erde, und mit weiteren Angaben über seine Entfernung, Sonnen-Nähe, Dicke, annäherndes Gewicht und annoch ein wenig feurigen Zustand: daß es den Zuhörer alsbald langweilte; daß er gähnte oder artig sein Gähnen im Munde zerdrückte, was immer einen unangenehm bittern Geschmack gab, zumal nach dem Weinen; und daß er vor allem die innere Abwesenheit des Sprechenden empfand und sich, erst innerlich selber, dann auch äußerlich von ihm löste, abwandte und dastand zwischen dem Tisch und Herrn Eginharts schwarz bekleideten Knien, eine Hand noch zögernd auf dem einen, mit dem Zeigefinger der andern um den Tellerrand kreisend hin und her.

Eine Weile war Schweigen. Herr Eginhart hatte die Hand des Knaben ergriffen und drückte sie leise und liebkosend. Indem hob der Junge den Kopf und sagte, vor sich hinblickend, sonderbarerweise: »Mit der Mama wäre es viel schöner . . .«, was nahezu feindlich klang; und nach einer Weile, einen Eginhart rätselhaft erscheinenden Blick in seine Augen heftend, langsam und in der Sprache seines Vaters: 212

»Oh je sais, monsieur Eginhart, que vous êtes envieux!«

»Was sagst du? Neidisch? Aber wie kommst du darauf?« fragte der Hofmeister, seltsam betroffen, im Innersten verwirrt und nur mit Mühe ein Erröten zurückhaltend, während der Junge sich wieder an ihn drängte, beschämt lachend und schnurrend: »Ach, ich weiß nicht!« »Meinst du,« fragte sein Lehrer aufatmend, »auf dich?« Er nickte heftig, und Eginhart staunte. Was wußte der Junge, und was war ihm dies Wissen? Wie hatte er gesagt? ›Envieux‹, aber nicht ›jaloux‹.

Der Junge unterweil hatte das längst vergessen, zupfte seinen Lehrer jetzt am Zeug und flüsterte, über die Brüstung spähend: »Ich glaube, da sind sie!«

Plötzlich, indem Eginhart aufstand, sprang in seinem Gehörgang eine Tür, die über einem Wasserfall gelegen schien, so toste und rauschte es herein; und gleichzeitig verdunkelten Auges mutete ihn, was um ihn her vorging, immer traumhafter an. Er verstand nicht, was für ein Knaben-Gesicht das war, das mit geheimnisvoller Freude ihm winkte und sich abwandte; der Garten-Streif, der abendlich glühende Kanal, die ganze Gegend kam ihm unbekannt vor; der Himmel in seiner hellen Leere atmete Beklommenheit aus, und die weiche Hand der Luft, alle Adern voll Frühling und Ängsten, preßte sich so um sein Herz, daß es austriefte von Tränen. Dabei aber war er ruhig und gewahrte auch deutlich jenseits zwischen der Ufer-Böschung und den Stämmen des Waldes das schon dämmerige 213 Gelände kleiner, flacher Erhebungen, mit Brombeersträuchern und jungem Unterholz, und jetzt die erste der lichten Fell-Gestalten, die zauberhaft leicht, schlank und tierhaft aus den Stämmen hervortrat in ihrer sichern und vorsichtigen Kühnheit, nickenden Halses im sanften Dahingehn; und die nun stand, den Kopf erhoben zur Seite gedreht, lange herüberzuäugen, dieweil hinter ihr die zweite erschien, herankommend, um plötzlich zu stehn wie die erste. Nach einer Weile waren ihre Köpfe verschwunden, sie grasten ruhig, die Rücken bewegten sich undeutlich.

Ach diese schutzlose Sanftmut! – Und Eginhart, mit einer krampfhaften letzten Anstrengung sich rettend, verglich sein Herz einer vollen, gefüllten Urne, welche die Hand eines ruhenden Gottes in lässiger Schräge auf dem Brunnenrand hielt: einen Fingerbreit schräger, und sie wird überlaufen. – Aber was kümmerts den Gott!

Ein Schrei tönte entfernt, und aufblickend aus seiner Vision sah Eginhart in dem weißlichen Nordhimmel über dem Wald ein fliegendes seltsames Dreieck schwärzlicher Körper, die aneinander hingen; sie flatterten so einen Augenblick, dann war das Dreieck verschwunden. Eginhart starrte lange nach in die völlig leere Unendlichkeit mit einem Empfinden, als würde jetzt Alles unhaltbar in ihm, alle Nähte glühend von Not, und als sei nur ein Augenblick noch, eh sie springen müßten, dies Meer von Liebe und Leiden auszuströmen in das grenzenlos Unbewegte des Luftraums.

So wurde es dunkler, während zugleich die noch hellen Gestalten der Tiere drüben sich auf unglaubwürdige Weise 214 vermehrten. Sie gingen nun hin und her, als sei ihnen Alles bekannt, überall reckten sich die schmalen Hälse, bewegte sich das anmutige Stelzen der schlanken Läufe, erschienen dunklere schattenhaft, und da die Menge immer noch zuzunehmen schien und immer rätselhafter das Gebaren dieser leichten Geschöpfe, die sich so bewegten, als wäre nur ihresgleichen unter dem Himmel in der sinkenden Nacht, unerschöpflich ihre Zahl, die hinter ihnen den ganzen Wald erfüllte und vielleicht, wenn es erst finster war, die ganze Erde, fremde Wesen, sinnlos leichtere, Tiere – seufzte es in dem Schauenden auf: Ach, ist dies Jenseits, und dies sind Seelen, Verwandelte in die Anmut gleichmütiger Tiere, die nicht mehr nach drüben schaun und uns nicht verstehn? –

Er schrak erst auf, da hinter ihm etwas klirrte, und sah den alten Diener, der den Abend-Tisch abräumte. Darauf nahm er sich zusammen, mahnte den Knaben zum Schlafengehn und versprach ihm, noch zum Nachtgebet zu ihm zu kommen. Guy seufzte tief, da er sich trennen mußte, schmiegte sich dann an seinen Lehrer und bat ihn schüchtern, am nächsten Abend im Kahn mit ihm überzusetzen und die Tiere aus der Nähe zu belauschen.

»Wenn die Eltern es erlauben, Guy . . .«

»Papa – ach – morgen sind sie ja wieder da!« seufzte Guy, uneingedenk, daß er eben zuvor beweint hatte, was er nun wünschte, denn so war der Papa nicht, daß er das erlaubte. Oder vielleicht – als Namenstags-Geschenk . . .

Eginhart sah die kleine, brave Gestalt bescheiden durch die Dämmerung über die Terrasse gehn und in der hohen 215 Glastür verschwinden. Er wartete noch, bis der Diener sein Tragbrett beladen, das Tafeltuch abgeschüttelt und zusammengelegt hatte, und folgte auch dieser Gestalt in schwarzer Kleidung mit den Augen bis zur Treppe und hinunter, wo sie verschwand. Noch lauschte er dem Knirschen der unsichtbaren Füße im Kiese des Gartenwegs. Dann war Schweigen, und der Einsame sagte sich, daß er nun, wo der Diener sich zum Gesinde-Haus entfernt hatte, mit dem Knaben im Schlößchen allein sei.

Auf einmal fand er sich dann im Lauben-Gang, dann am Wasser, dann halb liegend auf dem Ufer, jedes in Rucken ohne Übergang. Sein Kopf brannte nun und schmerzte fast, wenn er ihn bewegte. Die Stille war jetzt so, daß er den Atem anhielt. Es war dunkler, nur der Himmel oben noch hell; im Westen lag ein brandiger roter Streif, leisestes Gelb darüber, und in dem Pfirsich-Grünen des Äthers blitzte der weiße Stern, als ob er triumphierte.

Nicht morgen, dachte Eginhart, in dieser Nacht noch werde ich den Kahn losmachen und – Indem kamen die, im Dunkel und hinter Gesträuch nicht mehr sichtbaren Rehe ihm ins Gedächtnis. Er sah sie erschrecken vor einem lauten Knall und rudelweise entflüchten. Ich werde, murmelte er, warten müssen bis gegen Morgen, wenn sie wieder fort sind . . .

Da schwebte dicht vor ihm ein Antlitz, durchsichtig, weiß, neben dem braune und schwere große Locken hingen. Die Brauen waren auf der Erde das Schönste, unbeschreiblich feine, flache Bögen, lang ausgezogen und an den Enden 216 zarteste Wimpel, leise angehoben wie von dem Hauch eines himmlischen Wesens. Die Erscheinung schwand mit dem festen Anschaun der dunklen Augen, aus deren Tiefe ein immer gleicher, schön ruhiger Ernst durch ein glänzendes Fenster-Kristall von Heiterkeit blickte, und der blühende Mund war stets munter . . .

Jakobe! murmelte er, o Jakobe! glaubte im Fernen ihr tiefes glückliches Lachen zu hören, und jetzt, unbezweifelbar, ihren Ruf, aus dem Kahn, übers Wasser: »Der Hund! seht doch nur! Eginhart, Jules! voyez donc le chien!« und da zog der schwarze Hunds-Rücken im Wasser, der Kopf nickte hastig im Takt, zwei blitzende Furchen-Bänder rollten von den Lefzen aus durch die Flut, und da war der lange Kahn mit der Weißgekleideten, die lachend und sich schüttelnd ihre Locken mit beiden Händen an den Schläfen festdrückte. – Warum, fragte Eginhart schmerzenvoll, dies Bild? Ach, immer war Heiterkeit, wo sie erschien! Oder, erwiderte er sich, bin ich dieser Hund, der auf sie zuschwamm? Ich – er verfinsterte sich – ruderte damals mit Macht, und der Hund strebte umsonst nach . . .

Damit aber war er einer entsetzlichen Gleichgültigkeit auf einmal und so gänzlich anheimgefallen, daß er Minuten später sich nur mühsam und mit Ekel aufraffen konnte, davonzugehn. – Er verharrte dann noch eine Weile im Anblick des Hauses, dessen Wände die letzte Helle des Tages gefaßt hielten, das er mit einem bitteren Abschieds-Empfinden zum letzten Male umschlang: die einstöckige Front vieler und hoher Fenster, zwischen korinthischen 217 Pilastern, lustig und leicht, welche die Balustrade mit Urnen und Putten-Gestalten des flachen Daches trugen. In der Mitte, schön still, hob sich die sanfte Fruchtform der grünen Kuppel, auf der schwarz und scharf im Umriß Cupido triumphierte mit Bogen und abwärts gerichtetem Pfeil. – Ja, dies war ein Schmetterlings-Haus oder Tempel der Eroten, in den er sich herüberverirrt hatte aus Deutschland.

Danach schaffte er sich gleichsam fort wie geschleppt, den Lauben-Gang durch, über die Terrasse, durch die dahinterliegende kleine Halle und endlich die vielfenstrige Galerie von weißen Türen zwischen Gemälden hinunter, die sich an der Vorderseite des Hauses erstreckte. In einer der Fenster-Nischen stand ein brennender Leuchter, und gegenüber lag die Tür, die Eginhart zu öffnen hatte.

Der Knabe lag schon im Bett, dunkler scheinend von Augen und Haar in der fast weißen geblümten Umgebung der Möbel und Wände und seines Bettes, in einem Buch lesend, von dem er nun die Augen blitzend und listig erhob, indem er rief: »Er lebt! er lebt! sehen Sie wohl, er ist nicht gestorben, ich wußt es doch!«

»Hast du doch nachgesehen, du Schlingel?« Eginhart setzte sich, herzlich zu Güte und Zärtlichkeit gerührt, auf das schmale Bett, der Junge drückte sich mit dem offenen Buch – Campes ›Robinson‹ wars, er las ihn im Deutschen, das er von klein auf so gut wie die Sprache des Vaters gelernt hatte – an ihn und zeigte ihm lachend und verschmitzt, wie er es gemacht habe, hinter dem gelesenen ersten Teil ganz schnell einmal das Titelblatt des zweiten 218 umzuschlagen, wo er genau die Worte erhaschte, die er nun herbuchstabierte: »– kehr – te das Bewußt – sein – ihm lang – sam – zurück. Voyez? C'est assez! ça vaut dire tout!« Worauf er fortfuhr, Deutsch und Französisch seiner unausrottbaren Gewohnheit nach durcheinander plappernd – als ob er sich gleich an der einen Sprache von der andern erholen müßte –, zu erzählen, daß er es sich gleich gedacht habe. Er tat nun großartig. Der Vater hätte das nur so gesagt, daß er gestorben sei, Robinson, um Angst zu machen, aber – warum denn da gestanden hätte: Ende des ersten Teils? Und der Rest des Buches sei noch mal so dick gewesen wie das schon Gelesene. »Das konnte man ja riechen!« sagte er, und dann, mit einem glücklichen Seufzer sich zurückwerfend: »Ich bin ja so froh, daß er am Leben geblieben ist! Ja, so irrt man sich,« setzte er altklug hinzu. »Man irrt sich? Wieso?«

Der Knabe suchte erst nach der Antwort und sprach verständig: »Ach – ich meine, das ist so wie abends beim Einschlafen. Dann denkt man doch: nun ist vielleicht Alles aus, – und auf einmal – da wacht man auf, und da fängt Alles wieder von vorn an.«

Meinst du das? dachte Eginhart tiefer gerührt und küßte den Jungen, der zwar ungern still hielt, plötzlich im Bett kniete und die Absicht äußerte, zu beten. Eginhart übermannte es beim Anblick der knienden kleinen weißen Gestalt, der das lange Haar nach vorn fiel um das auf die zusammengelegten Hände gesenkte Gesicht. Das war in einem Augenblick still und feierlich geworden, während nur 219 die Lippen sich murmelnd bewegten und zuweilen die Worte: »dieu«, »père« und »mère« hörbar wurden. »Et le bon - le très bon«, verbesserte er sich mit einem Hauch von Lächeln, »monsieur Eginhart«, womit er schloß, sich still hinlegte und nur noch wartete auf das Verlöschen des Lichts.

2

Erst als er die Tür seines Zimmers hinter sich zudrückte, ward Eginhart eingedenk, daß er über der Empfindens-Fülle des Augenblickes die Zukunft, daß er vergessen hatte: dies war das Letzte für ihn von dem angebeteten Knaben, diese liebliche, ach diese schaurige Darstellung eines betenden Grab-Engels. Das durchfuhr ihn nun, daß er wankte und ihm, da er fast taumelte, die Hand mit dem brennenden Leuchter sank. Indem erschreckte ihn jählings der Anblick eines leuchtertragenden Geistes im kleinen Spiegel über der Kommode, aus dessen bleichen, verwirrten Zügen, undeutlich unter langen und blonden Haaren, zwei Augen flammten, so dunkel im Kerzenlicht, wie er die eigentlich hell-, ja mattfarbenen niemals gesehen zu haben glaubte. – Hastig sich sammelnd, nicht mehr rückwärts denkend, machte er auf dem, den Fenstern gegenüber vor einem breiten Kanapee stehenden Tisch für den Leuchter Platz zwischen Büchern und Schriften und begann ohne Pause eine fiebrische Geschäftigkeit. Er holte zuerst die Pistole aus dem Koffer, lud sie so umständlich, wie das nötig war, und legte sie auf die Kommode. Aus der Tischlade danach nahm er zwei schon vorbereitete Päckchen, mit Band 220 umwunden, die Briefe schienen, schlug sie in ein Papier, versiegelte es und adressierte. Schließlich faltete er einen neuen Briefbogen, ergriff die Feder, schrieb Ort und Datum und das Wort: ›Mein‹. Danach hielt er inne, warf die Feder hin, den Kopf in die Hände, stöhnte, als ob er zerbrochen würde, und blieb so lange Zeit, nur ächzend, wimmernd von Weile zu Weile: »Ich liebe dich! Ich kann nicht! Ich liebe dich!« – Ein Strom von Zähren, jählings hervorschießend, schwemmte ihn weg.

Als er aufblickte, kam er sich erleichtert, ja so befreit, so voll Odems und Festigkeit vor, daß er gewiß war, bereits überstanden zu haben. Der gelöste Schmerz, durch alle Bitterkeit und Härte geläutert, glänzte ihm wieder in der Feuervergoldung der Liebe, ein Kleinod, das er sich nun kühn genug glaubte ans ewige Gestade hinüberzuretten. Also getröstet griff er mit einem heiligen Gefühl, als seis ein Gebetbuch, nach dem oben liegenden kleinen Band auf dem Bücherstoß, blätterte und las das zweistrophige Gedicht, dessen letzte lautet:

O vergiß es, vergieb! gleich dem Gewölke dort
Vor dem friedlichen Mond, geh ich dahin, und du
    Ruhst und glänzest in deiner
        Schöne wieder, du süßes Licht!

Danach aus dem Klagegesang jenes mit dem Schluß:

Wenn das Fest sich beseelt und Fluten der Liebe sich regen,
    Und vom Himmel getränkt rauscht der lebendige Strom,
Wenn es drunten ertönt und ihre Schätze die Nacht zollt,
    Und aus Bächen herauf glänzt das begrabene Gold. 221

Endlich und zum Abschluß noch aus demselben Gesange das Stück, dessen Eingang lautet: ›Ja, es frommet auch nicht, ihr Todesgötter!‹ und dessen Ausgang:

Festzeit hab ich nicht, doch möcht ich die Locke bekränzen;
    Bin ich allein denn nicht? aber ein Freundliches muß
Fernher nahe mir sein, und lächeln muß ich und staunen,
    Wie so selig doch auch mitten im Leide mir ist.

Hiernach, die Röte eines Triumphs auf den Wangen und glänzender Augen ergriff er die Feder, tauchte ein, ergänzte zu dem geschriebenen ›Mein‹: Freund, und fuhr fort:

Eben, hättest Du gesehen, was ich sah, da ich am Spiegel unversehens hinstreifend mich angestarrt fand von den Augen eines Geistes, herüberschauend, sinnlos, aus einer anderen Welt, Du würdest – ach, was würdest Du tun? – Zu spät, es ist Alles zu spät, von hundert unseligen Briefen dieser der letzte, von tausend unseligen Atemzügen – der letzte wird bald getan sein, und wir sind getrennt.

Getrennt? Werden wirs sein? Noch donnert das zürnende Wort mir im Ohr, aber ein lauterer Donner übertönts und verschlingts. Das ist das Getöse dieser furchtbaren Welt, an der ich stehe, wo sie in den Abgrund hinunterschießt, ein riesiger Katarakt, in dem Alles zusammendröhnt, was hier um mich ist: dies Licht, diese Wände, scheinbar so still, das Schweigen dieses ewigen Abends, Garten, Haus und der Fluß, selber die funkelnden Sterne drauß in der Frühlings-Nacht, sie, die Knospen, die alterslosen, am Blütenbaum der Unsterblichkeit: sie alle sind mir ein unerträglicher Donner im Ohr, aber bald, bald wird er 222 verhallt und ich über die Brücke gegangen sein in das Schweigen.

Du weinst, Freund? weine nicht! Was ist zu beklagen? Elend und gebrochener Wille und alle Entstellungen der Seele sind bejammernswert. Uns aber ziemt der stille Jubel der Edlen, die des erfochtenen Sieges sich freun, und ich, ich habe gesiegt. Gesiegt habe ich über das Leben, so daß mir fast wohl ist. Ja, ich fühle – o könntest Du mit mir ganz es fühlen wie ich! –, daß ich, wund wie ich bin an meiner ganzen Seele, meine Seele eine einzige, endlos triefende Wunde: daß sie nur ein dürftig Gebrest an einem ewigen, am Leib eines Gottes ist, dessen Glückseligkeit eben ihrer bedarf, um sich ganz zu empfinden. Und nie – o fühltest Dus mit! – nie habe ich es wie jetzt gewußt: daß, mögen wir Wunden sein, wir sterblichen Seelen, wir es nur sind an der geheimnisvollen Gestalt einer unendlich sich bildenden Vollkommenheit. In sie eingehn, Freund, in sie eingehn dürfen! Tilge die Wunde, was wird geschehn? Eine Blüte bricht aus an der Stelle, wo sie blutete, und in ihr schließt das Vollkommene sich zu. Stirb, kannst Du sterben, Du stirbst nicht umsonst, ach, daß ein Jeder es könnte, heilig sterben, sich läutern aus dem niederziehenden Leid, aus dem Staube der elenden Jahre, aus dieser Pilgerschaft, aus diesem unbehülflichen Klumpen Ton, aus dessen gewaltiger Zähe, dennoch gewaltiger sich schüttelnd die Seele hinausstürzt, ihrer Vollkommenheit an die glühende Brust.

Und wir werden uns wiedersehn! Nicht also klagen, mein Freund! Laß uns größer sein! Laß uns nicht schwatzen, 223 wo zu reden ist. Laß uns singen! Zu den Schwänen der Wolken, zu den Gold-Adlern der Gestirne die feurigen Blicke erhoben, laß sie noch einmal uns preisen, sie, die unvergänglichen Vorbilder tönenden Wandels. Und dann still. Flügel verhallender Hymnen über unser Grab, so schlafen wir gut.

Ach, aber noch einmal muß die scheidende Seele sich wenden. Wenn sie mich liebte, Freund, wenn sie mich liebte! Wie anders wäre es dann! Zu hoffen zwar Nichts, aber dort, wo nun die gebrochene Liebe den Fittich im Staube schleift, dort würde in Flügel gepanzert ein reisiger Herold stehn, am Mund die Posaune des Lebens. Hätt ich es wagen sollen? Gestehn? Wie? Verwirrung streun, blendende Asche ins reinste Aug, Verstörung in diese Heiterkeit lächelnder Lippen, munterer Augen, deren Beschreibung zu hören Du niemals ermüdetest? Zu verungleichen den sichern geraden Schlag dieses Herzens, die Festigkeit dieses Gangs, – ja abzulenken vielleicht die Magnetnadel, herum sie zu reißen zu mir, herein in das Herz: da sieh deinen Pol!?– Ach, Freund, ach!

Und genug. Du erhältst mit diesem ein versiegeltes Paket mit den wenigen meiner Gedichte, die Du noch nicht besitzest, und mit Deinen Briefen, auf denen Du einen von andrer Hand finden wirst. Ihn erhielt ich vor wenigen Tagen von unserm Freund Eberhard. Wenn Du ihn gelesen hast, wirst Du wissen, was – wenn es dessen bedurfte – meinen Entschluß kräftigen konnte. Er enthält die erbetenen Nachrichten über den jetzigen Aufenthalt und 224 Zustand des Unsterblichen, unseres Dichters, Hölderlins, und Du, wenn Du denn mußt, vergieße alle die Tränen über dies teure, entseelte Haupt, die Du mir nicht vergießen sollst. Sieh, ist es nicht besser mit mir? Gleichen Schicksals wie ich, er überlebte, sieh, ich verstehs nicht, er konnt es, aber mich dünkt – ein Frevel wars, und der düstere Genius des Tods hob die nicht ergriffene Hand und traf – weh mir! – sie schlug und traf des strahlenden Genius Haupt. Götter, Götter, so nun verdüstert, so auf ewig zerbrochen, entstellt, herumzuwanken, zum Kinde zurückgeschaffen, ein Mißgeschöpf in der seelenvollern Natur – nein, dies Vorbild vor Augen – ich ertrags nicht, Freund!

Zwar ihn liebte sie, und glaube mir dies: Es ist eingehängt unsre locker gebrechliche Erde in ein sehr festes Netz, geflochten aus tausendmal tausend sich kreuzenden Bändern der Gemeinschaft, Bändern immer von Zwein, von allen Liebenden, ein göttlich, himmlisches Netz unzerreißbarer Haltbarkeit. Ich aber, Freund, ich hielt kein solches Band, oder leer wehte meines im Raum. Hätt es gehalten, hätte sie es gefaßt – o niemals, niemals hätt ich es fallen lassen, hätt ichs zerschnitten.

So leb wohl! Des Teuren gedenkt michs, seiner, den sie liebten, seine Götter, und –

Doch war er nicht der Erste, den sie drauf
Hinab in sinnenlose Nacht gestoßen
Vom Gipfel ihres gütigen Vertrauns . . .

Nicht mir dies, nicht mir! Der es nicht wagt, sich ihm zu vergleichen, auch hierin nicht! Aber bitten werd ich – mit225 dem letzten Odem soll mir die Bitte verhauchen! –, daß es meinem Schatten vergönnt sein möge hinzugehn, wo in Blumen er freundlich sitzt, am Ufer seines Flusses, und für einen Augenblick nur die Hand kühl auf die brennende Stirne zu legen, von einem glücklicheren Bruder Zeichen und Gruß, daß er aufblicke und begehre zu folgen.

Und Du? – Wenn, lang ehe Du diesen Zeilen empfingst, stehend in Deinem Garten, den Zweig zu Deinen Häupten Du seltsam erschauern sahst, Blüten regnen sahest auf Dich, – später wirft Du wissen, wessen Hand es war, die ihn bewegte, ein letztes zerflatterndes Opfer niederzustreun. In Liebe unsterblich

Dein

Heinrich.

Eginhart hatte aber diesen Brief noch kaum beendet und gefaltet, so befand er sich, seines Überschwangs an Gefühlen entledigt, gleichsam entseelt, in einem solchen Zustand des Überdrusses, der Mattigkeit und des Frostes, daß die Hand mit dem Siegellack über der Flamme bebte. Er siegelte mit Not, warf Rock, Weste und Schuh ab und kroch in sein Bett, frostklappernd, wo er mit starr in die Lichter gerichteten Augen, brennend und schaudernd lag, bis sie zufielen. Er erwachte aus gräßlichen Angst-Träumen mit einem Schrei, sah die Kerzen fast abgebrannt, und daß es ein Uhr in der Nacht war. Darauf dachte er stumpf, es sei Zeit, erhob sich, kleidete sich flüchtig an, schlotternd vor Müdheit und Kälte, ergriff seine Waffe, löschte die Kerzen und verließ das Zimmer. 226

Eine Minute später auf der Terrasse, stand er gegenüber der nächtlichen Himmelswandung voller Sterne, sehnte sich kraftlos da hinauf und brachte die Macht kaum auf, seine Waffe zu heben, in seiner Seele voll Wut über die Hinterlist seines Leibes, der sich seinem Willen entzog im Augenblick, wo er ihn ein letztes Mal brauchte; freilich nur, um sich seiner zu entledigen.

Plötzlich von einem siedenden Gedanken durchschossen, tappte er, ihn ausführend, ohne ihn mehr zu denken, an der Hauswand hinunter, bis wo er eben hinter der Brüstung des Terrassen-Endes ein Fenster offen stehn sah, in das sich hineinzuschwingen ihm trotz seiner Schlaffheit gelang. In dem Raum stand er dann, wartend, bis das Dunkel vor seinen Augen dämmrig zu werden begann und das bleiche Weiß, das er sah, sich zerlegte und trennte zu Wänden, Schränken, Sesseln, einer Spiegel-Toilette und dem geisterhaft hangenden Flor-Gewölke des Himmelbetts. Fast verwirrt hätte ihn noch der feine Atem von Maiblumen, der die Nähe eines weiblichen Leibes beängstigend hervorbrachte. Dann aber, in einer kalten, obwohl zitternden Ruhigkeit, legte er die Kleider, nicht wie zuvor, sondern gänzlich ab, deckte das Bett auf und legte sich, die Schultern, die Wange vor allem, aufstöhnend und mit einer wollüstigen Empfindung des Aufgenommenwerdens, in die unendliche Weichheit und Kühle der Kissen drückend, hinein, wiederum seufzend unter der Vorstellung, nicht er sei es, der sich lege, sondern sie, doch er sei zugegen. – Womit denn Eginhart, der Verwirrte, sich Wonnen und 227 einer Handlung überließ, die er, um nur einen Schritt weiter vom Tode fern, seinen Gedanken, ja selber seinen Träumen meilenfern gehalten hätte. – Dem Bette entströmte aber solch eine schläfernde Magie, daß er nur noch murmelte: »Bis zum Morgengraun!« in der Beschließung, dann zu erwachen; hierauf entschlief er.

3

Unterdessen rollte die große Reisekalesche mit dem Ehepaar Beausigne bereits seit dem Nachmittag zwischen den Pappeln der schönen napoleonischen Landstraßen durch das Elsaß hin. Der Grund hiervon war der, daß Herr von Beausigne am Vormittag und am Nachmittag wiederum von einem stärkeren Unwohlsein befallen war und – zwar nicht eben verständlicher, um so mehr aber willkommenerweise für seine Frau – heimzukehren verlangt hatte. Jetzt, das heißt um die Zeit, wo der arme Eginhart in ihrem Bett Linderung seiner Schmerzen gefunden hatte, war die, in mehr als einer Beziehung ahnungslose Jakobe nach einer Stunde etwas durchrüttelten Schlafs in ihrer Ecke erwacht, hatte sich nach einigem Gähnen und Frösteln in der Fülle ihrer Muffen, Pelze und Decken angewärmt und begann sich recht behaglich zu fühlen im Verfolgen der Pappel-Schatten an ihrer Wegseite, deren jeder, vom Schein der Wagenlaterne unendlich weit in das nächtliche Feld hinausgeschoben, sich langsam wie der einsame Fittich einer Mühle herumdrehte und verschwand, worauf es sich reizvoll auf den nächsten warten ließ. In jedem 228 Zwischenraum dagegen übte über den undeutlich finsteren Massen entfernter Bäume oder Wäldchen oder Dächer der sternvolle Himmel seine anziehende Kraft auf das seelenvolle Auge, erfreulich darstellend die seltsam willkürliche und gleichwohl so bestimmte Ordnung seiner Bild-Figuren im Getümmel des Zahllosen. – Die Kalesche rumpelte nicht unangenehm, und wieviel Behaglichkeit war in dem eintönigen Getrappel der sechzehn Hufe!

Pflichtgetreu, wie die mütterliche Jakobe beschaffen war, dachte sie nach einem prüfenden Blick auf den in seiner Ecke anscheinend fest schlafenden Herrn Beausigne – seine kleine Gestalt war unter Decken vergraben – zunächst an ihren Sohn, indem sie sich sein schlaftrunkenes Erwachen und Aufjubeln unter ihren weckenden Küssen glanzvoll ausmalte; danach erst an Eginhart, nicht ohne den Hauch eines Seufzers, der ihr jedoch als Tribut alles Dessen genügen mußte, was es hier etwa Kummervolles geben mochte, – falls es das gab.

Denn, wenn die Jakobe auch eine heitre Natur und ein sichrer Charakter, gestärkt durch allerlei Lebens-Gefahr und -Erfahrung war: derer einer, die es lieben, klare Aussicht und reinliche Einsicht zu haben, so ging es doch auch bei ihr nicht ganz ab ohne einige Verschleierung, und wie jeder Sterbliche hatte sie ihr Blaubarts-Zimmer, in dem sie – nicht eben Leichen, aber alles Das aufzustapeln pflegte, was mit störendem Gepolter in die nicht eben mühlos geebnete Bahn ihres Daseins hätte stürzen können. Das aber hieß in diesem Fall, daß sie unendlich zufrieden war mit 229 eben dem Zustand, der für den Geliebten im Gegenteil nichts bedeutete als eine unendliche Qual. Daß sie dies nicht bedachte, nicht ahnte, erriet, das ergab nun freilich ebensoviel Schuld, wie sie gerade durch ihr Nichterraten, Nichtahnen und -bedenken zu vermeiden hoffte. Aber so geht es eben. Mildernd immerhin – wenn es der Milderung bedurfte – wirkte der Umstand, daß Herr Eginhart keine Seele zugrunde zu richten hatte als die eigne; sie aber hatte den Guy.

Die Ursache, die eigentliche allerdings für diese Verschuldung der Jakobe – und es war eine, denn stand nicht der Unselige schon im Begriff, an die Brücke über den äußersten Abgrund die Mine zu legen? –, diese Ursache war eine ebenso bestimmte wie Frau Jakobe selber verborgene, wenn sie auch eben jetzt, pendelnd am leichten Silberseil der Gedanken zwischen dem neben ihr schlafenden Gatten und dem gleichfalls schlafend vorgestellten Geliebten – Luna gleichsam über zwei Endymionen –: wieder und wieder hinschwebte über den Ort und den Vorgang in ihrer Erinnerung, der eben jene Ursache gebildet hatte. Sie wußte selbst nicht, wie das so kam; Kühle der Frühlings-Nacht, durch das Fenster hereinströmende zarte Frische aus dem Dunkel der neu aufgequollenen Wiesen, der gestern erst umgepflügten Äcker, mochte Teil daran haben; allein sobald sie nur Eginharts Antlitz, die sehr lichte Flamme, dunkler aufleuchten sah in dem Augenblick, wo sie wieder vor ihn trat; sie lächeln mußte im Vorgefühl und seufzen im Empfinden des Hingerissenwerdens an seine Brust: 230 dann erschien ihr hinter dem väterlichen Hause im nächtlichen Garten die Geißblatt-Laube; konnte sie den Duft jener Nacht atmen, hinter den entfernten erleuchteten Fenstern des Hauses die tanzenden Schatten vorüberfliehn sehn und in Pausen die Diskantstimmen der Violinen und der Klarinette hören, – wo es denn in ihrer Erinnerung nicht recht weiterging.

Das aber war es gewesen, daß sie, Jakobe, in ihrem Leben einmal die Besinnung verloren hatte; daß sie dadurch ihr Leben aus seiner Bahn und mit einer solchen Richtung ins Schlimme gestoßen hatte, daß sie die volle ihr verliehene Kraft brauchen und ausfalten mußte, um die Bahn nur wieder zu sichern; alle innere Sonnenhaftigkeit ihres Wesens zum stärksten Strahlen versammeln mußte, um die immer wieder andringenden finstern Mächte in die Flucht zu schlagen. Und daß sie sich auf das gewisseste hütete vor Allem, was nur aus fernester Ferne die Annäherung einer ähnlichen Selbstverlierung anzeigte. Sie hatte in jener Nacht die Besinnung verloren und war dem, im wachen Zustand unzählige Male von ihr abgewiesenen Liebhaber, Herrn von Beausigne, anheimgefallen, – halb seiner Gewalt, halb der verführenden Not ihrer Jugend und der Betäubung durch ihre Sinne erliegend. Die Folge war die von ihm geplante, die Heirat, die vier Wochen später vollzogen wurde; und das war im Herbst des Jahres 1812 gewesen.

Die Jakobe wich schlimmen Erinnerungen nicht aus, um so weniger, je innerlich sichrer sie sich glaubte, indem sie dieselben als eine Art bittrer aber vernünftiger Arzenei 231 ansah, die auch dem gesunden Leib keinen Schaden tun und etwa dienen könne zur Vorverhütung, so wie ein bekannter König der Geschichte durch alltäglichen Genuß von Giften sich unempfindlich machte gegen ein mördrisches. – Damals aber war mancherlei zusammengetroffen, um die neun Monate von Jakobes Fall bis zur Geburt des Knaben in ein endlos scheinendes Moor zu verwandeln; Moor der Schwermut, Trostlosigkeit, Aussichtslosigkeit, in dem sie jeden Tag zu versinken meinte. Jakobe war eine rechtschaffene Deutsche, ihr Vater ein Gelehrter, ein Mann vom Schlag eines Fichte immerhin, wiewohl ohne dessen Größe vor der Welt und Genialität, jedoch von Charakter. Dem versetzte also die Jakobe zunächst einen Hieb, der ihn zittern machte in Wurzel und Wipfel, den der Alte auch nicht mehr verwand, wenn auch die Freimütigkeit, mit der sie dem aufrechten Mann ein Geständnis ablegte, sie Beide für die kurze Zeit, wo sie sich noch hatten, inniger zusammenfügte. – Noch mehr dagegen als der alte Runge ein Deutscher, der unter französischen Gewalttaten grade genug gelitten hatte, war der Oberst Beausigne ein Franzose von prägnant französischer Beschaffenheit.

Obwohl Elsässer, mit Namen eigentlich Schaffe – Gnade seines Kaisers hatte ihm die Annahme des mütterlichen Namens erlaubt, als er Beausigne von ihr erbte –, hatte er das Äußere und den Charakter der Bewohner der Provence, der seine Großmutter entstammte. Er war klein, hager, gelb, schwarzhaarig und -äugig; hatte trotz seiner fünfzig Jahre und Angekränkeltseins auf fast allen Organen 232 den auf Federn gesetzten Gang, die ganze zierliche Geschmeidigkeit jenes Volkes und seine inneren Eigenschaften, wie gesagt, fast in der Übertreibung des Deutlichen, und das heißt, soweit sie günstig waren, nicht ohne die längsten Schatten. Er hatte unter den Fahnen der Republik und des Kaisers in Spanien, Italien und Ägypten gefochten; ein offener Beinschaden, der nicht heilen wollte, nötigte ihn endlich auf den Ruheposten eines Platzkommandanten, wo ihn der Kaiser leider vergaß und sein Ehrgeiz dabei war, ihn lebendigen Leibes zu fressen. Er war ritterlich und höflich, jedoch war ers freiwillig und gern nur gegen Landsleute; seine Kühnheit, Abenteuerlust und Ruhmsucht warfen die langen Schatten der Grausamkeit, Rücksichtslosigkeit und Willkürlichkeit. Er war launisch wie ein Weib, cholerisch wie ein Kater, eitel wie ein Hahn, aber weder prahlerisch noch geschwätzig. Im Allerinnersten war er von solcher Weichheit, daß der Anblick eines elenden Kindes seine Augen von Tränen, seine Hände von Edelmut überströmen lassen konnte, – weshalb er übrigens diesen Punkt seines Wesens hinter Schanzen und Schroffen zu verbergen und wütend zu leugnen pflegte, wenn man sich ihm nähern wollte. Sein Witz endlich, seine Schlagfertigkeit zeigten sich aufs äußerste angriffslustig, am liebsten beißend, und jeder Korb, den er von Jakobe bekam, mußte ein Maulkorb sein. Schließlich biß er den letzten doch durch und triumphierte wie sein Kaiser über Preußen.

Einen Monat später, wie gesagt, wurde, unbegreiflich für die Verwandtschaft, für die ganze Stadt, weil der Kaiser 233 längst auf der Flucht war, die Hochzeit in Stille vollzogen; das Ehepaar reiste ab, der Oberst war noch ritterlich genug, seine Frau zu einer Schwägerin im Elsaß nahe dem Landgut Beausigne zu bringen, worauf er sich Zutritt beim Kaiser und ein Regiment verschaffte. Jakobe sah ihn nicht wieder bis 1816, wo er mit dem Verlust eines kleinen Fingers und aller Hoffnungen fürs Leben zu ihr zurückkehrte.

Jakobe wußte im Augenblick den jetzt schwärzer sich ballenden Erinnerungen sich nicht anders zu entziehn, als indem sie den Blick auf den Schlafenden heftete, prüfend, aber bereitwillig, ja verlangend, etwas zu gewahren, das nicht abstieß. Ihr lange an die Dunkelheit gewöhntes Auge konnte über der bis ans Kinn hochgeschobenen Pelzdecke sein eingesunkenes Gesicht deutlich erkennen; deutlich das eckige Kinn, die Falten in der Haut um den eingepreßten Mund, die erschreckend hager herausspringende Nase und die gleichsam verwitterten Lider voll Runzeln über den schwarzen Strichen der Wimpern. Der Eindruck des Totenhaften, den sie fröstelnd von diesem empfing, wurde erhöht durch die wächserne Bleiche der Stirn, die unendlich und schaurig vereinsamt aussah, in dieser Vereinsamkeit das Majestätische eines von Wolken erleichterten Gipfels seltsam verbindend mit Regungen von Mitleid. So hatte hier, während die übrigen Züge hartnäckig widerstanden, der Schlaf die Oberhand behalten und zeigte ruhig Alles, was edel war. Doch nahm die Jakobe jetzt weniger dies als das Erschreckende wahr, und sie tastete, um sich zu 234 überzeugen, daß wirklich Leben in ihm war, unter der Häufung der Decken, die sie von ihm trennte, nach seiner Hand, vorsichtig, um ihn nicht aufzuwecken; allein diese Hand war nirgend zu finden. Da er bald darauf die Lippen bewegte, wandte sie sich hastig und befriedigt ab.

Die Pferde zogen im Schritt; draußen in der Nacht glitt eben die weiße Wand eines Hauses heran, ein Wachthund begann ein heiseres Gebelfer, und nun, während der langsamen Fahrt durch das weit auseinandergezogene Dorf, hing sich Gebell an Gebell, heiser, wütend, aufgeregt, in das für Augenblicke einmal ein großer Hund seine tiefe und ruhig mahnende Stimme mischte, bis Jakobe endlich, nachdem der letzte Lärm hinter ihr verhallt war, wieder in der Stille aus einem weit fernen Dorf die noch zankende Blaffstimme eines von den andern gestörten Köters vernahm. Dann rauschte die Bremse, die Pferde trabten an, Beausigne war nahe, munterer wirrte sich das Getrappel der Hufe.

Ja, damals, als der Oberst, befürchtet mehr als erhofft, zurückkehrte, damals war Guy bereits ein braver kleiner Kerl, der herumlief und unsäglich plapperte in einer Sprache, die noch weder deutsch noch französisch lautete. War der zauberkräftige kleine Gnom, der alle guten und bösen Lebens-Geister seiner Mutter, so riesig sie waren im Verhältnis zu seiner Winzigkeit, am Fädchen hatte; und sie war der gesunde, allezeit muntere, aller Umgebung erfreuliche Mensch inneren Ernstes, der sie in solchem Maß vorher nicht gewesen war, und der sie von jetzt an blieb. 235

Allerdings: auch der magische Gnom hatte nur den lenkenden, nicht den wirkenden Zauber, so wie es zu sein pflegt in irdischen Zuständen; ihn, der ohnmächtig bleibt ohne Eigenwillen und Eigenleistung Des, der ihn besitzt. Und Guy, dieser Kleine, er war nicht den ganzen Tag vorhanden; er schlief im Anfang noch seine sechzehn und lange noch seine zwölf Stunden redlich und kümmerte sich nicht um die Welt und ihre mütterliche Sonne. Beausigne dagegen war unaufhörlich anwesend, schlief beinahe gar nicht und wurde unerträglicher von Jahr zu Jahr. Ein Kind, ein Mädchen, starb kaum geboren in der bösesten Zeit; Jakobe konnte noch jetzt, seiner gedenkend, des Gedankens sich nicht erwehren, daß sie es umgebracht habe mit Feindschaft und schlimmen Wünschen in der Zeit des Tragens. – Mit dem Müßiggang, mit seiner inneren Leere, mit dem Einsturz aller Zukunfts-Bauten, mit der um sich fressenden Verödung, wuchernden Vergälltheit, Überdrüssigkeit seiner selbst, Vergrämtheit um das Los des Kaisers, fiel der Körper des Obersten, lautlos, wie eine faule Frucht, einer Krankheit nach der anderen anheim. Alsbald ging, was liebenswürdig an ihm gewesen war, in Rauch auf, dem nur selten noch ein so bitter verbrannt riechendes Witzwort entfuhr, wie Jakobe es noch heut auf der Hochzeit zu hören bekommen hatte, wo er sich nämlich im Kreise der Gäste einem Fremden vorstellte mit den Worten »Malsigne!« zur Erklärung hinzufügend: de la mort. Eine Wendung übrigens, die er in andren Formen seit langem abzuwandeln nicht müde wurde. In den 236 letzten Jahren zumeist an einen Stuhl, wo nicht an sein Bett gefesselt, beschäftigte er sich mit der Lektüre von Allem, was über den Kaiser im Druck erschien, oder mit dem Verfolgen seiner vielen Feldzüge auf der Karte, endlich in einer Art fixer Idee, herauszubekommen, wo eigentlich der Fehler steckte, der den Untergang hervorgerufen hatte, und er fand ihn jede Woche wo anders.

Als aber das Leben neben dem bissigen kranken alten Hetzrüden auch für die atmende und klingende Seele Jakobes kaum noch erträglich geworden war, da hatte ihr eine Reise mit Guy zu dem sterbenden Vater – seit der überstürzten Abreise im Jahre 12 hatte sie ihn nur noch in Briefen gehabt – zwei gute und nützliche Dinge eingebracht. Das eine war der Schmerz, seine läuternde Beschaffenheit und kräftigende Wirkung für einen Charakter von Jakobes Maß; das andere war der Mensch, den sie am Sterbebette des Greises fand, sein Famulus, Eginhart.

Jakobe wurde es heiß in ihren Pelzen. Sie erzitterte von Erinnerungen, zitterte über die Langsamkeit der wieder im Schritt ziehenden müden Pferde, zitterte im Wiedererkennen gewisser Umrisse im Finstern, die sie Beausigne ganz nahe vermuten ließen. Eginhart, ah! Und wie fuhren nun wieder allmorgendlich die Sonnen, tönend und hufeschmetternd in die brausenden Lüfte hinauf, und wie duftete wieder die Welt! Geister wieder wurden beschworen, weissagende Stimmen gehört, vom azurnen Zelte der Ewigkeit löste, senkte sich ein strahlendes Stück, mit Händen zu greifen 237 und himmlisch zu finden. Alte Zeit tauchte auf, verjüngt in lebendigen Gestalten, die Geschichte der Völker entfaltete sich mit Küsten und Urwäldern vor den triumphierenden Augen der Entdecker – wie schaukelten trunken die Karavellen der Sehnsucht weg in den strahlenden Archipel! Und es gab wieder Goethe und Jean Paul, Kant und Fichte, Homer und Pindar und Hölderlin. Und im Garten am glatten Kanal blühte es wieder, hatte das Buschwerk wieder seinen Gesang, die Rose ihre Farbe, die Ferne ihre Sehnsucht, Gebirge ihr Blau, die Wolke ihr Licht und der Himmel sein väterlich gütiges Antlitz. Alle Sterne blickten wieder auf ihr Herz, und im gewaltigen Kreuzfeuer der unsterblichen Augen reifte ihr wieder die Seele, und der Baum des Lebens trug. Ein Kahn zog über Flächen von Nacht und Gold, süßer im Ziehn spürte ihr Herz das gespannte Band der Gemeinschaft und den Druck seines Knotens, schmerzlich, aber süß. Ach, ach, im Lauben-Gang der Glyzinien zu stehn, allein, aber zehn Schritte weit hinter sich den Andern zu wissen, dem Nichts entging, – nicht die Weiße des Kleides und nicht der Goldflaum im Nacken dort, wo er in die Spitze des tiefen Ausschnitts verschwand; und nicht die Schmalheit und Haltung des Fußes, nicht die dünnen Kreuzbänder aus schwarzem Samt über dem weißen Spann, nicht das Zittern des Kleidsaums, das Zittern der Hand, das Zittern nicht der blaßblauen Dolde an ihrem Gezweig, die schwesterlich neben der braunen Locke am Halse herabgeglitten war bis zum Busen, dessen unwahrnehmbar leises Steigen und Sinken jenes Auge 238 maß an der sichtbar machenden Dolde. – Ganz nah seinen Gott auf der Erde zu haben, hieß es das nicht, wenn man in jeder Minute, auf jedem Weg, bei jeglichem Tun, bei Nacht und bei Tage, ob in Gegenwart oder Abwesenheit, sich angeblickt wußte von dem flammenden Augenpaar eines gottvollen Jünglings, in dessen feurigem Innern Einer stand, dem es eine Lust war, zu brennen, so daß er sang? – Sinn hatte wieder das Dasein, Lachen und Weinen Sinn, tieferen, schöneren Sinn selbst die Spiele des Knaben und die reifenwerfende Unschuld des Sommer-Tags. Ja, seinen Sinn selbst die schwer erträgliche Bürde des Gallsüchtigen, die so gut war wie die Gewichte an den Schenkeln des Münchhausenschen Läufers, die verhüteten, daß er sich vor Schnelligkeit in Dampf auflöste; oder den Sinn der zweiten Schale an der Wage – so erklärte es sich wenigstens Jakobe –, ohne welche nämlich überhaupt nicht gewogen werden kann.

So jedenfalls war Gleichgewicht, und in diesem Augenblick jedenfalls, wo Jakobe, zugleich mit dem Erwachen ihres Mannes, im Nachtfinster unter den Sternen ein trüberes Licht erkannte, das nur aus dem Fenster des Nachtwächters im Dorf Beausigne kommen konnte, war in ihrem Herzen keinerlei Sehnsucht. Eine Sternschnuppe beschrieb stürzend eine lange und feurige Bahn, – aber siehe da, Jakobe erhaschte, kindisch jagend in Gedanken nach einem Wünschbaren, durchaus keinen Wunsch, außer zuletzt und beinahe beschämt den ziemlich kleinen: der Geliebte möchte noch wach sein über seinen Büchern und 239 gleich jetzt erstaunend vor ihr erscheinen, anstatt erst andern Morgens beim Frühstück.

4

Immerhin gab es doch einiges Erschrecken für die feste Jakobe, als sie den Geliebten eher und auch anderswo und auf andere Weise fand, als sie gehofft hatte, nämlich, als sie mit einem Licht ihr Schlafzimmer betrat – nicht eben leise, aber auch nicht laut genug – in ihrem eigenen Bett, wo er unerwecklich schlief, heiß und gerötet vom Schlaf wie sonst ihr Knabe, den Kopf– auch hierin nicht unähnlich – in einer glücklichen Haltung im Nacken, in seiner ganzen lichten Blondheit, in jeder Beziehung ein Mensch, dem es eben da zu liegen gebührt, wo er lag.

Jakobes erster Gedanke – Gedanke bleibend wie immer die ersten – war Flucht. Der zweite, mit dem der noch Fassungslosen der Mantel entsank, der ihrer einen Schulter noch umlag, ein Stoßgebet, der Kutscher möge den Koffer nicht in dies, sondern ins nebengelegene Zimmer des Obersten schaffen, und da sie die schweren Tritte schon in der Galerie hörte, vergingen Sekunden gedanken- und atemlos, bis nebenan ein schwerer Gegenstand abgeladen wurde, leider, obzwar die Dielen unter Jakobe davon bebten, ohne jede Wirkung auf den Schläfer. Was nun? Jakobe stellte ihren Leuchter auf das Kaminsims. Darauf fiel ihr ein, daß ihr Mann warten würde, daß sie komme, den Koffer zu öffnen und ihre Sachen herauszunehmen; und nun, mit einem zweiten Stoßseufzer, der Herr möge im 240 Gesinde-Haus ihre Zofe so heftig schlafen lassen wie den Unseligen hier, entfloh sie doch, endlich und mühsam sich losreißend von der Lieblichkeit eines Anblicks, dessen umstrickender Zauber bis dahin sich nicht unwirksam erwiesen hatte, trotz aller Gegenströme der Furcht und Gefahr.

Der Oberst saß in einem Sessel und ließ sich eben vom Kutscher seiner drückenden Stiefeletten ächzend entledigen. Mit fliegenden Händen, mühsam die übertriebene Eilfertigkeit zügelnd, löste Jakobe die Schnallen des Koffers; allein, alle ihr gehörigen Gegenstände, mehrere Kleider, Wäsche, Morgenrock und die Kämme, Dosen und Bürsten auf einmal an sich zu raffen und fortzuschleppen, erwies sich als unmöglich. Jakobe in ihrer Not verfiel also vielmehr auf die List, Alles auf das sorgsamste und prüfend erst auseinander zu nehmen, danach wieder zu falten und auf einem Stuhl aufzuschichten, wobei sie mehr als einen der härteren Gegenstände fallen ließ, in der bebenden Hoffnung, der Lärm möchte doch wirken und der entsetzliche Mensch Zeit finden, sich davonzumachen. Alldieweil plapperte sie unausgesetzt ein recht sinnverlassenes Zeug, hörte aber erst beim dritten Gepolter – eine fallende Haarbürste wars – eine Erwiderung ihres Mannes, ein galliges Lachen und die nicht unfreundliche Frage, warum sie nicht lieber gleich an der Erde zusammenpacke. Aufblickend sah sie ihn fast behaglich in seinem Sessel; er lächelte sogar und schien guter Laune.

Nun endlich alles Ihrige aufgepackt in den Armen, trat sie zu ihm und fragte von oben auf ihn herunter nach seinem Befinden, was er mit: »Vortrefflich, danke, äußerst 241 vortrefflich!« beantwortete. Da ward sie heftiger von der neuen Angst befallen, er könne ihr nachkommen wollen, und beging in ihrer Verzweiflung das Verbrechen eines judassischen Kusses auf seine Stirn, – dies, um die abschließende Bestimmtheit zu mildern, mit der sie ihr: »Nun gute Nacht!« sagte. – Jetzt, dachte sie vor der Tür ihres Zimmers, jetzt ist es leer! –

Dem aber war nicht so, sondern Eginhart lag wie zuvor; schlief. Da übermannte denn Ungeduld die Jakobe, und sie hieb, da sie keine Hand frei hatte, die mit der Fußspitze hinter sich zugezogene Tür mit dem Absatz so derb ins Schloß, daß es knallte und der Schlüssel herausflog wie ein Geschoß. Eginhart erwachte.

Jetzt aber, wie er verwirrt und schlaftrunken die Augen aufschlug, erst nach Sekunden das Licht auf dem Kamin und in seinem dämmrigen Schein endlich die Gestalt der Geliebten entdeckte, da wurde aus deren Blick, in dem ein warnendes Bitten sich vereinen sollte mit einem um Verzeihung für die harte Erweckung, – ein ganz andrer wurde aus ihm. Ein Blick nämlich immer tiefer versinkender, immer hülfloser, dann immer ernster, immer zitternder, immer aufgelöster in sein Anschauen sich bettender Liebe; und alsbald, da er dies erkannte, hafteten sie geschmiedet einander an in diesem alle Sinne überwältigenden, alle Sinne durcheinander strudelnden Bekenntnis ihrer Augen; bis sie schwindelnd in wolkigen Fernen zusammenhingen wie die durchbohrten Seelen Paolos und Franzeskas, weggerissen von einem Schluchzen der Unendlichkeit. 242

Und dies war denn so, daß, als hinter Jakobe die Tür geöffnet wurde, sie sich nur lächelnd umwandte – gleichsam, als könne auch dort nur der Geliebte erscheinen, der überall war wie Gott – und sekundenlang nicht begriff, wer Fremdes da stand in einem grünen Uniform-Frack, in der Hand eine Puderdose.

Dann erst zuckte sie zusammen, und im selben Augenblick schoß eine weiße Gestalt aus dem Bett auf, Wände und Möbel wankten tanzend um Jakobe, der Mensch im Hemd raffte von einem Stuhl, über dem – jetzt sah sie es mit unerklärlicher Deutlichkeit – schwarze Kleider hingen, einen Gegenstand an sich und war gleich darauf durchs Zimmer, durchs Fenster hinaus. Jakobe aber sah nun unweigerlich das Gesicht ihres Mannes, gelbweiß mit glänzenden Schneidezähnen, die auf die weit nach innen gezogene Unterlippe so hart gesetzt waren, daß Blut quoll. So starrte er glühend an ihr vorbei auf das Fenster.

Allein sie gewann nun ihre Besinnung zurück, damit das Bewußtsein ihrer Unschuld und Freiheit zu handeln; die benutzte sie denn und tat – Nichts. Das will sagen, sie ging ruhig zu einem Stuhl, schob ihn mit der Fußspitze zurecht, legte ihren Packen darauf, vorsichtig, daß nichts fiel, und zeigte mit jeder Bewegung eine vollkommene Gleichgültigkeit und die Fähigkeit, warten zu können, bis er etwa Fragen stellen, Erklärungen fordern würde. Als sie nach einer Weile, durchs Zimmer gehend, einen Seitenblick nach ihm warf, stand er neben dem Kamin, eine Hand auf dem Sims, den Kopf etwas gesenkt, die Linke 243 auf dem Herzen, zu seinen Füßen die Scherben der Dose, die fallen gehört zu haben Jakobe sich nicht entsinnen konnte. Plötzlich dröhnte ein Schuß. Jakobe sah ihren Mann mit ganzem Leib eigentümlich zusammenfahren, worauf er in sich zusammensank und vornüber fiel, häßlich polternd, jedoch selbst ohne Laut. Auf dem Gesicht liegend, röchelte er etwas.

In Jakobe stand eine Weile Alles still. Sie bewegte sich dann zu dem Hingestreckten, kniete, rührte ihn an, versuchte ihn umzudrehn, – kein Blut, nein. Doch, hier im Gesicht! Seine Nase blutete, sonst nichts. Sie horchte; er atmete nicht.

Was dann mit ihr vorging, wußte Jakobe nicht recht, nur irgendwie, daß sie flog, vielleicht träumte, und die Terrasse war da, der Garten, ein Geflirre von Sternen, endlich – eine liegende weiße Gestalt neben einem Baum. Und diese blutete so aus der Brust, daß Jakobes Hände im Augenblick heiß überströmt waren.

*

Mitzuteilen ist hiernach nicht mehr viel.

Der Osthimmel rötete sich eben in der Lücke der Wälder, über den deutschen Bergen, als Jakobe zu Tode erschöpft in der Tür der Terrasse lehnte, Atem holend, heraufgewunden wie aus Verschüttung aus einem grausam verschlungenen Getümmel von Blut und Binden, Waschschüsseln und Instrumenten, Angst-Gesichtern und fliegenden Türen, Verzweiflung, Gebeten, Flammen der 244 Hoffnung und Stürzen der Wonne, nun allein, kurz nachdem der Arzt sie verlassen hatte, seine wiederholte Versicherung bekräftigend, daß trotz durchschossener, aber geradezu prächtig durchschossener Lunge für das Leben Herrn Eginharts keine Gefahr bestünde. Den Obersten freilich hatte der Schlagfluß auf der Stelle getötet; vielleicht, sagte der Arzt, da der Verblichene am Mittage bereits unpäßlich gewesen, hätte es so heftigen Schießens nicht einmal bedurft, – aber wer weiß? Jakobe – nun, sie atmete, stand und sah über der zarten Frühröte den blitzendsten aller Morgensterne und hielt ihn übrigens in liebevoller Bedeutsamkeit für denselben, der am Abend zuvor den Geliebten mit ungleich schmerzlicheren Gefühlen beseelt hatte; es war aber der Jupiter.

Ein Jahr später wurden sie getraut.

Wobei dann freilich die Frage offen bleibt, die Keiner gern – auch nicht der Chronist – beantworten mag: Was eigentlich wird aus Solchen wie Eginhart, wenn sie schließlich verheiratet sind? – Möge sie denn offen bleiben; in Heiterkeit aber, wennschon in Tiefsinn.

Vielleicht jedoch wäre dies noch zu sagen:

Liebe, so flammend beschaffen sie sein mag: Liebe, solange sie nur Glut der Empfindsamkeit ist, schwelgend in sich selbst: Liebe allein ist nur eine Art immerwährender Rakete gegen das Firmament, mehr Schwung und Zauber als Kraft und Haltbarkeit. Wo aber ihr echtestes, triumphierendes Feuer auf der einen Seite – sich verbinden darf mit dem einer Lebens-Tüchtigkeit, die erprobt wurde; mit 245 jener heiteren und heiligen Nüchternheit, die der gute Leib des Unsterblichen auf Erden ist, Dauer verbürgend: da kann das schönste Kleinod seelischen und leiblichen Daseins geformt und geläutert werden und Dauer haben.

*

Nachbemerkung:

Den Stoff – besser – das Skelett dieser Erzählung findet der Leser in Heinrich von Kleists Werken, und zwar unter den für die ›Berliner Abendblätter‹ gefertigten Arbeiten, unter dem Titel:

›Der neue (glücklichere) Werther‹.

 


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