Albrecht Schaeffer
Das Prisma
Albrecht Schaeffer

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Die Treibjagd

1

Im Anfang des achtzehnten Jahrhunderts sah es, wie überall im Lande Traffenberg, auch in seinem westlichen, in das angrenzende Beuglenburg einschneidenden Zipfel anders als heute aus. Der Stillmer See, ein Name, der aus dem ursprünglichen unkenntlich gewordenen ›das stille Meer‹ hervorging, damals über Meilen in weitgelegter Ellipse erglänzend, ist zu einem großen Teile versumpft und aus der Versumpfung zu glattem Kulturland geworden. Die Abtei Lokkum, auf der noch vorhandenen Insel in seiner südöstlichen Bucht gelegen, ist verschwunden. Nach dem Brande im Jahr fünfundsechzig des achtzehnten Jahrhunderts nicht wieder aufgebaut, diente sie mit ihren Trümmern für ein Jagdschloß des derzeitigen Herzogs, worin späterhin, da es kaum mehr benutzt ward, eine Wirtschaft eingerichtet wurde, die sich noch später über das Ganze ausdehnte, zuletzt zu einer Art Kurhaus gedieh. Und ein ganzes Drittel des leichtgehügelten, viele Meilen Land östlich überziehenden Waldes, der sogenannten Lokkumer Forst, ging in jener Feuersbrunst auf, in der Dürre jenes Sommers, von dem einige Tage den Zeitraum dieser Erzählung bilden werden. 250

Damals gehörte er noch den Mönchen, da jener Zipfel des sonst evangelischen Landes vom ursprünglich katholischen Gewand übriggeblieben war. Die Guten hatten aus der Insel eine Gottes-Speisekammer bester Gemüse und edler Obste gemacht; der Fisch, soviel er gefangen wurde, sorgte mit unendlicher freudiger Vermehrung, daß ihre Mägen nicht darbten, auch wenn die Fasten in das Jahr hineinspukten. Die Landschaft umher glänzte in gleicher Nahrhaftigkeit unter dem wachsamen Zepter der Äbte, denen der Bauer gern gehorsam war. Sie sorgten auch mit Wald-Verstand für den Wald, doch hatte es mit dem eine eigene Bewandtnis, wie offenbar werden wird.

Herzog Woldemar, der dritte seines Namens, kam im Jahre dreizehn zur Regierung. Unter dem Schützen ward er geboren, wofür die läufige Astrologie nur unruhigen Geist und Liebe zu Pferden vorschreibt, womit aber er selber die ihm eigne Leidenschaft rechtfertigte. Er liebte die Jagd; liebte sie mit jener, die Grenzen der Vernunft überschreitenden Liebe, von welcher der Narr sagte, daß nur eine solche nicht Haß zu heißen verdiene. Er liebte sie auch mit einer sozusagen ausschließlichen Liebe, denn in seinem Verhältnis zum andern Geschlecht war er gleichfalls Liebender weniger als Jäger zu nennen, war dahinter her mit einer schnell verlöschenden Hitze, jagte, erbeutete, vergaß. Denn der Jagdlust liegt nichts am Gewinn; unbefriedigt zu bleiben ist ihre Eigenschaft. Er war in diesem Lebens-Bezirk wie ein rohes Pferd, womit man diejenigen bezeichnet, die nicht geschult wurden, so edler Abkunft sie sein mögen. 251 Nach dem gängigen Sinne des Wortes ›roh‹ war er nicht. Er hätte nicht betrügen, treulos werden, quälen, zerstören mögen, wenn es sich anders hätte einrichten lassen. Sein Wesen war, sich zu spannen, zu laden, sich abzufeuern, und – Hahn in Ruhe erkaltete er wie das Rohr, aus dem der Schuß brannte. Hiervon genug. Auch als Jäger war er kein Rohling. Wenn trotzdem im ersten Jahrzehnt seiner Regierung seine Forsten sich des Wildes entleerten, wenn schonzeitlos – wie überall dazumal – die Treibjagden, die Netz- und Wasser-Jagden und die Hasen-Hetzen aufeinander geschwinder folgten als Festtage im bayrischen Jahr, so lag das nicht so sehr an ihm selber als an seinem Hofstaat – den freilich erst seine Jagdgier – und die übrige Zügellosigkeit seines Wesens dazu – zu dem Troß, der er war, von Jägern und Dirnen (Ober- und Unterjägern, Pikören, Treibern, Marschälken, Pferde- und Hunde-Buben) herangezüchtet hatte. Daß halb Europa damals, soweit es fürstlich und adelig war, einem großen Jagdlager glich, kann zu seiner Entschuldigung angeführt werden. Was er für seine Person liebte, war die Alleinjagd auf dem Anstand oder in kleinster Gesellschaft zu Pferde gegen den Eber, den er besonders mit dem Spieß oder Hirschfänger, Grimm gegen Grimm gesetzt, allein anzugehen schätzte. Und die Birkhahn-Balz, jene einsamste Lust in dem Morgen-Dampf unterm geraden Morgenstern-Blick, das rätselhaft auftauchende Frührot durch Stämme und Nebel in die Brust einziehend beim Anschleichen an den unbeweglichen Baum im Dunkel, aus dem die Brunst des Vogels in die lautlose 252 Stunde sich ausschreit. Und dies: wenn es Alles zu einer lähmenden Ballung sich um das Herz preßte, die endlich der Schuß, der Mord, der Sturz des Besinnungslosen in die Bewußtlosigkeit zerriß: dies war seine Art, das Leben zu leben, unedel, ungut, unweise und Keinem lieb; aber doch voll Bewußtsein, höchst lebendig, herzkräftig und noch alle Möglichkeiten der Tugend enthaltend.

Die endliche Folge äußerer Art dieses Treibens war die schon genannte: das Leerwerden aller Forsten von jagdbarem Wild. Eine Weile noch half Nachschub aus anderen Landstrichen; aber geborgtes Gut allein kann nicht gedeihn, und die in Plan- und Käfig-Wagen herangefahrenen Hirsche und Eber verschwanden nachkommenlos wie die Tropfen eines Aprilschauers auf Pflasterstein. Obgleich lange vorbereitet, erschien das endgültige Ende doch so plötzlich, daß es eines Mittags den Herzog wie ein Bote aus Indien überraschte, als er eben aufgestanden war und übernächtig und abgezecht, frostig und verdrossen beim Frühmahl sitzend, einen Rapport elender Ziffern hörte. Es sei, bei der Gelegenheit, auch das erwähnt, daß auch als Trinker der Herzog kein Unvernünftiger war, daß er aber mitunter Wallungen erlag von einer heftigen Zornigkeit, die, weil sie außerhalb keinen Reiz-Gegenstand hatte, sich wohl gegen ein Ding in ihm selber erhob; einen Block, der nicht schmelzen, eine Leere, die sich nicht füllen wollte, einen niemals abgefeuerten Schuß. Ein kleiner Wink zu dieser letzten Wendung. Es kam vor – irgendwann, im unvorhergesehensten aller Augenblicke, aus vollkommener 253 Gedankenlosigkeit; wenn also, sagen wir, der Herzog allein vor seinem Gefolg über einen Waldsteig ritt, so kam es vor, daß er in sich eine Bewegung spürte und gleichsam etwas sah: nämlich eine Büchse, die nicht von seiner – von einer unsichtbaren Hand an eine Schulter gesetzt wurde, und zwar in einer schrägen Richtung nach oben (was niemals vorkommt, weil auch beim Aufwärts-Feuern der Schütze allemal von unten aufzieht). Und dann folgte etwas wie ein Abdrücken. Dies Alles aber, wenn man es sich vorzustellen vermag, körperlos, imaginär, nur Bewegung, gleichsam nur als Geschehn, als Vorgang, luftig in Lüften und so völlig sinnlos, obwohl in ihm spürbar der Nerven-Zwang war, dies, diese Bewegung oder Handlung in sich vorzunehmen, die er übrigens gegen Niemand erwähnte. Doch nannte er sie bei sich ›den Schützen‹, auf das Sternbild zielend, ohne weiter einen Sinn mit der Benennung zu verbinden. Kam es aber, daß sich das Vorkommen der Sache häufte, so folgte ein Zwang, zu trinken und bis an die Grenze der Umnachtung.

Um kurz zu sein: Der Herzog stellte an jenem Mittage fest, daß er dem völligen Verzicht auf jedwedes Jagd-Vergnügen nur vorbeugen könne durch einen Verzicht auf Jahre, ein Jahrzehnt etwa, hinaus, während dessen die wenigen verbliebenen Bewohner seiner Waldungen im ahnungslosen Fortpflanzungs-Geschäft für Erneuerung seiner Wollüste sorgen würden. Er hätte da wahrnehmen können, zu welch trübem Ausgang die schönste Betriebsamkeit führen kann, und daß solcher Ausgang ein trübes 254 Licht über die vermeinte Schönheit ergießt; aber das lag damals jenseits seines Horizonts.

Der Oberjägermeister, der schon seinen Plan hatte, ließ dem Herzoge Zeit, sich in Grimm so mit Zähnen zu verbeißen, daß nur Jemand anders ihn loslösen könnte; und erst auf mehrmaliges, immer heftigeres Heischen nach Aushülfe fing er an, sich zu lockern, machte Andeutungen, kam endlich mit dem halb verschämten Bemerk:

»Wir hätten da noch die Lokkumer Forst.«

»Ah!« machte sein Herr und ließ los.

Sie gehöre aber rundum den Mönchen, und das Jagd-Recht sei an dieselben für ewige Zeiten verschenkt, sagte der Jäger.

»Was sind ewige Zeiten? Habe ich es verschenkt? Welcher Großvater von mir? Wie sieht die Forst aus?«

Der Jägermeister, der seine Ermittlungen angestellt hatte, erklärte Länge und Breite der Waldung, und daß kein Ameishaufen so wimmle wie sie von Hirschen und Hasen, Böcken und Bachen, Füchsen und Federwild, und daß noch ein Bär da wäre. Die Forst gehöre zu Dreivierteln den Mönchen, die im Einvernehmen mit den frommen Eigentümern der Nachbarschaft den Wildbestand sorglich gehütet, Schonzeiten eingeführt und nur so viel hätten abschießen lassen, um Braten, einigen Gewinn und Zufriedenheit aller Bauern zu haben.

»Wie heißt der Ort?«

»Auch Lokkum«, sagte der Jäger, erratend, daß sein Herr den Marktflecken am See, gegenüber dem Kloster, wissen 255 wollte, und er berichtete selbständig weiter: wieviel und welcher Art Einwohner, was für Gewerbe, die Dörfer der Umgebung und dergleichen mehr.

»Und der jetzige Abt«, fragte der Herzog, »ist der fromme Abt Uhlhorn mit der Tochter?«

Der Jäger bejahte lächelnd.

»Ich will schreiben«, sagte der Herzog, und der Mann zog die Klingel für den Schreiber. –

Der Herzog war schwarzhaarig, krausköpfig, nicht groß, ein untersetzter Mann mit starken Schultern, großem Haupt, mit der schiefen Nase der Woldemare, mit glühenden, schwer beweglichen, etwas traurigen Augen und mit einem sehr schönen Munde. Ohren, Hände, Füße, alle beweglichen Glieder waren klein. Er war sechsundzwanzig Jahre alt, mit sechzehn zum Thron gekommen. –

Von den zwei Briefen, die jenes Tages diktiert wurden, war der eine dreißig Stunden später in den Händen des Lokkumer Bürgermeisters, der andere in denen des Lokkumer Abtes. Beider Hauptinhalte waren gleich und können folgendermaßen angegeben werden.

Die im soundsovielten Jahr der christlichen Zeitrechnung erfolgte, durch den ersten Herzog Woldemar erteilte Schenkung von drei Vierteilen der sogenannten Lokkumer Forst an das Kloster im See werde hiermit aufgehoben und sei null und nichtig. »Ewig giebt es nicht.« Wenn eine Begründung von Nöten sei, so wäre es die, daß »ich, der Herzog, die Forst brauche; und dem Herrn, auf welche Weise auch immer, ein Ding entziehn, das er braucht, ist 256 Diebstahl.« Jedoch sei er auch nicht ungnädig gestimmt und daher geneigt, zu einer guten Regelung dem Abt eine persönliche Sprache zu bewilligen. Er lade sich deshalb, der Herzog, beim Abte innerhalb heut und einer Woche zu einem schönen und fröhlichen Jagen ein, welches im Einzelnen zu bestehen habe aus: einer erlesenen Hirsch-Hetze am ersten Tag nach der Ankunft mit vielen Rossen und wenig Hunden; einer Netz-Jagd am nächsten, mit Kanzel und Tribünen – worüber nähere Erklärungen beigegeben –; einer Hasen-Hetze am dritten mit sämtlichen Meuten; einem großen Treibjagen mit Häschern, Hunden, Rasseln und Klappern am vierten Tag; fünftens und letztens einem vereinzelten und beliebigen Pürschen auf Füchse, Dächse, Rotwild, Schwarzwild und den Bären.

Den übrigen Teil des Schreibens nahmen Anweisungen ein über die zur Herstellung der Jagden nötigen Vorrichtungen und Bauten, Leute-Beschaffung und dergleichen. Der letzte Absatz war des Inhalts: da der Vergnügungen in dem abgelegenen Sprengel nur wenig und nur rohe seien, wie der Herzog vernommen habe, so nehme er sich vor, außer der Schaulust bei den Jagden seinen Gästen und der Bevölkerung Schauspiele und Vorführungen mancher Art zu bieten, Theater, Masken-Tänze, Ringelspiele, Scheibenschießen und dergleichen. Es sei folglich für das Unterkommen der zu Alledem nötigen, insgesamt auf beiläufig zweihundert geschätzten Personen – eingeschlossen den Herzog und die Jagd-Gesellschaft – Sorge zu tragen. Einige gnädige, jedoch im Schein des Ganzen mehr wie 257 Drohungen aussehende Wendungen beschlossen dieses Schreiben, über dem der fromme Abt Uhlhorn sich mit Armen und Augen der heiligen Mutter von Lokkum entgeistert zuhob.

2

Der Abt Uhlhorn von Lokkum hatte allerdings eine Tochter. Sie war ein durchaus legitimes Kind, denn der Abt war verheiratet gewesen, nicht länger als auf den Tag neun Monate, weil seine Frau an dem Kinde starb. Er hatte sie leidenschaftlich geliebt, lange um sie geworben, die Plötzlichkeit des Verlustes machte ihn verstört, er wußte sich nicht mehr in das Leben zu finden. Ein halbes Jahr nach dem Schlag überantwortete er das Geschöpf, dessen Dasein er nicht begriff und in keine Beziehung auf sich zu bringen wußte, seiner Schwester und deren Mann und verschwand hinter den Mauern von Lokkum. Dort genas er rascher, als er geglaubt hatte; genas aus der eigentlich unangegriffenen Feste und Lebhaftigkeit seines Charakters, ohne jedoch jemals das Abscheiden aus der Welt zu bereuen. Nun mußte er, wie er es früher – als Kaufmann – gewesen war, wieder tätig werden; er ward es und gelangte in einer Zeit und auf eine Weise, die nicht beschrieben zu werden braucht, zur Würde des Abtes, die er am Zeitpunkt jenes herzoglichen Briefes schon fünfzehn Jahre lang inne hatte. Im Lauf dieser Jahre entwickelte sich an ihm eine Anlage zur Fettleibigkeit, und nun erblicken wir einen sehr dicken Mann, der doch kein Fresser noch Säufer war, bescheiden lebte, obwohl gut, rötlicher Hautfarbe zu 258 gewahren an Füßen, Händen, Armen, Antlitz und Schädel da er fast kahl war. So war er komisch zu sehn, ein Vollmond mit starken Augäpfeln von heller Iris, die überquollen und leicht flossen; mit etwas knolliger Nase, mehreren Kinnen, aber Lippen, die schmal und beweglich waren; komisch – und niemals lächerlich. Predigte er oder erregte sich sonst, so hatte er eine Art, die Augen zu verdrehn, halb scheu, halb empört, und darin noch gefühlvoll, und darin eine Verklärung, oder wie soll mans nennen, jenes hell Glühende, das wie Verschmelzung mit einem himmlisch Höheren schien. Er war Gottes allezeit inne; er war sich inbrünstig einer unaufhörlich waltenden himmlischen Aufsicht bewußt; war ein Alles liebender Mensch, und er konnte nie und bei Keinem und bei dem Rohesten nicht lächerlich wirken, so leicht für Jeden, der ihn in Aufregung sah – und er erregte sich gern, Erregtsein war sein Wesen – Augenblicke des Lächelns kamen. Aber das waren angenehme Hauche, die, wenn man sie aus dem Herzen verscheuchte, liebliche Geburten hinter sich ließen, Erinnerungen an Flachsfelder, blau fließend gegen grüne Gestade, oder an das freudige Schwanken der Roggen-Woge, die sich im Winde schüttelt, zu lächeln und zu steigen scheint; oder an jene blitzenden Flächen im See, die wie ein Geprassel silberner Nägelein sind; oder an das stumme Emportauchen eines Karpfen-Schattens zum Blau der Flut, die bei der Berührung seiner lautlos geöffneten Lippe magisch in schnell fliehende blanke Kreise zerspringt. Ein fetter, ein frommer, ein lieblicher Mann, der, weil man an solche 259 Dinge bei ihm dachte, ein Geheimnis mit der Natur zu haben schien, so daß all ihr goldnes und grünes Adern-Werk in ihn mündete und durch ihn kreiste.

An das Kind, an seine Tochter Suzette, wie sie nach der Mutter genannt war, erinnerte ihr Vater sich, als sie fünf Jahre zählte, mit Reue und so viel Empfindung, daß er eine Reise machte, um die Waise zu sehn. Er fand sie so holdselig, zart und bedürftig – denn die Schwester, ihre Pflegemutter, hatte mehr Kinder, die sie vorzog –, daß er sich nicht mehr von ihr trennen mochte. Zufälle waren ihm zu dem Ziel günstig. Der Herzog, des Woldemar Vater, hatte vor seiner Ehe eine schöne und nicht unedle Geliebte gehabt, eine Gräfin Jaxthaym, die er hätte heiraten mögen, wenn man es ihm erlaubt hätte. Er war zu schmächtiger Natur, um Widerstrebendes zu vereinen, und hatte, um reinlich zu leben, das Landes-Gewissen zu dem seinen gemacht. Zu einer politischen Ehe genötigt, baute er der Gräfin ein Haus, das fast zu einfach war, um sich Schloß nennen zu dürfen, und das er vom Wald auf den Stillmer See und das Kloster herabblicken ließ. Er dachte sie dort zu besuchen, unterließ es jedoch aus heranwachsender Liebe zu seiner Frau bis zu deren Tode, seit wann sich ein Besuchs-Verkehr zwischen Beiden entwickelte, der liebevoll, aber ohne Leidenschaft war. Der Abt kannte die Gräfin nicht, um so besser den Herzog, der ihn auch anderen Glaubens schätzte und verehrte. Ein Brief des Abtes genügte, und die Jaxthaym, schon alternd, war der Fürsprache des Herzogs offen, das Kind aufzunehmen. Der 260 Abt hielt die Vaterschaft nicht geheim, doch beschränkte er seinen Umgang mit dem kleinen Geschöpf auf einen, höchstens zwei Tage der Woche, wo er für Stunden bei der Gräfin einkehrte. Sie starb, als Suzette achtzehnjährig war, und hinterließ ihr das Schloß mit den geringen Liegenschaften und Kapitalien, die es erhielten. Seitdem waren noch drei Jahre vergangen.

Und nun noch ein Wort über die heilige Mutter-Gottes von Lokkum, die der Abt über dem Herzogs-Brief anrief, als ob Lokkum seine eigene habe. Es hatte sie auch, und zwar mit dieser Bewandtnis.

Der erste Markgraf von Trassenberg namens Gregor, vom Volke nachmals der Heilige zubenannt, ursprünglich ein Bauer, wie man weiß, Wahl-Gatte der Beuglenburgischen Witwe, jener Heliodora von Byzanz, hatte als Fürst die Jagd-Leidenschaft seines Nachfahren in nicht minder heftiger Weise entwickelt und vielleicht Jenem vererbt. Und er hatte, um kurz zu sein, nun jenes Wunder-Erlebnis seiner Heiligen-Brüder, des Sankt Hubert und Sankt Julian, auf seine persönliche Art: daß ihm nämlich eine Hirschin erschien, die nicht über ihrer Stirne ein Kreuz, sondern auf dem Rücken die heilige Jungfrau trug, die ihn vorwurfsvoll anblickte und sagte: »In bestia anima mea.« Stundan änderte er seine Lebens-Art, fing wieder an zu regieren und baute auf der Insel Kloster Lokkum, weil nahebei in den Wäldern die Stätte der Erscheinung lag, eine Mulde, nachmals der Hirsch-Grund genannt, baumlos, ein Überbleibsel eines versiegten 261 Weihers. In die Kloster-Kirche stiftete er aus Stein eine Darstellung des Wunders, die Heilige auf der Hirschkuh, die aber, von unbeholfenen Händen gemacht, den evangelischen Schweden, als sie einige Jahrhunderte danach über Lokkum zogen, so lächerlich und eselhaft vorkam, daß sie das Tier zu prügeln begannen, bis es in Stücke fiel. Die Krone, die auf dem Haupte der Jungfrau saß und von Metall, vergoldet und voll echter Steine war – ein Reif mit hohen durchbrochenen Zacken nach allen Seiten –, nahmen sie mit, verloren sie jedoch an die Kaiserlichen, die sie anständig wieder zurückbrachten. Später wurde eine hölzerne Figur gemacht und auf den Altar gestellt, die Madonna in Kleid und Mantel, in Blau und Rot, einen kleinen Hirschen zu Füßen, und sie bekam die Krone.

Und zu ihr begab sich für das Erste der Abt und erflehte schmerzlich verwirrt Demut, Klärung und Hinweis in den rechten Gehorsam. Seine Sorgen waren groß und dreifältig, die eine die andre übersteigend. Erstlich jammerte ihn das Wild, nicht Verlustes wegen, sondern weil er die Kreatur liebte und das Töten jedes Lebendigen über das Maß menschlicher Bedürftigkeit hinaus und zu einem Lust-Zwecke ihm widerwärtig war. Er ging nicht auf die Jagd, aber er ging so gern in den Wald wie sein Herzog und so gern um die gleichen Stunden der Frühe und des Nacht-Anfangs, und das unferne stille Äsen der Rehe am Waldrand, der Auerhahn-Tanz in dem Vortages-Schweigen, die mächtige Erscheinung des hochästigen roten Hirschen auf einem Tannen-Steig beglückte ihn als 262 ein Hingesetztes von Gottes Hand. Im Belauern des friedfertig davon schnürenden Fuchses oder der Eichhorn-Spiele, oder in dem samtenen Flug einer verscheuchten Eule vergaß und erholte er sich von irgendeiner Verfehlung oder Kläglichkeit in seiner Gemeinde. Von den Jagden der großen Herren wußte er genug, um sich die bevorstehenden Gemetzel einbilden zu können und zu stöhnen vor Schauder.

Sodann war ihm bekannt, daß Hetzjagden nicht im Waldbereich stattfinden, und er sah seine Bauern händeringend auf den Knien und die Saaten in schamloser Verwüstung. Die Landschaft um den See hatte Feuchte genug, daß trotz der Dürre jenes Sommers die Felder in einer Fülle des Paradieses wogten; es war noch Zeit, auf Regen, der einmal kommen mußte, zu warten; statt seiner, oder ihm zuvor, kamen Hufe; barbarisch stumpfe Sicheln ins Ungereifte.

Und drittens wußte er genug von der Jagd-Gefolgschaft des Herzogs, um verführte oder geschändete Frauen und Mädchen, Tränen, männliche Flüche und Totschläge und Bastard-Kinder als eine schauderhafte Saat über der zerstampften erscheinen zu sehn.

Da im Fortgange dieses Berichts klar werden wird, zu welchen Ratschlüssen der Fromme vor dem Mutter-Gottes-Bild oder durch seinen Einfluß gedieh, so sei hier nur mitgeteilt, daß er sich erstlich zu dem Bürgermeister von Lokkum am See hinüber begab – und zwar auf einem breiten und festen, an tausend Fuß langen Damm mit 263 einer kleinen Linden-Allee, der die Insel mit dem Festland verband – und mit ihm und dem zugezogenen Pfarrer des Ortes eine Unterredung hatte, die nicht kurz war. Danach begab sich der Abt zu seinem Kinde.

Suzette besaß eine kleine Schar Gold-Fasanen und weilte bei denen, als der väterliche Kummer sie suchte und zuletzt im Geflügelhof fand: sie, die fast klein war, zierlich gewachsen, was ein Kleid von dunkelgrünem Samt, das sie anhatte, weite Glocke mit Reifen unterhalb, nicht verhehlte. Von den dunkelbraunen Locken, die sie bar trug, fielen mehrere wie breite Tuch-Enden zipfelig auf den Hals und den kleinen Ausschnitt des Mieders, tief schwankend, weil sie sich zu den Vögeln bückte, die um sie liefen in ihrer Pracht wie vogelgewordene Sonnen-Spektren. Denn sie prunkten mit goldenem Gelb und rötlichem, mit Samtschwarz und Samtgrün, dunkelblauem Schillern, Goldgrün und Weiß, Kastanien-Braun und Zinnober an Gefieder und Hälsen, wehenden Schöpfen und schwebenden Schweifen. Der Alte, der seinen üppigen Leib in der braunen Kutte durch die kleine Hintertür zwängte, schloß diese, wieder bei einiger Besinnlichkeit, wie er jede hinter sich zu schließen beflissen war, indem er sich dabei ganz herumdrehte. Indem hatte die Tochter einen der Bunten ergriffen und aufgehoben; sah aber, eben die Knie knickend um einen zweiten, das heiße, rote Vater-Gesicht in einem so nie gesehenen Jammer, daß sie im Aufrichten langsam starr wurde, Gestalt und Gesicht. Das war klein, zartweiß und gleichsam überfüllt von Augen, die jetzt in dem 264 Sonnenlicht und vom Schrecken kohlschwarz waren, sonst auch ganz hell, wie Sonnen-Licht oder Seelen-Licht durch sie wechselte. Der Vogel entglitt ihr, kam flügelschlagend auf den Boden, scheuchte zwei andre auf, alle bildeten, wogend aus dem Schatten des Hofes durch breite Sonnenstreifen, ein solches Gewirbel von Farben und Licht um die stille grüne Gestalt, daß es den Beschauer, der eben nicht dieses erhofft hatte, empörte; er die Hände zusammenlegte und mit feurig quellenden Augen ausbrechen wollte, sich aber der augenscheinlichen Unschuld des Kindes besann, das Wort verschluckend, Arme und schweifende Augen aufwärts schwang und dergestalt, immer stumm, eine seltsam beredte Erscheinung von Hülflosigkeit machte. Er ermannte sich aber, schluckte heftig, bekreuzte sich und blieb eine Zeit demütig gesenkten Hauptes, während seine Blicke reumütig über den Boden liefen. Danach rief er sie zu sich, bekreuzte auch sie, ergriff ihre Schultern, zog sie an sich und war wieder fassungslos; in dieser Minute schien ihm nichts Andres bevorzustehn als die Entladung der eingebildeten Wolke auf dies unschuldige Haar, das er küßte. Nun führten sie sich in ein Zimmer; er entlastete sein Herz.

In dem Raum, den sie betreten hatten, war es fast dunkel, weil die Läden vor den Fenstern gegen die Sommer-Glut geschlossen waren. Nun war der Abt still geworden, saß in seiner Betrübnis, die Ellbogen auf den Knieen, die Hände gefaltet, die Stirn nahe darüber. So hörte er die Stimme Suzettes, zaghaft genug, nach dem Herzog fragen, ob er ihn kenne. 265

Vom Hörensagen vollauf; die Person habe er nur bei der Krönung gesehen. Er habe damals keinen schlechten Eindruck empfangen; habe Entschlossenheit wahrgenommen, dunkle Kraft, die Möglichkeiten des Guten wie Bösen, aber nur dies, wie es scheine, habe sich entfaltet.

Was Suzette nach einer Weile erwiderte, war nach einem sich sammelnden Durcheinander von Worten die Rede: daß der Herzog das Gute vielleicht nie gesehn hätte, und daß er vielleicht zu der Menschen-Art gehörte, denen Alles gezeigt werden müsse. Das sagte sie menschenfremd.

Ihr Vater seufzte: »Ich kanns ihm nicht zeigen!« »Vielmehr,« verbesserte er sich, »wenn er Augen hätte zu sehn, so dürfte er es erkennen, an den Feldern, am Baum, an jedem Halm, jedem Geschöpf.«

»Das«, sagte sie schon fester und kenntnisreicher, »sind natürliche Dinge. Ein Herzog bedenkt sie nicht, und was dazu nötig ist. Man muß es ihm zeigen. Es müssen Handlungen sein. Gute . . .« schloß sie kaum hörbar.

»Wenn Gott will,« murmelte er zerstreut, »wenn Gott will.« Sie war aufgestanden, stand eine Weile im Dämmer, bewegte sich gegen ein Fenster und stieß den Laden auf. Da er aufblickte, war er vom hereinflutenden Gold-Strom des Sonnenlichts geblendet und sah von ihrer kleinen Gestalt nur den Schattenriß mit feuerfließenden Rändern. Was sie sagte, blieb ihm unhörbar, denn sie sagte es innen: »Daß ich es zeigen könnte . . .«

Ihr Vater aber stand auf und fing davon an zu reden, daß er sie allezeit in ein Kloster habe geben wollen, und 266 daß sie dazu ja willig gewesen wäre, und daß sie immer von ihrer Zuneigung sich hätten abhalten lassen; daß es aber nun Zeit sei. »Denn«, sagte er, »er will hier bei dir wohnen. Und wohl kaum allein . . .« Er verschluckte den Rest, an eine Mätresse denkend. Solch einer hatte auch das Haus gehört, und wo merkt man die Unterschiede? Er schloß, daß Suzette davon müsse; zuerst wieder zu seiner Schwester.

»Vater,« sagte das Kind, »ich will bleiben.«

»Du willst . . .«

»Ich will, was du willst«, sagte sie freundlich, jedoch mit einer leicht von sich weisenden Festigkeit, und fügte hinzu: »Aber wolle es nicht anders, Papa.«

»Kind,« ächzte er, »Kind!«

»Glaubst du,« fuhr sie fort, »Jemand kann mir ein Haar krümmen wider meinen Willen?« Und sie sagte: »Vater, dein Leben war so viel Rechttun, und so lange Jahre. Ich bin nun auch ein Mensch und will anfangen.«

»Du wirst mit dem Ende anfangen!«

»Ja, so Gott will, mit einem Ende«, sagte sie.

Danach sprachen sie noch eine Stunde hin und her, wie es sich nicht beschreiben läßt. Er schied von ihr mit dem Versprechen, es sich zu überlegen. Als sie ihm aus der Tür des Hauses nachsah, wie er über viele breite sonnenhelle Stufen der Freitreppe braun, schwerleibig und gebeugt niederstieg und sich umwandte, war in der Zwischenzeit unterhalb ihres Wahrnehmens so viel durch sie hingefahren, daß ihre zarte und fast gebrechliche Leiblichkeit 267 davon ganz erschöpft war und sie sich an den Türpfosten lehnen mußte. In halber Ohnmacht der Sinne erschienen ihr da ihre bunten Vögel, durcheinander wandelnd auf eine geheimnisvoll regelhafte Weise, auf einer einsamen Wiese von Grün, einer Insel in wolkigem, blauem Schwarz, und fern wie ein Gestirn und nie mehr erreichbar.

3

Früh am 7. Juli 1728 bewegte sich ein farbenreicher Zug unabsehbarer leuchtender Länge auf dem Altenrepener Steintor auf die weiße Landstraße hinaus, die sofort Wolken Staubes in die Sonne emporwarf und die ganze Länge des Zuges allmählich in eine weiße Hülle verschloß, aus der nur hier und da eine Farbe leuchtete, Metalle blitzten und die Umrisse von Reitenden und Wagen erschienen. Der Morgen war noch leicht vor der schon drohenden Glut, die Felder und Wiesen umher lagen noch beruhigt im Genuß ihres Taus, und das unablässige Trillern der Lerchen und Feilen der Grillen spann die unendlichen tönenden Schleier. Die Horizonte standen hoch hinauf in grauen Dunst-Wänden, aus denen die bläßlich blaue und flach scheinende Kuppel des Himmels stieg.

Der Herzog ritt vorn, selbdritt zwischen einer Dame zur Linken und einem Herrn zur Rechten, nämlich seiner derzeitigen Geliebten, einer von ihrem Gatten getrennt lebenden Gräfin Klingenfeld, und dem Prinzen Emil von Lippe. Der Herzog, wie die beiden Andern im Jäger-Dreispitz, war in einem gelben Frack und saß auf einem fast ebenso 268 gelben starken Pferde mit sahnefarbenen Mähnen, das in rüstigem Gleichmaß die Füße streckte. Die Gräfin trug einen roten Frack zum weißen Kleidrock und ritt einen Rappen, der empfindlich und stets zum Galopp geneigt war, gedämpft werden mußte und die Hinterhand wegdrehte; der Prinz in Grün ritt einen besonders schönen englischen Goldfuchs, der mehr ein Renn- als ein Jagd-Pferd war. Auch sein Gesicht hatte englische Länge und etwas Einfalt, war bartlos und kaltäugig; das der Gräfin zeigte, schneeweiß von Puder, die sehr roten gefärbten Lippen und unruhige heiße schwarze Augen, eng beisammen über einer kleinen Tiernase. – Den Dreien folgte im Abstand eine ganze Schwadron, lauter Herren, an vierzig Stück, bunt von Pferden aller Farben und den grünen, roten und gelben Fräcken und weißledernen Hosen. Folgte die Musik-Kapelle des Dragoner-Regiments, von ihrem Mohren-Pauker geführt, der in phantastischer Buntheit zwischen seinen glitzernd behängten Kesseln auf einem gewaltigen Schwarzen thronte; die Kapelle dahinter in Hellblau und Silber, gleichfalls auf Rappen, blies mit roten Gesichtern einen Avancier-Marsch aus lauter flammendem Messing. Es folgte die Damen-Schwadron, geringer an Zahl als die männliche, aber in einem verwirrten Regenbogen erlesener Farben, denn da waren, an Fräcken und langhängenden Kleidröcken, waldgrüner Samt, gelbes Tuch, weiße Seide, himmelblauer Samt, ziegelrotes und violettes Tuch, zitronfarbene, honigbraune und lavendelblaue Seide, vielfach mit Silber- oder Gold-Fäden 269 gestickt; und die Dreispitze hatten wehende Reiher oder Gold-Schnüre und Troddeln. Einige trugen auf Stulphandschuhen einen verkappten Falken. Über dieser Abteilung des Zuges hüpfte das helle Gelächter, wasserhaft plätschernd, ohne zu kühlen. Auf ihren Pferden aller Pferds-Farben trabte die Schar der Piköre in Grün, in den großen messingenen Kreis-Windungen ihrer Hörner steckend; und nun entrollten die Meuten, tausendfüßig, die fast nicht zu beschreiben sind, Hunde unzählbar wimmelnd und von allen Arten, an langen Riemen von Berittenen und zurückgebogenen Fußgängern geführt, die weißen gefleckten Terrier, russische, dänische, schottische, polnische, deutsche Rüden, gefleckte Hirschhunde, Doggen, Hasenhunde, rote Vorstehhunde, ungeheure Bärenhunde, allesamt verschwiegen, obwohl hängender Zungen, außer daß einer aufheulte, der vordrängend einen Hieb empfing, oder einer quiekte, den sein Nachar beleidigte; ein erstaunliches Wimmeln von Eifer und Hingabe. Hinter diesem niedern Getümmel der fliegenden Zungen und trottenden Pfoten rollte ein Planwagen voll Buben und kleiner Köter für die Niederjagd, Teckel und Terrier, die vorne und hinten heraus hoffärtig umhersahen mit dem Ausdruck: Wir werden gefahren. – Und weiter rollte Wagen auf Wagen in der Staubwolke, bekränzte Leiterwagen, Planwagen, Kutschwagen ein Dutzend mit den Theater-Männern und -Weibern, Wagen voll Gekreisch, Wagen voll verachtendem Schweigen, Wagen voller Stangen und Zelte, Wagen voller Köche und Küchenjungen, geschlossene 270 Kühlwagen voller Eis, Fleisch und Flaschen, Wagen voller Jagdtaschen, Gewehre, Spieße, Hirschfänger, Pistolen, und je höher die Lasten gehäuft waren, um so mehr Buben lagen oben, stießen sich, kreischten, lachten und versuchten tutende Hörner. Den Beschluß machte ein fast silberner Esel, der mit der zierlichsten Behendigkeit unerschütterlich einen armen feisten Mann in Grau trug, welcher unsäglich schwitzte und die riesige Tomate seines Hauptes unablässig mit violetter Seide umfuhr. Der war ein Koch, dem eine Speise mißraten war, und der Esels-Ritt war seine Strafe.

Also bewegte sich die Armee, triumphierend in Farbigkeit wie nur eine von Schlächtern, Wegelagerern und Nachrichtern, über die Straßen, zwischen den Hügeln, durch die Wälder, über die Brücken des Herzogtums, mit den mittaglichen und nächtlichen Pausen anderthalb Tage lang. Am Frühnachmittag des zweiten Reise-Tags erreichte sie die Lokkumer Forst, von der ein Stück zu durchqueren war, und hier wurden Fürst und Gefolge fast still unter dem Eindruck der Schönheit und Untadelhaftigkeit dieses gepflegten Waldes, wo die Wege wie Samt und sauber gehalten wie Kleidung waren. Es konnte zwischen 4 und 5 Uhr des Nachmittags sein, als die Spitze des Zuges in einer breiten Schneise zwischen Fichten auf braunem Nadelgrund aufwärts ritt und an ein Gatter gelangte, das augenscheinlich neu war, und von dem nach beiden Seiten hin kräftiges Zaunwerk sich im Dickicht verlor. Hier warteten einige vorausgeschickte herzogliche Leute, berichtend, 271 daß dies der Eingang zu dem Platz für die Treibjagd mit Netzen sei, zu dem die Tiere durch das Gatter getrieben werden sollten. Es öffnete sich; die Schneise, noch fünfzig Schritt steigend, war hier beiderseitig von Zaunwerk geschlossen. Als die Höhe erreicht war, blickten die Drei in eine baumlose und rasengrüne Mulde hinunter, die in schönem und mächtigem Schwunge zu schweben schien, nicht zu liegen, ein ungefähres Oval in den dunklen Mauern der Tannen. Innerhalb dieser waren gezimmerte Jagd-Kanzeln teilweise sichtbar; für die Jagd würden die mitgebrachten Netze, von Stamm zu Stamme gespannt, die Mulde umringen. Jenseits, wo sie wieder stieg, war in einer breiten Lücke zwischen den Bäumen eine Tribüne zu sehn, mit grünen Stoffen und Tannengewinden bekleidet. (So schienen alle Anweisungen des Herzogs Gehorsam und Verstand gefunden zu haben.) Sie jagten die Mulde hinunter und hinauf. Die Tribüne war erhöht auf Säulen von Stämmen angebracht, welche drei große Durchgänge bildeten. Durch sie konnte der Rest von dem Wild, der nicht gelähmt oder verendet in der Mulde lag, sich in Sicherheit bringen, und zugleich hatten die Zuschauer das Vergnügen, die Flüchtlinge unter sich durchrennen zu sehn und auf Verwundete zu wetten, ob sie davonkämen oder nicht. Vor der Mitte der Tribüne war ein Ausbau, eine Art Balkon für des Herzogs eigene Person. Er pflegte bei derlei Massen-Hetzen selten mitzuwirken, außer daß er hier und da einen Schuß auf einen Verwundeten abgab, um ihm zum Tode zu verhelfen, oder auf einen Flüchtling aus dem selben Grunde. 272

Die Gräfin sagte, als sie die Tribüne besehn hatte, das Pferd zur Mulde zurückwendend, sie habe einen Einfall. Sie stelle sich nämlich dies Tal zauberhaft vor bei Mondschein, und sie mache den Vorschlag, wenn der Mond eben eine leidliche Fülle habe, was sie nicht wissen könne, die Jagd nachts abzuhalten, im Mondenlicht und mit Fackeln unter den Bäumen. Der Mond allerdings wuchs eben gefällig in die Vollendung; der Herzog ließ den Einfall gelten und gab die nötigen Winke.

Unter der Tribüne hinwegreitend in eine neue oder die Fortsetzung der früheren Schneise, gerieten sie keine Minute später an den Waldrand und zur Bewunderung einer unermeßlichen Aussicht. In leichter Tiefe unterhalb abwärts gewellter Hügelungen von Wiesen und Korn lag der See, flache, meilenweit dunstige Bläue, deren Tiefe wahrlich ein Himmel wie der über ihr ruhende zu erfüllen schien, mitten im grünen und gelben Wälder-Land die überraschendste Erscheinung. Das Auge, behutsam zufassend, begrüßte die grünlichen und weißlichen Streifen im Blau, eine Fläche von scharfem Silber darin, die Stille der Schilf-Gestade, und nun, zu neuem Entzücken, vorn linker Hand das Grau und Weiß der Mauern des Klosters, die Fenster-Reihen, Schiefer-Dächer, die zwei grünen Nadeln der Türme, was Alles, unterhalb vom Grün der Bäume und Garten-Büsche verhüllt, daraus aufragte in jener immergefälligen Ordnung des Menschen-Werkes, welches, hervorgegangen als Verein von Herz und Gehirn, Herz und Gehirn wieder in ihm zusammenklingen läßt, daß es 273 nachtönt. Die Ufer des Eilands schwebten über den Wassern und ihren Spiegelungen; nun ward ein Damm sichtbar, zwei Baumzeilen darauf und Alles im Spiegel genau; nun die leuchtende Freundlichkeit des Marktfleckens unten, geweißte Wände, Fachwerk und Schieferdächer zwischen grünem Gewipfel. Endlich wieder die ganze Weite in einer ewigen Dehnung zu allen Himmeln, Ahnungen entfernter Hügel, unendliche Ebenen, Höhen und Senken des Getreides, des Klees; die gelbe, die grüne Sanftmut der Erde, wo es auch blitzte von Wässern.

Das Gefühl seines Landes stimmte den Fürsten zufrieden trotz der Wahrnehmung seiner Grenzen, die ziemlich genau mit den himmlischen übereinstimmten oder denen seines Auges: in der Verhüllung des jenseitigen See-Gestades endete seine Macht. Sein Blick wurde von dort auf den Insel-Damm zurückgewendet, wo eine Bewegung stattfand, erkennbar als ein Zug von Menschen, der übrigens still stand. Er zog einen Taschen-Tubus, richtete ihn und hatte zu erkennen, daß der Zug die Bevölkerung des Ortes Lokkum samt der Umgebung darstellte, Männer, Weiber und Kinder, eine unglaubliche Zahl. Er setzte das Glas ab und stellte umherblickend die Menschen-Leere der Landschaft fest; ein Pflüger in Lupinen war Alles. Er hob das Glas und bemerkte jetzt in ungefährer Mitte des Dammes eine Lücke, jenseits deren eine Zugbrücke schräg gegen einen Torbogen emporstand, und hinter Brücke und Tor befand sich der Menschen-Zug, der fast bis zur Insel reichte. Der Herzog machte seine Begleitung kurz auf das 274 Wahrgenommene aufmerksam und setzte sein Pferd in Trab. Die Hufe warfen das gelbe Mehl staubiger Feldwege auf, die in Windungen niederwärts in einer Landstraße mündeten. Auf ihr ging es rascheren Getrappels, das unferne See-Gestade zur Rechten, zum Ort und durch eine kurze Gasse geschlossener Fenster-Läden zum Marktplatz, der fast nicht zu erkennen war. Denn er war von einem niedrigen Bauwerk eingenommen, augenscheinlich erst kürzlich aus Brettern errichtet, das rundum zwischen sich und den darüber aufsteigenden Häusern nur eine schmale Gasse frei ließ. Mit häßlichem Ochsenblut-Rot angestrichen, wurde es von grünen Tannen-Gewinden kaum verschönt. Vor der hergewendeten Giebelseite war ein winziger Balkon angebracht, und auf ihm stand ein Mensch, der einzige weit und breit, ein Mönch in brauner Kutte und unförmig dick, rundhäuptig und roten Gesichts. Er hielt die Hände auf die Brüstung gestemmt, und der Herzog sah, daß er seine Augen, die vorquollen, fest machte im Blick auf ihn, der unter ihm hielt, und daß sie zu zwei kristallenen Kugeln wurden, die entschlossen blickten.

Es sei hier erwähnt, daß von den Dreien nur noch Prinz Lippe das Äußere hatte, in dem sie zu Beginn des Rittes beschrieben wurden. Die Hitze hatte sie verändert. Die Gräfin trug schon den dritten Frack – er war violett – und hatte, auf Puder und Farbe verzichtend, ein grauweißes und rotfleckiges Gesicht, die Augen in Ringen und krampfhafte Mundwinkel. Der Herzog hatte am ersten Nachmittag den Rock, am zweiten die Weste abgelegt 275 und saß nun im losen Hemde, dessen Spitzen er über der schwarzvließigen Brust aufgeschlagen hatte; das Hinterhaar bändigte unerschüttert der Zopf, aber das vordere krause hing und klebte in der mächtig triefenden Stirn. So sprach es für den Abt, daß er in dem Verwahrlosten gleich den erkannte, der er war, anstatt den Prinzen dafür zu nehmen, welcher der Sonne keinen Einfluß bis heute erlaubt hatte, als daß er den Filz mit einem seidenen Netz vertauschte, das die duftenden braunen Locken zusammenhielt. Und er saß tadellos in bester Haltung, alle vier Zügel in einer Handschuh-Hand, während der Herzog zurückgelehnt die bloßen Fäuste auf den vorgestreckten Schenkeln liegen hatte, zwei Zügel in jeder. Die nassen Büge der Pferde waren weiß von Schaum, der aus dem unablässig geworfenen und gebissenen Gestänge herunter flockte.

Der Mönch auf der Kanzel schwieg, und der Herzog fragte, ob er Abt Uhlhorn vor sich sähe.

»Ich bin Abt Uhlhorn von Lokkum«, antwortete die etwas mühsame Stimme eines Fetten von oben. »Und da ich meinen durchlauchtigen Gast vor mir sehe, will ich sogleich eine Predigt halten.«

»Aber nicht zu lang!« warnte der Herzog und sah sich um.

Der Platz hatte sich mit Reitern gefüllt, und noch drängten andere nach, so daß die Flügel sich vorschoben und zuletzt unter der Kanzel ein Halbkreis gebildet wurde, in dessen Zenit der Herzog hielt. Als sich Stille verbreitet hatte, begann der Abt. 276

Doch machte er zunächst etwelche sachliche Mitteilungen. Er sagte, daß er sowohl wie der Lokkumer Bürgermeister die Briefe des Herzogs empfangen und gelesen und alle Anordnungen des Herzogs, soweit sie die Jagden beträfen, befolgt hätten. Das besage, daß sie für den Augenblick gehorcht hätten, daß aber, was die aufgehobene Schenkung anlange, diese Sache den Weg nehmen würde, den die Gesetzlichkeit des Reiches vorschriebe. – Er könne, fuhr er fort, der Macht des Herzogs nicht verwehren, seinem Vergnügen, jagdlicher oder welcher Art immer, nachzugehn und seiner Landeskinder sich hierbei zu bedienen, soweit körperliche Dienste in Betracht kämen. Über die Seelen habe er keine Gewalt; die habe er, Abt von Lokkum, unter seinem Stabe, habe sie in Hut genommen und habe, mit einem Wort, die ganze hülflose Lämmer-Herde, um sie vor jeder Möglichkeit der Verderbnis durch fremde Sitten zu bewahren, in seinen Pferch eingetrieben; allda wären sie freilich vor gewalttätigem Einbruch nicht sicher. Nur die Betagten, Großmütter und -väter, deren Alter ihnen Gefahrlosigkeit verbürge, seien zur Besorgung der Notdurft in den Haushalten zurückgelassen. Die Leute, deren der Herzog zur Jagd bedürfte, Holzfäller, Jäger-Burschen und Fischer, seien zur Hand für ihn.

Und er begann über Korah und seine Rotte zu predigen.

Predigen war aber seine Sache nun nicht, und er wußte es und übte diese Pflicht nur, wenn es äußerst geboten war. Er hielt anfangend den Kopf vorgebeugt, die Augen 277 niedergeschlagen und bestrebte sich, ruhig und mit Salbung zu sprechen. Er hatte in dieser Stellung aber gar keine rednerischen Fähigkeiten, redete das trockenste Ungewürzte mit vergriffenen Bildern und der einzigen Zierwendung der Tautologie in der dürftigsten Art, die er gelernt hatte, indem er sagte: uns ein Bildnis und ein Gleichnis und eine schöne Vorstellung zu machen; wodurch der Satz allerdings sich etwas verlängerte; oder: zu gewahren, zu erkennen und einzusehn. War er eine Weile auf die Weise im Gange, so merkte er, daß es abscheulich klang. Er hob die Augen empor, und augenblicks floß sein Inneres wie eine Flamme nach oben über. Denn so war sein Wesen merkwürdig an das Oben geschlossen; hatte er, hinaufschauend, Freiheit; war ihm das Irdische mit ihm selber, dem Plumpen, versunken; füllte ihn die Gewißheit um das Oben oder um Den oben, der das Leben des Lebens war, ein unermeßlich niederflutender Geist der Beglückung, in den er sich auflöste. Und nun entschwärmten unendliche Worte, flogen dahin wie Gewölk und waren eigentlich so nichtig wie Gewölk, waren zusammenhanglos, auseinander sich hervorziehend, schwärmerisch, inbrunstvoll, schaudervoll gesprochen, jedoch nur mit den Lippen, und den Samen-Federn des Löwenzahns gleich, die auf den Winden hinsegeln, aber sie nicht in sich haben. Und es dauerte dies, bis ihn körperliche Ermüdung nötigte, seine Haltung zu ändern, so daß er niederblickte und stockte, die Verzückung abtropfte und der erste Zustand wieder da war. Und trotzdem: so nichtigen Gehaltes die Predigt, wirkte der Prediger, 278 der da sichtbar in Feuer stand und brannte, dessen Inbrunst, dessen Demut, dessen Gott-Innigkeit wahr und begreiflich war und Ehrfurcht hervorrief.

Und so loderte er heut seinem Gott entgegen, hielt er in erhobenen Armen sein schönes Land, seine Äcker, seine Obstbäume und den ganzen Sommer des Menschen-Fleißes, seine lieben Wälder und die verratene Unschuld ihrer Kreaturen dem Schöpfer hin, daß er beschaue und niederblicke, gutheiße und segne, wie es Alles sich ihm darbrachte, der es zuerst dem Leben gegeben hätte. Worauf er die Brauen des Herrn zusammenzog und bewölkte, seine Lippen entsiegelte und Donner über Donner der Verwünschungen hinrollen ließ über die Einbrecher, die bewaffnete Rotte, die Metzeler, Strauchdiebe, Schinder und Teufels-Knechte, die blutwatenden, messerstecherischen, pulverdampfenden Mörder. Und der Abt ächzte, weil er zwar seine Menschen-Brüder hinter den Mauern der Insel retten konnte, die Tiere aber wie immer als Opfer tyrannischer Götter oder sich göttlich dünkender Tyrannen zurücklassen mußte. Schmerz, Ingrimm und Zuversicht kräftigten gegen das Ende seine Klage zu durchdringender Gewalt, und als er schloß und verstummte, fand er sich erschöpft zugleich und in einer seligen Schwäche vom unverzagten Sagen der Wahrheit.

Die Stirn auf die Hände legend, sprach er ein stummes Gebet, zog sich dann durch eine kleine Tür in das Innere des Gebäudes zurück, stieg die Treppe hinab und bestieg am andern Ende ein Maultier, auf dem er sich eilig der 279 Insel zu in Sicherheit brachte, durchaus nicht dem eigenen Trieb, sondern der Not der Seinen gehorchend.

Der Herzog sagte: »Er hat auf seine Weise nicht Unrecht.«

Die Gräfin fand, wenn man das Amusement der Woche für eine Mahlzeit ansehe, so wäre es unverständlich, alles Salz und Pfeffer auf einmal zu genießen.

Gleich darauf wurde das Tor des Bretterhauses aufgeschlagen; es schien mit Leuten gefüllt, den Holzknechten usw., die bei den Jagden als Treiber dienen sollten, und der Herzog stieg ab.

4

Das Gebäude war innen in drei Räume geteilt, je einen großen vorne und hinten, deren einer mit Strohsäcken und Wolldecken belegt, der andere mit Betten bestellt war, der eine für Herren, der andre für Damen; der schmale mittlere umschloß das Sandstein-Becken des Marktbrunnens. Die spärlichen Fenster waren klein und ohne Glas, hatten aber saubere Vorhänge von Kattun. Die Luft war naturgemäß wie in einem Backofen, in dem es nur, statt nach Brot, inbrünstig nach Holz roch. Ein bärtiger Mann mittleren Alters, der ohne sich zu erkennen zu geben den Führer machte, erklärte die Bestimmung der Räume und die des mittleren als Waschkabinett, hinzufügend, daß einige der angesehensten Häuser für die entsprechenden Herrschaften im Gefolge Seiner Durchlaucht offen stünden. Der Herzog äußerte zu den Seinen, man müsse sich darein und es possierlich finden; übrigens seien Zelte mitgebracht für Alle, die es nachts wohlriechender haben wollten. Der 280 Mann sagte, Seine Durchlaucht werde von Demoiselle Uhlhorn erwartet, und sie halte außerdem drei Schlafzimmer zur Verfügung. Darauf ließ der Herzog sich ankleiden, wusch sich am Brunnen, kämmte sich und stieg zu Pferde. Zu dem Bärtigen, der den Weg zum Schlosse zu zeigen erbötig war, sagte er, er habe es liegen sehn und finde allein. Er tat noch die Frage, ob die Mulde, in der die Netz-Jagd stattfinden sollte, der sogenannte Hirsch-Grund sei, worauf der Mann, der sich erschrocken bekreuzte, »Gott verhüte!« erwiderte und: der Grund liege in einem andern Teil des Waldes. Mit dem Gefolge der Gräfin, des Prinzen, des Oberjägermeisters und einiger Reitknechte verließ der Herzog den seltsam gastlichen Ort.

Wieder mahlten die Hufe im ockergefärbten Staub, nun hügelaufwärts, scholl das Schnauben und Klappen der Gebisse in der Stille und flogen die nassen Flocken des Geifer-Schaums. Die Reiter waren stumm wie die Tiere.

Der Herzog befand sich in einem gemischten Zustande. Ein Gerechtigkeits-Gefühl, das er hatte, ließ den Abt gelten, d. h. als Verteidiger seines Standpunktes, wodurch er selber sich in seinem Recht nicht beeinträchtigen ließ. Auch schien ihm das Ganze neu und, wie er gesagt hatte, possierlich, dazu von einer mittleren Größe: für Zorn zu klein, für Ärger zu umfänglich, also was paßte dafür? Andrerseits war ihm Trotz geboten, das war verdrießlich, und was sein gewohntes Behagen war, von dem Papisten als Unzucht und Niedertracht ausgerufen; das war ungehörig. Aber der Mann selbst hatte ihm gut gefallen. Unerschrockenheit 281 und Wahrheits-Liebe finden schließlich nur bei Kanaillen nicht Widerhall. Und daß der Kämpe so dick war und lächerlich, ohne lächerlich zu wirken, das war hübsch. An den Schlächtereien, die er ihm vorgeworfen hatte, war ihm selbst nichts gefällig, und der gesamte Troß, die Rotte, zu deren Korah er gestempelt worden, hatte sich im Zeitverlauf bei ihm angesiedelt, weil er nicht Nein sagte und sich ihrer bediente. Was ihn trotz Alledem wurmte, sagte er sich mit keinem Wort, empfand es aber mit unbestimmter Erbitterung um so tiefer: daß, was in Jenen wucherte und übel wirkte, doch sein Wesen war, oder dessen sichtbar gewordener Überschuß. Und weil er den Wurm beißen fühlte, aber seinen Namen nicht nennen wollte, nannte er ihn vielmehr die Tölpelei des Uhlhorn, der gewagt hatte, ihm Etwas zu sagen. Denn es hat kaum den Fürsten gegeben, der sich Etwas sagen ließ; der nicht, was nötig war, selber sagte und sagen wollte, auch wenn verkappte Ansage aus seiner Umgebung ihm erst das Wort bot. Diese Eigenschaft, dieses Sich-Nichts-Sagen-Lassen, war die Wurzel, der alle weitere Entwicklung dieses Tages und der nächsten, Blatt um Blatt, Blüte um Blüte entsproß.

Sie ritten jetzt gegen den Wald empor und sahen ein hohes eisernes Gitter, das ihn umschloß. Mittwärts ein geschmiedetes Tor stand weit offen. Sie zogen ein und in das Dunkel und die Kühle einer Allee von Edelkastanien, in deren sonnenheller Öffnung das Gelb eines Gebäudes, Fenster und eine graue Freitreppe mit roten Blumen erschienen. Im Näherkommen wurde eine rosige 282 Gestalt auf den Stufen zu einer jungen Dame in ungepudertem braunem Haar, gekleidet nach der Mode in einen blaßroten Seidenstoff, der in den Falten graulich schimmerte. Ihre bloßen Unterarme und Hände hingen vorn lose über die Puffen des Reifrocks herab. Ein kleines Taschentuch wurde von der einen Hand aus der andern genommen und wieder zurückgenommen und verschwand darin.

Suzette war wie ihr Vater unerschrocken gegenüber dem Wesen aller großen Dinge, aber empfindlich gegen die Erscheinungen, die sie aufregten und beängstigten, um so mehr, da sie in nahezu völliger Einsamkeit bisher gelebt hatte und nie einem Angriff ausgesetzt war. Naturen wie sie kommen bei Stürmen erst zur Entfaltung, wenn sie die Besinnung verloren, mit ihr auch die Furcht, weil dann ihr Ursprüngliches über das Bewußtsein hinweg die rechte Waffe zum gelingenden Hieb nicht verfehlt. Ihr Herz war ein Hammer, ihre Handflächen betaut, ihr Gesicht war wie Molke, die Augen wie Kohle.

Fünf Schritte vor ihr warf der Fürst mit dem kalten »Ah!«, das er zu jedem Gebrauch mit wenig abweichendem Ausdruck bei sich hatte, die Rechte im Handschuh empor, zog ihn ab, schwang sich aus dem Sattel und ging um sein Pferd, worauf er Suzette, die herbeigeeilt war, auf der untersten Stufe traf, die sie so groß machte wie er. Die Augen in die ihren heftend, zog er ihre Hand an die Lippen, indem er rasche französische Entschuldigungen wegen seines Überfalls abhaspelte, stellte darauf seine 283 Begleiter vor und fragte ohne Übergang: »Giebt es hier Fasanen?«

Das war so eine seiner Fragen nach einem Gegenstand, den er sich einfallen ließ, weil er außerhalb aller Natürlichkeit lag; aber Suzette erschreckte die sehr unerwartete, und sie erwiderte nur leise, daß sie einige goldne besitze; sah sie auch im Augenblick blutend und ohne Köpfe herumtaumeln.

»Goldne? Schön, wie schön! Na, aber nichts für die Jagd«, sagte Woldemar, die Treppe hinansteigend, und fragte weiter, ob ein Saal im Hause wäre. –»Ein kleiner,« war die Antwort, »für vierzig Personen, mehr nicht.« Das genüge denn, meinte er, ob er für den Abend darüber verfügen dürfe, für ein Souper, seine Köche würden kommen, Speisen, Weine, Alles. Nur von der Wirtin-Pflicht des Vorsitzes könne er sie nicht entbinden.

Suzette hatte sich inzwischen gesammelt, das Abstoßende seines Eindruckes verwiesen, das Ansprechende hervorgerufen, und sagte nun ruhig: »Um keinen Preis.«

»Um keinen Preis? Ich habe noch gar keinen geboten, Demoiselle Uhlhorn«, erwiderte er, plötzlich voller Übellaune bei dem neuen Widerstand, und die erste Silbe ihres Namens durch eine unmerkliche Dehnung fast kindisch verzerrend.

Sie lächelte, als ob es verboten wäre, schwieg und fragte dann, ob er den Saal zu sehn wünsche. »Ich wünsche«, sagte er, »Sie heute abend in dem Saal zu sehn. Ich wünsche, ich befehle, ich will es. Ich will keine Widerstände mehr, keine Ungezogenheiten, Vater und Tochter und so 284 weiter, bin zu meinem Vergnügen gekommen, tue Niemand nicht Schaden, gehorchen Sie.«

Nun lächelte sie, hell, schön und erlaubt, erhob leicht ihre Hände, verneigte sich und sprach: »Wenn Gott es will, werde ich da sein, aber wenn nur Sie wollen, werde ich nicht.«

Er sah sie an und fand sie ungemein hübsch und geladen mit Haß, Unbotmäßigkeit und vor allem mit einer empörenden Fremdheit, einem vollkommenen Anderssein als alles Bekannte, das sein Begriffs-Vermögen verwirrte und ihm für einen Nu drauf und dran schien, sein eigenes ganzes Sein durcheinander zu stürzen. Er stellte sich daher vor ihr auf, faßte ihr eines Handgelenk, zog es gegen sich hoch und sagte kalt, beißend und nachlässig: »Na, Puppe?«

Sie aber riß sich los, trat zurück, und wie ein Kind in höchster Empörung die Fäuste gegen ihn schüttelnd, rief sie: »Oh, wenn ich dem Satan in dir nur an den Hals könnte –« Sie verstummte, drehte sich um und lief davon mit den herausgeweinten Worten: – »was für eine schöne Seele solltest du kriegen!«

Als der Herzog, zuerst verdutzt durch das menschlich Persönliche, das ihm das höfisch Allgemeine des unmöglichen Auftritts fast verbarg, sich umwandte, sah er die Einfalt des Prinzen lächeln und die Gräfin gesenkten Gesichts in Betrachtung ihrer Reitgerte stehn, deren Schmitze sie langsam anhob. Er riß sie ihr aus der Hand, tat zwei Lufthiebe, schmiß sie fort und riß sich den Kragen auf. 285

Suzette in ihrem Zimmerchen saß und keuchte. Zorn und Ohnmacht und Jammer arbeiteten sich in ihr ab, während die Tränen gleichsam aus einer vergessenen Leitung ununterbrochen hochstiegen und abliefen, ruhig und gleichmäßig. Sie sah sein Gesicht, das erste menschliche, das sie im persönlichen Innersten etwas anging, das aber unmenschlich war, vom Augenblick zu Unlieblichkeit entstellt, und an sich verwahrlost, ein schlechtes seelisches Flickwerk, wo Alles unkenntlich durcheinander zuckte, was in reinliche Ordnung gehörte, Großes und Kleines, Besonnenheit und Achtlosigkeit, Tatkraft und Unmäßigkeit, Sinnlichkeit und Würde und Wärme und Erregbarkeit – Alles durcheinander in einer Unordnung, worin der Besitzer all dieser Verfügbarkeiten ewig fehlgreifen mußte. Sie konnte die Nähte sehn, die das Zusammengestückte hielten, und daß die einen am Reißen waren, angerissen die andern. Das Ganze wurde vor ihren Augen zu einem Stückwerk von Metallen verschiedenster Art, und es jammerte in ihr: O das Feuer, das Feuer, das es Alles zu Einem glüht, wenn es noch sein kann!

Sie erkannte nun aber erst die Ohnmacht ihres Vorhabens, und daß es leichter ist, einen Verbrecher zum Insichgehen zu bringen, als einen Gedankenlosen aus seiner Gewohnheit zu sprengen. Aller Mut jagte auf Wogen ihres Blutes davon. Beim Bemühn, sich zu festigen an der Vorstellung ihrer Tiere, der unzählbaren, der rätselhaft vermummten Wald-Geister, der unkenntlichen Gottes-Seelen bewußtloser Sanftheit, fern, unberührbar in einer andern Welt: 286 erschien ihr nur ein Schlachtfeld und ein Getümmel von Schmerz, Blut und Ängsten, in dem sie mit verging. Was übrig blieb von der Blut-Vision, war in Finsternis das grüne Eiland der Fasanen, die wie leuchtende Farben-Sterne sich in geheimnisvollem Regelreigen durcheinander bewegten.

5

Das Souper sollte um 7 Uhr abends beginnen; eine Viertelstunde vorher waren die vierzig Teilnehmer, die erwählt waren, Herren und Damen, versammelt. Der kleine Saal war höchst einfach; die Wände hatten dunkelbraune Bekleidung von Eichenholz; messingne Kronleuchter, schlichte Arme im Stern um große Kugeln, hingen von der geweißten, mit Balken gevierten Decke. Von den Schmalseiten war die eine ohne Wand, statt deren über drei langen Stufen vier Säulen dastanden, schmucklos schlank aus geweißtem Stein. Dahinter lag eine kleine Halle als Übergang in den Garten. Die Beleuchtung gaben ein Hundert Kerzen in den Kronen und in Silberständern auf der hufeisenförmigen Tafel. Sekunden nach dem Siebenuhr-Schlage erschien der Herzog, grüßte umher und fragte: »Wo ist unsre Wirtin?« Der Truchseß flüsterte, sie habe ihr Erscheinen zugesagt, jedoch gebeten, auch ohne sie zu beginnen. Herzog Woldemar begab sich an seinen Platz, der unter den Säulen war, an der geschlossenen Seite des Hufeisens. Die Diener fingen an mit den Speisen, die Weine in die Gläser, die Gespräche über die Lippen zu laufen. Nach Minuten war angeregtes, wiewohl noch 287 gedämpftes Geplauder im Gange. Der Herzog zeigte beherrschte Übellaune.

Plötzlich wurde sämtliche Anwesenheit von einer einheitlichen Bewegung durchlaufen, die sich gegen die Säulen wandte, und der Herzog, da er sie gewahrte, drehte sich um und stand langsam auf.

Zwischen die Säulen hinter ihm war in einem glatt fallenden weißen Kleid Suzette getreten. An ihren herabhängenden Armen befestigt sah Jedermann jenes Instrument der Gerichtsbarkeit, das ein ›Stock‹ genannt wird. Es ist ein poliertes Brett mit zwei Löchern, geräumig genug zum Hineinpassen der Handgelenke. Der Länge nach durch das Brett, also auch durch die Löcher, läuft ein Spalt, so daß es vermittels eines Scharniers am einen Ende aufzuklappen ist; werden nun Jemandes Handgelenke in die Löcher gelegt und das Brett geschlossen, so lassen die Hände sich nicht herausziehn. So hing es über den Händen Suzettes. Diese hielten außerdem eine lange Kette, die sie im nächsten Augenblick um eine der Mittelsäulen gelegt hatte; in der Stille, die entstanden war, hörten Alle ein Schloß einschnappen, und es war sichtlich, daß die Kette an einem eisernen Band endete, welches Suzettes Leibmitte umschloß. So stand sie denn, sehr blaß, etwas lächelnd bei gesenkten Augen, übrigens ruhig, am Pranger.

Es blieb still. Der Herzog ging hin, faßte den Stock an, besah sein Schloß, streckte die Finger in den Leibring, hob die Kette, die an der Säule hing, sah auch ihr Schloß an ein Schnappschloß, das nur zum Öffnen einen Schlüssel 288 brauchte – und ließ sie fallen; es klirrte. Dann verbeugte er sich gegen Suzette, kam die Stufen wieder herab, ergriff sein Glas mit Rotwein, hob es und sagte nach einer Sekunde: »Meine Damen und Herren, ich bitte um die Gesundheit unsrer allzubescheidnen Wirtin Demoiselle Uhlhorn. Da es ihr beliebt, unserm Mahl stehend beizuwohnen, fühlen die Herren sich zur entsprechenden Ehrerbietung verpflichtet.« Er trank, setzte sich und begann ein Gespräch mit seiner Nachbarin. Die bei Suzettes Erscheinen aufgestandenen Kavaliere traten vor ihre Stühle und hatten nach rasch vorübergehender Stockung einen Munterkeits-Anlaß in der Sache gefunden, ließen sich von ihren Nachbarinnen das Fleisch zerteilen und taten, wie es die Gewohnheit beim Speisen vom Bufett war. Später verwechselten sie sich zum Scherz mit den Dienern, nahmen ihnen die Schüsseln weg und reichten sie nach allen Seiten kreuz und quer über die Tafel. Denn die Weine wirkten.

Niemand sah zu den Säulen hin. Demoiselle Renée, die Darstellerin der Athalien, Phädren und Esthern, sagte zu ihrem Nachbarn: »Theater, aber schwach gespielt.« Herr von Lublinsky versetzte mit Respekt: »Die neue Kunst: Theater zu machen, ohne zu spielen.« An einer andern Stelle der Tafel tat der Prinz Lippe die Frage: »Was ist das für'n Ding, das da?« »Ein Stock.« »Nein, ich meine das nicht. Ich meine das, woran sie steht?« »Durchlaucht meinen wohl einen Pranger?« »Richtig, Pranger. Dann will ich mal sagen: Sie steht dran, und er sitzt dran.« 289

»Und infolgedessen«, fuhr seine Nachbarin fort, »steht sie nicht dran.«

»Sondern er steht dran.«

»Nein, er sitzt, wir Alle stehn dran«, sagte ihr linker Nachbar.

»Ich sitze«, sagte sie.

»Ja, die Damen sind aufgesessen!«

So wurde der abgezehrte Hase von Witz zu Tode gejagt, während der Herzog kochte. Er hatte bald keine Besinnung mehr; die Beleidigung, daß sie, Suzette, die Teilnahme an seiner Gesellschaft der Entwürdigung des Prangerstehens gleichsetzte, biß ihn, so fein und unausweichbar und mit solcher Realität sie ins Werk gesetzt war, vielmals schärfer als die Scheltreden und die Schandnamen ihres Vaters, wohinzu kam ihre Weiblichkeit, ihre Schönheit, und daß es ihm widersinnig und fast höllisch vorkam, in ein solches Verhältnis mit einem Weibwesen gebracht zu sein, und dies vor aller Welt. Ihm war zum Bersten; er glaubte ihre Blicke, die sie freilich zu Boden hielt, auf seinem Rücken brennen zu fühlen und kochte daran, schüttete Wein aus, um zu löschen, erkaltete für einen Nu, prasselte wütender auf im nächsten und hätte vor Hülflosigkeit tanzen mögen wie der Bär auf Platten.

Suzette ihrerseits hatte das Äußerste gewagt, um dem Entarteten die Bekanntschaft mit einem Menschentum aufzuzwingen, da sie seinem Befehl, zu erscheinen, gehorchen mußte, die Art seiner Umgebung mit dem ersten Blick von den Zügen der Gräfin abgelesen hatte und 290 folglich um jeden Preis nur Eines versuchen wollte: ihn verwirrt zu machen. Nun aber, wie sie dastand, konnte Niemand, der wirklich am Pranger stand, mehr Scham empfinden als sie. Kleine Blicke, die sie in den Saal wagte, hatten ihr freilich zu Anfang in dem heißen Schimmer der vielen Kerzen ein augenerfreuendes Bild zarter Farbigkeit erwiesen, dieweil auch die Fräcke der Kavaliere von sehr lichten Seiden waren, zitronengelb und weiß, seegrün und rosenfarb, himmelblau und scharlachen, und meist über und über mit Silber oder farbigen kleinen Blumen in Sträußen und Girlanden bestickt, wozwischen einmal ein dunkles Violett oder Braun mit Gold – des Herzogs – sich angenehm hervorhob. Hierzu das viele Weiß aller Puder-Perücken und der Damen-Gesichter, die mit ihren getürmten Frisuren maskenhaft eins schienen, auch der nackten Arme und Busen, deren weibliche Sichtbarkeit in den Ausschnitten, hochgedrängt von den Mieder-Panzern, freilich erschreckte. Mehr aber dann taten es die Augen, diese Nacktheit der Augen, deren jeder Blick eine innere Bloßstellung schien, ein Geköder und Verheißen, – und plötzlich, während sie nicht mehr hinsah, bildete sich in ihr das ganze Getümmel mit sitzenden Frauen und stehenden Männern, mit den Gebärden des Essens, Trinkens, Lachens, Schwatzens und Sich-Ansehens, bildete sich zu einer Masken-Versammlung, die zugleich enthüllt war in einer abscheulichen Art Zierlichkeit, und wo Alles Schamlosigkeit war und Verstellung, Lüge und Gefallen an der Lüge, Unkeuschheit und Spiel mit der Keuschheit, 291 und alle Gesichter waren verdorben von diesem Zwiespalt. Die Aufrichtigkeit schien aus der Welt beseitigt, aber in allen Gesichtern saß eine Dirne, die sie mimte, ohne jedoch jemals Andres darstellen zu wollen als ihre Geste; ihr Wesen war nirgend, wesenhaft war hier überhaupt Nichts, ausgenommen – Etwas, das Suzette nicht kannte, dessen Dasein sie diesen Abend zum erstenmal erfuhr, wie Einer das Feuer erfährt, der auf dem Holzstoße angelangt ist. Sie brannte.

Nach langer Zeit schreckte ein übermäßig lärmendes Gelächter Suzette auf, sie sah den braungoldnen Herzog, der im Stuhl zurück lag und gegen das herabgeneigte Gesicht eines halb hinter ihm Stehenden hinauflachte. Es dauerte, bis er genug hatte, und sie hörte ihn rufen:

»Bitte um eine Minute Stille für Graf Quadt!«

Dieser, der sehr lang war, einen schwarzen Schnurrbart drehte und mit breiter belegter Stimme in der Mundart der See-Gegend sprach, fing an:

»Messieurs et mesdames, Ihnen ist bekannt, daß um die Mauern des Klosters, das Sie nicht betreten werden, die Perlen-Schnur meiner unschuldigen Kinder-Tage geschlungen ist, und daß ich nach dem Willen meiner ärmsten Eltern darin verschwunden wäre und es daher auch innen wie meine Rocktasche kenne. Nun will ich mal sagen, daß ich heut nach dem Ritt Lust auf ein Bad bekam, und als ich in dem Bade war, eine Lust auf meine Kinderzeit und daher auf die Insel, und als ich infolge davon auf der Insel war, eine Lust – ich bitte um Verzeihung, im Hemd, 292 aber es war naß –, eine Lust, wie gesagt, auf das Dach zu steigen und nach dem hochwürdigen Herrn Abt zu fragen, ob er da sei. Es war eben nach der Vesper und Niemand im Garten, und da mir die Lage der hochwürdigen Zimmer bekannt war, kannte ich auch den Kamin. Also turnte ich zu ihm hinauf und neigte mich und rief hinab: Uhlhorn! Uhlhorn! – Und keinen Augenblick später vernahm ich Antwort aus der Tiefe: Herr, rede, dein Knecht hört!«

Seine Stimme wurde im tobenden Gelächter dröhnender und trillernder Kehlen unhörbar. Als es sich legte, setzte der Sprecher wieder an:

»Da rief ich in Gottes Namen hinunter: Du kannst mich –«

Er verstummte. Sekundenlang war Stille. Von der dann aufbrüllenden, diesmal fast nur männlichen Lache vernahm Suzette fast nur den Anfang. Als die Anwesenden alle, wie auf Verabredung, plötzlich zu ihr hinsahen, stand sie nicht mehr, sondern lag am Boden.

6

Sie war erst nach Mitternacht zu Schlaf gekommen – Suzette –, und sie erwachte bei Morgen-Grauen von einer großen musikalischen Süßigkeit, die ihren Schlummer durchfloß und ihn freundlich in Wachsein auflöste. Die Süßigkeit verlor hierbei Einiges, doch nicht Alles, indem sie irdischer wurde. Suzette hörte die Griffe und das Schwirren von Saiten-Instrumenten und bald den 293 Gesang einer männlichen Stimme, wie sie nie eine gehört hatte, die ihr das Mark entsog und das Herz raubte; eines Tenors vom Schmelz eines italienischen Paradieses, der in dieser Sprache eine Arie sang. Die Worte verstand sie nicht, ausgenommen die mehrmals wiederkehrenden: O bocca, bocca bella, deren Bedeutung sie übrigens auch nicht wußte. Das Fenster war offen; die Luft noch grau. Sie lag hinter ihren Bettgehängen von Musselin, die Hände unter dem Kopf, etwas matt vom gestrigen Tage, aber ohne Erinnerung, in einem Dasein, das nicht ausgedehnter war als die tönende Minute; wunschlos.

Als nach einer Pause der Sänger ein zweites Lied anstimmte, das einen leichteren Gang hatte, kam sie in einem übergeworfenen Schal an das Fenster und beugte sich behutsam vor. Unter den Garten-Bäumen etwas abseits stand eine kleine Zahl Menschen mit Gitarren und Mandolinen, gerade unten auf dem Kiesweg ein Mensch in schwarz vertragenen Kleidern mit hängenden Knieschleifen, der, den Hut in der Hand, fang, ohne emporzusehn. Suzette, die zwar nicht den Herzog in dem Sänger erwartet hatte, war doch enttäuscht, nicht ein engelhafteres Wesen zu sehn, fühlte aber bald Mitleid mit seiner Dürftigkeit, insbesondere der blonden und dünnen Haare, auf die sie hinabsah, und holte nach kurzem Besinnen ihre Ringe vom Spiegeltisch, setzte sich an den Fenster-Rahmen und betrachtete sie, um einen auszusuchen. Als sie ihn hatte, war auch das Lied aus. Nun beugte sie sich hinaus und über ein schlaffes, weißgraues, kummervolles Gesicht 294 zwischen blonden Locken, das alterslos und schwachsichtig aus der Tiefe heraufblickte, sogleich aber in ein Lächeln zerschmolz, das etwas Ergreifendes hatte. Dann verbeugte der Mensch sich, den Hut schwenkend und mit dem linken Fuß ausschlagend, während sie »Danke schön!« hinunter rief, »danke vielmals! Und bitte nehmen Sie dies zur Erinnerung!« Sie ließ den Ring fallen, sah den Mann sich bücken und im nächsten Nu den Herzog unter der Hauswand hervortreten, welcher den Hut vom Haupte zur Seite stieß, um ihn so zu halten, während er sagte:

»Keinem zu danken, liebe Demoiselle, teuerstes Fräulein, wir sind in Ihrer Schuldigkeit.« Sein Gesicht war grau, die umränderten Augen glühten, sein Mund machte, da er in Absätzen von zwei Worten sprach, merkwürdige Kreisbewegungen hinter jedem.

»Ich danke trotzdem auch Ihnen,« sagte sie herzlich und wollte sich zurückziehn, als er weitersprach:

»Die Frühe ist außerordentlich kühl, erfrischend und angenehm. Sollte das Fräulein, wie ich annehmen möchte, reiten können, so würde ich sie bitten, ihr Etwas zeigen zu dürfen.« Sie bejahte ohne Zögern, erschien dreiviertelstunde später zum Reiten gekleidet unter der Haustür und sah am Fuß der Freitreppe den Herzog und einen Diener, der zwei Pferde hielt, ein fremdes gelbes und ihr eigenes kleines braunes. Durch die Garten-Bäume stachen nun die langen Lanzen der Morgen-Sonne, und es war überall hell. Als sie und der Herzog im Sattel saßen, blickte die Unschuldvolle ihn mit Kindes-Erwartung an; ihre 295 Hoffnungen waren wie ihre Unwissenheit unermeßlich. Er vermied jedoch ihren Blick, indem er sich vorbeugte und mit »Permettez!« ihren Trensen-Zügel ergriff, den er nicht wieder losließ, um das Haus durch den Garten waldeinwärts lenkend.

Sie gelangten, schweigsam Beide, zur oben beschriebenen Mulde und ritten hinein. Die war überall bevölkert mit Berittenen, Herren und Damen, Pikören und Huntern, die nicht viele, aber große Hunde hielten. Suzette, auf einmal wie in einem Traum, sah auf dem Rasen einen gefesselten Hirsch liegen, der ein lebendiges großes, dies im Schwarzen bläuliche Hirsch-Auge zeigte, das Suzette sehr gut kannte. Und wenn es auch nicht dieser Hirsch war, den sie jahrelang zum Freund gehabt hatte, als kaum Geborener gefangen, in ihrem Garten herangewachsen und zu besonders riesiger Größe gediehen, erst vor Kurzem leider unter dem Einfluß der Frühlings-Brunst auf und davongegangen, – wenn es auch der nicht war – denn sie erkannte es an den viel weniger Enden, die dieses Geweih hatte –, so wars doch genug, um zu erschrecken, allwissend im Nu aus der Unwissenheit. Oder träumte sie doch? Wenn die Wirklichkeit übergangslos zur Unmöglichkeit wird, scheint es Traum.

Es ging um Suzette mit Traumgeschehn vor, was sie sah: das Hinüberlenken der Berittenen zur waldwärts gelegenen Mündung der Mulde, das Keuchen, Jappen und die Aufregung der Hunde und überall ein Sich-Vorbereiten ohne Laut – so schien es –, das ihr in dem 296 Dumpfheits-Gefühl aller Sinne – nur der des Gesichts war klar und zugleich geblendet – wie die Vorbereitung zu ihrer Hinrichtung vorkam. Sie sah einen Teil der Mulde hell in der Morgen-Sonne und Lichter im Dickicht, den andern im Schatten; sah das Aufleuchten eines roten Fracks; sah all die herzlosen Farben, bestimmt und nüchtern, und jetzt, unfähig zu tieferm Erschrecken, das Zuspringen der Henkerlinge alias Jägerburschen, welche die Fesseln des Hirsches lösten. Er blieb liegen, empfing einen Tritt und erhob sich. Suzette fuhr zusammen, weil Schüsse knallten. Der Hirsch, an dem ihre Augen hingen, tat einen Sprung, sie dachte: nun fällt er, und es ist zu Ende. Er begann aber zu laufen, trabte nach links, dort knallte es, er lief geradeaus, die Mulde empor, der Tribüne zu. Die Hunde jaulten und überstürzten einander springend. Der Hirsch war verschwunden, eine Stimme rief: »Hunde los!« Suzette jagte die Senkung hinan neben dem Herzog, unter der Tribüne hinweg; hinter ihr dröhnte der Weltraum von Hufgetrommel.

Sie waren immer vorn. Die Schneise war im Nu durchstrichen, sie hielten, blickfrei über Erde und Himmel. Da kreisten Ebenen, Gefilde und der See, und Suzette nahm sich zusammen. Wieder sah sie den Hirsch, klein, unten in den Feldern, hinter ihm die gestreckten Leiber der Rüden. Nun tat sie wieder den ersten festen Griff mit den Augen, hinein in das Land, in die blaue Kuppel der Allmacht, in die selig erfüllte Himmels-Tiefe des Sees; sie riß die Zügel hoch und rief gegen den Unhold an ihrer Seite: »Herr im Himmel, sehn Sie denn nichts und nichts?« 297

Der Herzog, der verfolgte, ob die Flucht unten die befohlene Richtung erhielt, fragte heiser: »Was?«

»Gott und die Erde!« sagte sie wild.

»Unsinn,« sagte er, »der Hirsch kommt mir weg,« packte ihre Trense, und sie schossen bergunter.

Damit der Hirsch das eigentliche Ziel, den See, nicht zu frühzeitig erreichte, wurde er von einer weitgezogenen Jäger-Kette mit Luft-Schüssen abgetrieben, und so fuhr die Jagd rechtshin über die Wiesen, wo das Grummet wogte, über die Klee-Äcker, in den Roggen hinein und hinaus, in die Kartoffeln hinein und hinaus, über Klee, durch Hafer, durch Gerste, durch einen Bauern-Garten, über Hecken, Kohl, Zäune, Ackergeräte, Wagendeichseln, eine Dorfstraße hinunter, an der offenen Kirchtüre vorbei, in eine blaue Woge hinein – Flachs –, in den Roggen, den Weizen, den Hafer, über einen Bach in ein Wäldchen, durch riesige Grummet-Wiesen – 4 mal 120 sind 480 Hufe, und so im Bogen zurück gegen den Markt Lokkum und seitab gegen das Schilf am See.

»O Gekreuzigter!« sagte Suzette, als die Pferde still standen.

Am See entwickelte sich nun ein bewegtes Schauspiel. Der Hirsch schwamm schon im Tiefen, sein Haupt mit den Stangen zog ein langes blitzendes Dreieck von Furchen nach sich, und rundum wimmelte die blaue Fläche von Hunde-Köpfen, die ruckweise hierhin und dorthin stießen, denn sie waren ratlos, hatten im Wasser die Witterung verloren und nur ihr kurzes Gesicht. Sie schossen hin und 298 her und zeigten unmäßige rosige Fleischlappen ihrer Zungen, während andre sie gekrümmt wie Wappen-Tiere in den offenen Rachen hielten. Suzette, erhitzt und körperlich aufgeregt, sah nur noch das Sichtbare ohne Empfinden und eben den Herzog, der abgesprungen war, dem Jemand ein Gewehr reichte, das er anlegte, aber wieder absetzte. Denn indem brauste die Reiterei über die Ufer-Wiesen; an drei, vier, sieben Stellen schossen die Gäule in schlanken Sätzen ins Flache, bäumten sich, stiegen, plantschten vorwärts, schwammen endlich, versinkend bis auf Hälse und Häupter und dahinter die bunten Reiter. Warum das geschah, wußte wohl Niemand, außer zu dem Vergnügen des Hineinspringens, und daß vielleicht Jemand ersoff. Das Ufer rundum säumte sich mit Reitern und Reiterinnen, mit den gelben, grünen, roten Fräcken, Geschrei und Gelächter. Schüsse ballerten immerzu, Rauchballen flogen weiß. Auf den Damm galoppierte eine Kavalkade los und daraufhin, aber er war zu schmal für sie; linker und rechter Hand sprangen sie in das Wasser hinunter, Weiber-Stimmen kreischten, Eine schlug in den Fluten um sich, – Halloh und Hussah und Schüsse und Hörnerblasen. Die nur noch aus Wahrnehmung bestehende Suzette fand es erregend und fast heiter.

Und nun sah sie das gelbe Pferd Herzog Woldemars hinter dem Rest jener Kavalkade über den Damm fliegen. Schreie schollen: Der Herzog! und die vor ihm Reitenden hielten am Ende des Damms, wo die Holzbrücke hochgezogen war. Als Suzette das gelbe Pferd mit dem Reiter 299 im vollen Rennen auf die Wasser-Fläche hinabsetzen sah, schnitt es ihr langhin durch das Empfinden mit einem süßsalzigen Jauchzen von Schreck und Staunen über die Schönheit des weiten Bogens, in dem der Pferde-Leib für unendliche Sekunden springend schwebte. Gleich darauf gewahrte sie unfern den Hirsch, der da hoch über dem Wasser stand und den Kopf warf: er hatte die Untiefe erreicht, die sie kannte. Augenblicks kamen auch die Hunde unter Hussah! und Hetz! Hetz! der Zuschauer von überallher herangeschossen; und von links her nahte der Herzog im Wasser und stieg mit seinem Pferde, noch im Sattel, über die Sandbank herauf, eben als der Hirsch sie am andern Ende verließ: eine Fontäne stieg, wo er sich hineinstürzte. Suzette sah den Herzog einen Spieß heben; der Stahl blitzte, aber er warf nicht, die Entfernung war schon zu groß. Auch Suzetten entging das Weitere durch den Abstand. Der Hirsch erreichte schwimmend das Insel-Asyl, von den gastlichen Mönchen mit der Wölbung des Boots-Hauses empfangen, die sich über das Wasser erhob. Suzette hörte eine Stimme nahebei sagen: »So haben wir doch für die gottverdammten Mönche gejagt.«

7

In keiner Zeit später konnte Suzette sich erinnern, womit der Raum zwischen dem Ufer des Sees und ihrem Erwachen gegen Mittag im Bett ausgefüllt war. Es schadete ihr nicht, daß sie das Gedächtnis verloren hatte, sie würde sonst eine Kleinigkeit zu bereuen gehabt haben. In ihrem 300 Leben früher war es nicht vorgekommen, daß sie die Hand gegen ein Geschöpf aufgehoben hatte; aber in dem Augenblick, wo jene Spott-Worte sie erinnerten, daß sie ein Herz hatte, schlug sie mit allen vier Zügel-Enden auf den Hals ihres Pferdes, und dies aber und abermal, indem es sie heimwärts jagte, wobei das längst erschöpfte in seiner Folgsamkeit leistete, was es zu leisten vermochte. Sie schlug um anzutreiben, aber auch weil sie die Besinnung verloren hatte und schlagen mußte, gleichviel was; Pferd schlägt man, sich selber meint man; und weil mit einem Wort aus aller erfahrenen Rohheit jenes Morgens ein Gift-Tropfen in ihr Innres gespritzt war, um das Geringe zu entzünden, was von Ungebärdigkeit, Grausamkeit, Unsinnigkeit in ihrer so gut wie in jeder Menschlichkeit dalag. Solange sie ritt, wußte sie Nichts außer Reiten; sie zischte gleichsam wie ein Dampf-Strahl aus dem Ventil und verlor sich völlig im Schlaf.

Nach langer Umnachtung fingen die Bilder ihres Blutes an, ihr Kaleidoskop spielen zu lassen. Sie ging über den Geflügelhof, um die Fasanen zu füttern. Es war ein Keller-Gewölbe und darin kein Fasan, sondern häßliche, schwarze stille Vögel, die aber bei näherem Zusehen gar nicht da waren; und nun saß ein Fasan auf einem Pfahl, der pur golden war, gleißend im Finstern. Sie wollte ihn herabnehmen, aber er bewegte sich geräuschlos davon, und es begann eine qualvolle Jagd durch lichtlose Zimmer, Flure, Treppen, immer dem ferne lautlos um Ecken verhuschenden Schimmer-Tier nach. Außerhalb war ein starkes 301 Gebrause; sie dachte: Das Meer . . . und sah es gleich darauf von der Höhe eines Turmes, auf dessen Plattform sie herausgetreten war. Es donnerte laut, war schwarz, mit bleichen Schäumen gestreift, und unendlich fern in der Nacht schwamm die grüne Rasen-Insel, auf der die buntfarbenen Zauber-Vögel ihre langen Schweife im Regel-Tanz durcheinander zogen.

Erwachend lag Suzette in einer inneren Stille,. die erquickte; und dann bildeten sich einige wohltönende Wort-Zeilen, als wären sie ihr schon im Schlaf eingeflößt worden:

Goldfasan, o Goldfasan
Auf dem fernen Wiesen-Plan.
Wer den Zauber-Reigen bricht,
Führt die Seele in das Licht.

Während sie diese mehrere Male angenehm wiederholte, vernahm sie das Gebrause ihres Traum-Meeres wieder, erkannte jedoch, daß es Regen war. Auch Donner rollte, es blitzte schwach; das Gewitter war über ihren Schlaf hingewandelt und erinnerte nur noch aus der Ferne an sich. Ihr fiel ein, welche Guttat der Regen für die Gefilde bedeute; dann, daß mit diesen Gefilden Etwas vor sich gegangen war; dann die Hetzjagd der Hundert, und nun hatte sie Alles wieder.

Sie sprang sogleich aus dem Bett und begann wie eine Irre dies und jenes zu tun; goß Wasser in das Becken, putzte dann den Spiegel (in der Vorstellung, ihr Bild daraus entfernen zu müssen), wusch sich, suchte nassen Gesichts nach dem Handtuch überall, wo es nicht war, 302 weinte, weil sie es nicht fand, hatte es auf einmal, trocknete das Wasser und bewußtlos weiter die fließenden Tränen, indem sie dachte: Wie soll das je trocken werden? Aber dann kamen keine mehr, sie kleidete sich an, dabei im Zimmer umhergehend und leise ächzend, jetzt singend: Goldfasan, o Goldfasan, plötzlich von einem tränenlosen Schluchzkrampf geschüttelt, aus dem sie mit einem Ruck in ein Dasein vollkommener leerer Leichte hineinfuhr. Sie wartete, ob Etwas komme; aber Nichts, kein Gedanke; und so, leicht, klar, kühl, obwohl nicht ganz ihrer bewußt, verließ sie den Raum, stieg eine Treppe nieder, stand in dem Saal, unwissend wie hereingekommen und wozu, wunderte sich, daß er dunkel war, vielmehr nur matten Tages-Lichts, schritt durch die Säulen, die Halle und blieb über der dortigen kleinen Terrasse stehn.

Gegenüber war der Hochwald, dunkel im gedämpften Licht des noch bewölkten Himmels. Suzette atmete tief einsaugend die Luft nach dem Regen, die satt war von Wohlgerüchen aus Laub, Erde, Geranien, Rosen und Tannennadeln. Sie ging über die Steinfläche bis an die Treppe und traf so auf den Herzog, der im Gespräch mit einem Begleiter eben den Fuß auf die unterste Stufe setzte. In der nächsten Sekunde war er allein und stieg zu ihr herauf.

Obwohl er mit ruhiger Höflichkeit sprach, sah sie sein Gesicht durch und durch kalt und bedrohlich. Er sagte:

»Sich selber vor uns an den Pranger stellen, ist nicht weniger Gewalt-Anwendung, als meine Hetzjagd war, und wir dürften quitt sein.«

Was ist quitt? dachte sie, und als sie es begriff: Wem 303 kann an so Etwas liegen? – »Wir wollen nicht mehr davon sprechen«, erwiderte sie.

»Also nicht mehr. Aber was? Ich könnte mich sehr beklagen. Was bin ich für ein Mensch oder Ungetüm, daß man mir mit Armen und Augen voll Feindschaft entgegen kommt? Ich bin das nicht gewohnt.«

Sie lächelte, indem sie sagte: »Wenn die Gewohnheiten aufhören, fängt das Leben an.«

»Ah, sehr freundlich. War das auch bei Ihnen so?«

Sie erschrak über ihre eigenen Worte und flüchtete sich in Beschuldigung: »Was ich heute mit ansehn mußte,« sagte sie, »mußte ich allerdings verabscheuen.«

»Was denn? Ja, was denn nun, möchte ich wissen. Ein Hirsch ist gejagt worden. Geschehn ist ihm nichts, und seine Ängste überschätzen Sie vielleicht. Er hat seine Angst in den Beinen, er läuft so gern wie Pferde und Hunde, und wenn sie ihm nah kommen, braucht er Hufe und Stangen. Dabei ist er wild, aber er fürchtet sich so wenig wie ich, wenn man mir an den Kragen will.«

Ihn immer ansehend, an die Brüstung gelehnt, verschlungener Hände, das Gesicht unmerklich seitwärts geneigt, zugleich stolz und ergeben unter seinen funkelnd harten Augen-Sternen, die ihr lieber waren als Alles, sagte sie:

»Und die Felder?«

»Weil sie überritten sind? Welch ein Schaden! Das Meiste steht wieder auf, den Rest vergüte ich.«

»O Himmel,« rief sie aufbegehrend, »von Geld-Schaden rede ich nicht!« 304

»Giebt es noch einen, in aller Welt?«

»Haben Sie denn nicht einen Gedanken, Durchlaucht, für das Korn, für den Klee, für all die goldne verletzte Sanftmut und Süße?«

Er schien durchaus nicht zu verstehn. »Verletzte?« fragte er. »Goldne Sanftmut, sehr schön, meinetwegen. Ach, wegen des Zerstampfens, ist die Meinung? Dann will ich mal sagen: Was geschieht denn sonst? Sie wird abgehauen, verfüttert, gedroschen, gemahlen, gebacken. Der Mensch reißt die Erde auf, ist das besser als Hufe? Er legt Korn hinein, läßt wachsen, schneidet, drischt, bäckt es. Nachher frißt ers. Ich habe mein andres Vergnügen. Was ist für ein Unterschied?«

Suzette wollte etwas vom Sinn der Erfüllung, von den Gesetzen und der Heiligung der menschlichen Natur erwidern, fand aber die Worte um so weniger, als sie im Innern längst spürte, daß es sich gar nicht um dies, um die Dinge und ihren Schaden handle, sondern um gutes, reines und um leichtfertiges und rohes Empfinden, wovon er nichts zu ahnen schien. Aber das wurde nicht fertig in ihrem Bewußtsein, und so blieb sie im Gleise und sagte, sich unsicher fühlend: »Da ist der Fleiß des Bauern, so viele reine, stille, mühsame Wochen.«

»Die bäckt man desgleichen, Fräulein, und vertilgt sie gedankenlos. Ich habe Gedanken. Habe auch Freude an allen Dingen, auf meine Weise. Wo gehobelt wird, fallen Späne. Na, ich habe nun allerlei Geduld gehabt. Sie scheinen sehr wenig oder sehr parteiisch zu denken. Sie 305 sind eine Dame, und Ihre Augen sind –« er stockte und preßte oder würgte die folgenden Worte auf merkwürdige Weise – »unheimlich, mein Kind. Lassen Sie mich in Ruhe, dafür bin ich auch gnädig gewesen.« Er lüftete den Hut.

In den Sekunden, während er sich wandte und davonschritt, ging in Suzette Verschiedenes vor. Sein Abschneiden des Gespräches erinnerte sie an das vergessene Eigentliche, die Treibjagd des Abends oder der Nacht, den Massen-Mord, die Tiere; aber fast ehe sie die Vorstellung hatte, fand sie ein Hindernis, davon zu sprechen, vielmehr fand sie sich behindert, ohne erfinden zu können wovon; doch war es der gleiche Umstand wie vorhin im Gespräch: nicht um Gefahr und Schaden von irgend Etwas ging es, sondern um Den hier, den Täter, sein Unrecht, seine Bosheit oder Rohheit, Gefallen zu finden am Töten und obendrein am massenhaften; um seine Seele, seine goldne, verhexte, verfluchte Fasanen-Seele.

Aber das war es: diese Seele mit seiner ganzen Person war ihr verzaubert, durch ihr Mädchentum, wodurch sonst? Das Tabu lag ihr darauf, das sie unwahrnehmbar machte, ja eine Lücke bewirkte an ihrer Stelle, in der nur – Etwas war, ein Verhülltes, Verbotenes, nicht Geheures. Und nun statt alles Nahen, Persönlichen, Seelischen ging ihr nur mit Schreckens-Heftigkeit eine Wahrheit auf; die Wahrheit des Rechts nämlich, das er für sich hatte, und das in dem Unrecht haftete, das sie an ihm von Anfang begangen hatte: ihm gegenüberzutreten als einem 306 überführten Verbrecher ausgemachter Bosheit. Nicht daß sie ihn mit Bewußtsein dafür gehalten hätte; aber behandelt hatte sie ihn so, gegen ihn eingestellt, über ihn erhoben hatte sie sich so, und – alle Heiligen, das war der Grund-Fehler, aus dem heraus Alles in die Verkehrtheit blühte. Diese Erkenntnis aber beugte sie augenblicks so tief, daß sie, mit einer schmerzlichen Bewegung völliger Ergebenheit sich ihm nachwendend, sagte: »Darf ich um Etwas bitten?«

»Ah!« machte er, die ausgeworfene Hand spreizend, und blieb stehn. »Ja, aber ich bitte darum«, fügte er locker hinzu, indem er sich umwandte.

»Bitte, heute nicht zu jagen! Und niemals mehr.«

Ist das Alles? dachte sie matt, ist das Alles? Das so zu sagen? O Goldfasan!

Er stand sekundenlang die Augen auf den Boden geheftet, erhob sie dann langsam, jedoch nur bis zur Höhe ihrer Brust. Darauf zuckte er heftig, warf Schultern und Ellbogen, griff an den Hut und sagte: »Guten Abend.«

Dann ging er fort.

So endete auch diese Begegnung mit einer Niederlage. Suzette lächelte matt über sich. Wer den Zauber-Reigen bricht, murmelte sie mit einem tiefen Verstehn, führt die Seele an das Licht. Endlich schluchzte sie, als ob sie die Welt wegschluchzte von ihrer Brust; aber Alles blieb, wie es war.

8

Suzette saß im Dunkeln, als ein Bote ihres Vaters kam, um nach ihrem Befinden zu fragen. Sie ließ zurück 307 melden, daß es ihr wohlgehe, ihr nichts geschehen sei, noch etwas geschehn werde. Der Bote richtete ihr auch aus, daß an der Brücke im Damm stets eine Wache stünde, für den Fall, daß Suzette Jemand schickte oder selber käme.

Zugleich mit dem Boten hatte Suzettes Jungfer ihr Zimmer betreten, um einen Leuchter mit zwei Kerzen hereinzustellen. Und nun, als sie wieder allein war und sich umsah in dem halbdüstern Lichtschein, in dem sich die dunkeln Möbel und die Wände mit Schatten bedeckten, worin es überall glänzte von Politur und Vergoldung: saß sie unter all ihrem Gewohnten in Fremde. Warum, dachte sie, bin ich nicht mit dem Boten gegangen? In das Kloster? Nun, erst in dies, dann in ein andres. Wozu bin ich hier? Was soll ich mit diesen Dingen? – In dem kleinen, von Möbeln erfüllten Raum stand ein dunkelgrünes Spinett, an dessen Kanten goldene Linien gezogen waren; sie glitt diesen glänzenden wieder und wieder mit geistigem Finger nach und verlor sich weiter fort von dem Lebens-Sinn. Wie habe ich es mir nur unterfangen können? fragte sie stumpf und zog wieder die Linien und war dabei, so lange und so unbeweglich sie hockte, im Innersten mit einer Aufregung gefüllt, die in Pausen Wellen des Zitterns, jedesmal heftigere, an die Oberfläche sandte. Endlich eine gewaltsam abschüttelnd, sprang sie auf und ging dahin, dann dorthin. Mea culpa, murmelte Etwas, mea culpa . . . Ja, es war meine Schuld, all meine eigne Schuld. Einen Sünder zu bessern, einen Blinden sehen zu machen, 308 Wunder zu tun, o Himmel, mit welchen Mitteln? Menschlichkeit gegen Menschlichkeit, – ich nahm an, es genügte. Aber die Welt ist gepanzert. Ihre Gedanken verwirrten sich, sie dachte: Überhebung, heben, erheben, sie sah einen Goldfasan, den sie aufheben wollte, und ihr Vater stand in der Hoftür und drehte sich um sich selbst. Er hörte nicht auf damit, sie stöhnte: Laß, laß, laß! Sie meinte wahnsinnig zu werden und stand, die Hände im Haar, mit aufgerissenen Augen in die Lichter starrend.

Endlich hörte sie Musik, vielmehr ward sie ihrer jetzt inne, die sie schon die Stunde lang bewußtlos empfunden hatte. Ein fernes musikalisches Getöse und die dumpfen Schläge und Wirbel der Kesselpauken. Ihr Zimmer, im Eck des Hauses, hatte ein angeklebtes Nest von Balkon auf der Ecke; sie öffnete die Tür und sah hinaustretend zuerst den Mond, der erschreckte, eine riesige, düsterrot glühende Scheibe, die über dem Kloster lag neben den schwarzen Nadeln der Türme. Unten lag der Ort Lokkum dunkel, aber die Ufer des Sees waren von roten Fackel-Lichtern gesäumt, und unferne zur Rechten war ein Fackel-Gewimmel, goldne Windlichter dazwischen, auf einer Wiese. Klein, doch deutlich erkannte sie lange Tafeln, die Menschen, die daran saßen, die Windlichter in gläsernen Ballons, die sie beleuchteten. Sie sah Diener in Jagd-Monturen mit Schüsseln laufen und im Dunkel abseits die Musik-Kapelle im Kreis, von Fackeln bestrahlt, und rötlich glänzte das Messing. Eine Rakete stieg mit leisem Knall irgendwo und ergoß aus der Nachthöhe eine Garbe silberner Sterne 309 und blauer Kugeln, sehr schön. Und eine andere stieg da, wieder eine . . . Auch auf dem See war Bewegung. Es mußte ein Floß sein; Suzette wußte, daß alle Kähne der Fischer zur Insel gerudert waren. Es schwamm langsam dahin, Fackeln und Menschen tragend; und jetzt, da die Blechmusik schwieg, vernahm sie, vom Wasser getragen, überraschend deutlich, Saiten-Geschwirr und die singende Engels-Stimme des blonden Tenorsängers, die sie morgens mit Betörung geweckt hatte. Sie schwebte flügellos aus sich selbst gegen die Vielzahl der Sterne empor, die klein und weißglitzernd oben die Schwärze bedeckten.

Erfreulichkeit, Friede . . . mitten dahinein stach die Erinnerung mit solchem Flammen-Biß in ihr Wesen, daß es sich krümmte: Die Tiere! Da tafelten Menschen, aßen, tranken, lachten, liebkosten Auge und Ohr mit Musik und Leuchtraketen; und dort hinter ihr in der warmen Höhle der Wald-Finsternis schlief es, schlief ahnungslos, dem Leben vertrauend, Eber und Fuchs, Rehkalb und Ricke, die vielen Hasen und Rudel der Hirsche, – voll war der Wald von ihrem Schlaf, und auf jeder einfachen Stirn stand die Waffe, und alle Hähne waren gespannt. Springt auf, Gott im Himmel, springt Alle auf! wollte sie schreien; es raste in ihren Füßen, in alle Räume des Waldes zu fliegen, Alles zu wecken, mit wahnsinnigem Geschrei alle Nacht zu erfüllen, daß sie davonflohen, Alle, Alle weg von ihren Wohnsitzen, ihren Friedens-Wegen, in ein anderes Land und weiter, tiefer zurück, zurück in das Paradies. Der Mensch, o der entsetzliche Mensch war es 310 gewesen, der sie hinaustrieb, – nein, es konnte nicht wahr sein, sondern überall, wo sie waren, war Paradies, nur er allein, überall wo er war, war er draußen. Krieg und Schlachten zu Lande und Wasser, die Welt war gepanzert, ihre Seele flammte wie ein Komet und erleuchtete sich eine graunvolle Nacht-Welt voller Basteien und Mauern, Reihen hinter Reihen, drohend von Geschützen, geladen mit Unheil, menschenlos, denn sie saßen in Eisen und Stahl innen, sie waren die Seelen, lauernd wie die Spinnen, und jetzt schoß sie hinunter, Alldas wie ein Engel zu spalten, und löste sich schauernd in einen leeren Regen von Sternen aus. Dann war Alles wie zuvor.

Doch nicht Alles. Sie selber, Suzette, war in die begonnene, immer zurückgedämmte Verwandlung so weit vorgedrungen, daß sie nicht mehr zurück, nicht einhalten konnte und hindurchstoßen mußte. War auch Ende und Absicht noch unbekannt, ja war auch ein Tun, wie es gestern so nahe gewesen, jetzt ferner als je ihrem Herzen: sie war nun so weit, daß sie nicht mehr den Herzog dachte und sich selbst, nicht diesen eigenen Zweikampf und das Gelüst zu siegen; sondern nur noch: die Tiere!

Freilich folgte nur Ohnmacht dem inneren Schrei. Und als er so verzweifelte, der zu weibliche, waffenlose Engel ihres Herzens, machte sie sich gebrochen auf, ihre Ratlosigkeit zu den Knieen der Heiligen hinzutragen, die vor einer Zeit, zu einer schlichteren Zeit, einmal gern eingetreten war für ihr frommes Getier und den Menschen bedroht hatte: In bestia anima mea. Seitdem war Vieles 311 verändert; der Enkel jenes Mannes nannte sich Protestant, der alte Glaube war zersplittert, Gottes Mutter ritt nicht mehr durch den Wald, der Mensch hatte allein das Recht über Böse und Gut, über seinesgleichen und alle Kreatur. Aber sie wollte zu ihr hingehen, den Schmerz vor sie hinlegen; sie wollte vielleicht nur zusammen mit ihr sein, die nicht mehr helfen konnte, wie sie selbst.

Der Wachtposten war an der Brücke und ließ sie herab. Sie fragte ihn nach der Zeit; es ging auf 10 Uhr, und weil sie ihren Vater nicht beunruhigen, das Kloster ohnehin nicht betreten durfte, bat sie am Mauer-Pförtchen den Bruder Guardian, ihr die Kirche zu öffnen und Niemand etwas zu sagen. Wenig später kniete sie vor dem Altar, auf dem zwei Kerzen brannten, unter dem eben erhellten Bild. Das kleine kindliche Antlitz der Jungfrau, deren Stirn sich hell und groß unter den Reif der mächtigen Goldzacken verlief, blickte sanft auf das nackte Kind, das sie im mantelumwickelten Arme trug. Suzette kniete, betete und war endlich von aller Seelen-Arbeit so erschöpft, daß sie einschlief, die Stirn auf den Knieen. Der Schlummer, so kurz er war, dauerte für einen Traum lange genug.

Suzette kniete im Traum an demselben Ort, aber die Jungfrau war nicht von Holz, sondern lebendig, sie bewegte sich, streckte eine Hand aus und lächelte auf eine liebliche Weise kummervoll. Dann fing sie an zu sprechen und sagte: Ach, Suzette, sieh nur an, ich kann leider nicht fort, denn ich bin ans Holz. Suzette sah, daß sie 312 allerdings nur oben beweglich war; vom Gürtel abwärts war hartes bemaltes Holz. Suzette, fuhr die Holdselige fort, du kannst es für mich tun; was du dazu brauchst, will ich dir geben. Darauf neigte sie mit der anmutigsten Puppen-Bewegung den Kopf; die große Zackenkrone kam ins Gleiten und fiel herab. Suzette fing sie auf.

Sogleich erwachte sie, war aber sehr schlaftrunken und hatte Mühe, aus ihrer zusammengesunkenen Lage in die Höhe zu kommen. Dabei war ihr, als ob sie ein leises Klirren vernommen hätte. Da sie geblendet nach oben sah, wunderte sie sich, daß die Madonna ihre Krone nicht auf dem Kopf hatte; überdem kam sie vollends zu sich und sah die Krone auf dem Altartuch liegen, schief mit einer Stelle des Reifens auf dem Fuß eines Leuchters. Der hatte geklungen; da lag sie und glänzte bedeutend.

Suzette erinnerte sich; nicht an ihren Traum, der war vergessen; sie erinnerte sich, obgleich sie das, worauf die Erinnerung zielte, sich nicht gedacht zu haben entsann; es mußte doch in ihrem Leben regsam gewesen sein, und – das Unmögliche, sollte es nun möglich scheinen durch die gefallene Krone? Warum war sie gefallen? Weil Menschenhände sie so aufgesetzt hatten, daß sie zu irgendeiner Zeit fallen mußte, oder weil Gott es wollte? Suzette sah lange mit einem Lächeln zu der seltsam durch Lockigkeit veränderten Himmels-Schwester auf, die kronenlos sehr viel menschlicher aussah; mit einem Lächeln, das erst ungläubig war und hierdurch schwesterlicher als sie wußte; das bittend wurde, nachdenklich, grüblerisch, und hierbei 313 erlosch. Und nun bildete sich für eine ängstliche Minute der Zustand in Suzette, in dem sie nach zwei Seiten hin mit Unmöglichkeiten zu kämpfen hatte. Mit der Anmaßung, die ungeheuerlich schien, die Krone zu nehmen; und mit der Ausführung, die von unzählbar unmöglichen Vorstellungen sproß. (Der Hirsch! Wo ein Hirsch? Ihr Hirsch?) In dem Nu aber, wo sie die erste Unglaublichkeit zaghaft, dann begieriger, dann tapfer in das Auge faßte, schrumpfte die ungeheure zur Winzigkeit zusammen, und dabei schwand die zweite rätselhaft ganz hinweg. Nun ein Abgrund von eitel Nichts. Dann nahm sie die Krone.

Suzette fand, daß sie einen weiten Mantel trug, unter dem der Raub sich verbergen ließ: eine Handlung, die etwas Diebsmäßiges an sich hatte, so daß sie fast den Dank an die Geberin vergaß, dann hastig knixend etwas inbrünstig Sinnloses stammelte, die Kerzen ausblies und entlief. Der Bruder Pförtner war zum Glück abwesend, aber der Schlüssel innen im Schloß und der Brückenposten zum Glück noch vorhanden. Suzette lief, sie traf keinen Menschen unterwegs bis zum Schloß; das umging sie und betrat durch das hintere Garten-Törchen den Wald.

Und sie stand vor der Unmöglichkeit. Was war hier? Finsternis, weiter Nichts. Ihr Herz zerfiel in Staub. Sie konnte sich nicht bewegen. Schwarze Mauern von Tannen drohten sie gräßlich an. Sie suchte umsonst nach einem Gedanken, einem Bilde; sie war Nichts mehr. Aber der väterliche Gott ihres Glaubens, der aus dem Nichts eine 314 Welt der Freuden und Leiden heraufgeführt hatte, rührte mit seinem Finger an ihr Nichtsein, und es kam eine kleine blasse Blume hervor, das Antlitz der Jungfrau. Kindes-Auge tauchte in Kindes-Aug. Suzette kniete bescheiden, legte die Krone der Anmaßung vor die Ewige hin und sprach: »Mutter! Wenn du willst, du süßer Weg, den der Heiland ging, um zu uns zu kommen, wenn du willst, so wird ein Wunder geschehn. Nimm meinen Willen. Laß den deinen geschehen. Laß den deinen geschehn.« Es war still. Durch den Wald zog ein Flüstern: In bestia anima mea.

Als sie diese Antwort vernahm, stand Suzette auf und machte mit geschlossenen Augen eine Anzahl Schritte. Dann setzte sie die Krone auf und dachte: Nun gehe ich nur weiter in dieser Richtung. – Sie öffnete die Augen und stand in einem Zauber-Wald. Graue Dämmerungen brauten allerorts aus dem Dunkel, von oben troff rauchendes Silber, Nebel von Mondenlicht schwebten, die Stille knisterte, eine Tannen-Wand dampfte silbrig, Büsche standen in Silber verwandelt, in schwarzen Fichten wuchs eine ewige Verschwiegenheit. Und diese Stille, die ohne Laut wie des Todes war, war Suzette traut und heimatlich als eine Stille unendlichen Lebens, atmender Fülle; war wie ein starker ruhender Leib aus tausend Leibern und tausend Seelen, in Einigkeit wie der Sternen-Himmel, Busch und Baum und Getier eine unermeßliche Einheit. Und sie ging da lauter hinein, sicheren Schritts in das Unfehlbare. 315

Sie ging, und es ward heller; eine Lichtung öffnete sich silberübergossen, wo am Rand eine gereihte Schar kleiner Tannen stand, die silberverschleiert alle nach oben blickten. Sie ging vorüber, ihr Schritt rauschte leise; sie tauchte in das Dunkel, tastete mit dem Fuß über Wurzeln, ging durch hohe Farne, über moosige Anhöhen, durch Buschwerk, über Nadelboden nun zwischen hohen lichtfleckigen Föhren-Säulen. Aus ihnen hervor trat sie auf einen kleinen Platz, der hell war vom Mond; in seiner Mitte lag etwas Großes, Dunkles, ein Tier mit einem Geweih.

Suzette streckte die Hände aus. »Lieber Freund«, sagte sie behutsam. »Ich bin es, Suzette. Kennst du mich noch? Fürchte dich nicht, wir wollen uns nicht fürchten. Ich bin es ja. Halte still.« Damit bewegte sie sich auf ihn zu, kaum wissend, daß sie ging, beglückt, daß er immer deutlicher wurde. Sie sah ihn auf der Seite liegen, der Hals ragte, das mächtige schwarze Geweih; und nun erschien das große dunkle Auge, bläulich aufleuchtend mit solchem Ausdruck von Stille und Wissen, daß sie erkannte: Er wartete hier. – Dann stand sie bei ihm.

Wärme stieg aus dem Fell, die Nüstern dampften. »So,« sagte sie, »so ist es gut, mein Freund. Und hier ist meine Hand, du kennst sie.« Sie glitt mit den Fingern um sein Maul, über die Stirn, ertastete seinen Hals, klopfte ihn und fand überall seine vollkommene Fassung. Er wußte; er nahm Teil an ihr; sie umfaßte seinen Hals und setzte sich daneben hin auf seine Seite. Dann verging ihr eine Minute im Nebel der Schwäche, aus dem ein ferner 316 knarrender Ton sie befreite. Und das war Hörnerblasen, ganz fern. Nun an andrer Stelle das Knarren, nun Klappern und wieder das leise Blasen. In dem Gefühl, daß alle Teile des Waldes lebendig wurden, hatte sie die Vision unzähliger Tierleiber, die aus dem Liegen aufstanden.

Der Hirsch erhob sich mit ihr. Sie erschrak ein wenig und klammerte sich an. Als sie genau saß, empfand sie die Sicherheit seines Halses, der bei ihrem Anklammern sich so wenig bewegt hatte, als sei er von Holz, und die Breite des tragenden Rückens fast mit Lust, daß sie lächelte und sich atmend erholte. Sie schob das rechte Knie bis in die Biegung des Halses und saß nun verläßlich, eine Hand fest an der Wurzel des Geweihs, das unerschütterlich schien wie der Ast eines Baumes. Sie fühlte die Krone in ihrem Haar, lächelte rein und ordnete die Falten ihres Mantels.

Da nun der ferne Lärm anschwoll, ging der Hirsch von ihm fort in den Wald hinein. Schon unterschied Suzette deutlich in der verworrenen Geräusch-Masse Knarren und Rasseln; die Hörner bliesen unablässig, der Hirsch ging schneller. Waren hinter ihr Füße? Nein, in der Nähe war Alles still. Aber gleich darauf sah sie unweit zwei Rehe stehen, ein großes und ein kleines, die sich nicht bewegten, auch als sie dicht an ihnen vorüberzog. Silbergraue Flöre – gingen die Rehe ihr nach? –, verzauberte Bäume, und ein silbernes Hirschgeweih vor ihrem Antlitz –, so ritt sie in einem tiefen Brausen ihres Blutes, Leib an Leib mit dem Tier des Waldes. 317

Er trat aus den Stämmen hervor auf die Schneise, wendete sich ohne Zögern nach links und trug Suzette gerade auf den Mond zu, der oben im Leeren schwamm, eine kleine Scheibe von strahlendem Silber über der Fichten-Gasse, die silbergrauer Dunst füllte. Nun glimmte ein roter Lichtpunkt rechts, nun auch links, und sie ritt durch ein offenes Gatter, bergan, und da lag die Mulde.

Ein graues Tuch, nach unten gewölbt, lag die stille Mulde unter dem Mond. Suzette sah Lichter, Fackeln hinter den Bäumen, auch Gesichter, und jetzt fern gegenüber – was war das? Reihen von Gesichtern übereinander, die in der Luft schwebten; was für eine stille Versammlung? Plötzlich scholl in ihrer Nähe ein Schrei: »Um Himmelswillen, nicht schießen!« der Hirsch zuckte und schritt leichter Hufe, nicht schnell, nicht langsam, in die Mulde hinunter.

Der Herzog auf seinem Balkon vor der Tribüne sah, was er sehn mußte, das verwandelte Hirsch-Wunder; vieles Wagnis, vieles Vertrauen und die Herrschaft des Herzens über das Tier. Er sah und wurde so kraftlos, daß er zu zittern begann. Unten in der Tiefe, einsam in der hellen mächtigen Weite des Tals stand der gekommene Hirsch, auf seinem Rücken das stille Weib mit der Krone. Zwischen den stolz emporgebogenen Zacken-Ästen war das kleine Antlitz zu sehn. Dunkel hielt es da unten; nur das Geheimnis der Krone glühte.

Wie lange aber dies Anschaun dauerte, wußte er nicht und sie nicht, als die Stille in Getöse zerbrach. Unter 318 dem Toben der Rasseln, Knarren und Hörner wurde Getrappel hörbar, Grunzen, Bellen eines Bockes, lauteres Trappeln, und schon flogen die Ersten in die Mulde herab, kleine Bälle, Hasen, zuckten hierhin und dorthin, verschwanden; und viele kamen gerannt, die ersten Rehe, die ersten Hirsche, lange Fluchten und schlanke Sprünge, niedrig die Bachen mit den Frischlingen, das Gleiten der Füchse, Hasen rannten unzählbar, schon wimmelte die Mulde, unter der Tribüne war Getrommel von Hast und Jagen; unbeweglich in dem Getümmel der Flucht hielt die Erscheinung, Hirsch und Göttin, Tier und Gekrönte.

Nun aber hatte in seinem Innern sich Alles gesammelt, was vordem gewesen und noch zähe bei Kräften war: alle Sinnlosigkeit, alle Entartung, alle fruchtlose Gier und ratloses Toben, die leere Lust, der Taumel, lauter Unten, lauter Niedrigkeit: die sammelte sich mit Gebrüll, nicht unterzugehn vor diesem gekrönten Einwand von Weiblichkeit, schüttelte sich, blähte sich, zerblies ihm den Atem, zertrat sein Gehirn, und er schütterte davon wie ein Strauch, bis er sinnlos aufsprang, den Lauf der Waffe, den er spürte, nach oben warf und schon fertig war, hineinzuknallen in das Nichts, in die verfluchte Wand gegenüber, die er selber war, diesen Irrsinnigen zu vernichten, der ihn in Fängen gehabt hatte, solange er lebte, den Schützen. Aber er feuerte nicht, denn wohin er sah, standen Sterne. Ein Gelächter rollte unter dem Firmament entlang, wälzte sich durch ihn hin, verscholl, und in der Stille, die nachkam, schlug ihm der letzte Ansturm der Raserei den 319 Gewehrlauf nach unten. Auge, Hand, Herz waren ein Schlag, der in den Schuß knallte.

Im jähen Sprunge des Tiers glitt Suzette in das Gras hinunter. Sie sah noch den großen Rumpf, Haupt, Hals und Geweih, ein riesiges Sichbäumen und Zusammenstürzen. Dann lag die Stille da, ein dunkler, großer Leib, und steif abgestreckte Beine wie aus Holz bogen sich langsam.

Als der Herzog, von seinem Stand besinnungslos auf den Erdboden herabgesprungen, neben ihr kniete, lag sie auf dem Gesicht und schien leblos. Er hob sie auf die Arme und ging mit ihr davon. Seinen Weg nicht beachtend, gelangte er nach einer Weile an den Waldrand und wurde im Blick auf die Tiefen von Land und See, die ruhig entschlafen unter den Sternen lagen, Gottes und der Erde zuverlässig inne. Dann sah er, daß sie wachte, versuchte ihr Auge und fand zwischen ihm und dem seinen kein Hindernis. Als er die kleine weiße Stirn mit den Lippen berührte, geschah es mit reinem Gefühl, als nehme er die Oblate. Dann trug er sie weiter.

9

Da um diese Stunde Abt Uhlhorn mit zwei vertrauten Ordens-Brüdern an einem Fenster im oberen Stockwerk des Klosters stand, um da in angstvoller Ohnmacht das Büchsenfeuer des Gemetzels zu erwarten, hörten sie nichts als einen einzelnen Schuß. Sie hielten ihn für ein Signal, aber es folgte nichts als Stille, in der auch das greuliche 320 Geräusch der Schreck-Instrumente allmählich verstummte. Sie sahen die Lichter in dem bergig gewölbten schwarzen Wald und oben den kleinen Vollmond im bläulichen Himmels-Raum ohne Sterne. Nach einiger Zeit sagte Einer der Brüder:

»Was bewegt sich doch da zum Ufer hinunter? Sind es nicht Tiere?«

Durch die mondhellen, abwärts zum Ufer fließenden Felder bewegte sich ein ungeordneter Zug, laufende Tier-Gestalten. Die vordersten erreichten schon das Gestade, Wasser klatschte, Wellenlinien blitzten, und bald kamen viele dunkle Häupter herangeschwommen. Noch scholl das Geplätscher von Hineinspringenden, die Fläche wimmelte, und zwischen Ufer und Wald waren noch viele. Die Ersten kamen auf die Höhe der Insel und schwanden aus dem Gesichtswinkel der Zuschauer.

»Wunder Gottes,« sagte Bruder Anselm, »diese Tiere sind den Mördern entronnen und fliehen für immer in eine andere Gegend.«

»Wehe!« sprach der Abt, »sie werden mich alle verlassen!« Und er bog sich schmerzlich hinüber, die Lieben zu zählen, seine zarten Freunde, die er von sich gehen fühlte wie Blut; aber noch ehe Bruder Titus zum Trösten kam: »Nicht Alle, Vater, der Wald ist unendlich größer!« ward er seines Unrechtes inne und rief: »Gott segne sie! sie wissen, was sie tun!« Er breitete die Arme aus, zog ein großes Kreuz in die Lüfte, hob wieder die Arme und rief zitternd zwischen Freude und Kummer die Segens-Worte: 321 »Gott segne euch, liebe Freunde! Er segne euch und behüte euch immerdar! Ich werde euch nie vergessen!« und er setzte sich und weinte; dann schaute er wieder.

»Große Vernunft«, sagte Bruder Titus, »ist in der Unvernunft verborgen. Wie schön, daß wir sie sehen dürfen.«

Doch da erfaßte der Andre ihn am Arm, deutete auf die Waldhöhe und rief: »Ach, um Christi Willen, sie wissen, was sie zu tun haben, der Wald brennt!« Und alle Drei sahen einen roten unheimlichen Schein über Wipfel emporwölken, die darin deutlich gezackt erschienen, und weißer Rauch schlug auf, Qualm-Wolken breiteten sich, das Rot dehnte sich aus, plötzlich schoß eine Flammen-Zunge golden und feurig zwischen die Sterne hinaus.

»Weckt alle Brüder auf und die Leute, lauft, eilt, ruft alle Menschen zusammen, daß sie helfen!« rief der Abt. Er erhob sich und sank zurück. Er hatte keine Fassung mehr, ein schaudervoller Gedanke nahm ihn in Besitz und preßte zwischen seine Lippen die Worte: »Du Mordbrenner!« Es ward nicht laut, aber er schmeckte es mit bitterer Lust, bis er seine höllische Herkunft erkannte. Racha! murmelte er, ich bin des Todes schuldig. Es hat mich hingerissen, o Heiland, mein Wald! – Er kam fast von Sinnen vor Schmerz, jammerte und verwünschte sich und brauchte lange, um still zu werden, sich zu sammeln und, was er keiner menschlichen Bosheit zur Last legen durfte, als Prüfung des Himmels anzuerkennen. So fand er einige Fassung im Gebet und machte sich eilig davon, um zu kämpfen. 322

Jedoch für das Erste kam er nicht weiter als bis zur Mitte des Dammes, wo ihm das dritte Nacht-Wunder begegnete, freilich im Verhältnis nicht mehr beträchtlich gegen die andern: der Herzog, der seine Tochter trug. – Er hatte auf dem Wege zum Schloß die Feuersbrunst wahrgenommen und sich entschlossen, Suzette zur Insel zu bringen, was sich als nützliche Maßregel erwies, dieweil der Brand, der das seewärts gelegene Drittel der Lokkumer Forst in drei Tagen verzehrte, nur mit Mühe im Park von Jaxthaym gebändigt werden konnte; an der zum Feuer gekehrten Hauswand sprangen sämtliche Fensterscheiben, und die Ställe verbrannten. Suzettes Fasanen, die bei der Gelegenheit auskamen, bevölkerten später die Gegend auf anmutige Weise. Die Leute brachten die goldnen und geflammten Tiere mit dem Feuer in Verbindung, und es bildete sich eine Art Legende, daß die Flammen, da sie nicht gehorchen wollten, von der Lokkumer Jungfrau in die Vögel verwandelt seien und so in den Wald gejagt. Vom Herzog wäre rühmlich zu sagen, daß er während jener drei Feuer-Tage nur wenige Stunden von der Brandstätte abwesend war; ohne es zu bedenken, bekämpfte er so sich selbst und besiegte sich endgültig in dem tollgewordenen Element, gegen das er mit vernünftigen Anordnungen und mit eigenen Armen wie ein Kerl anging. Er verlor Augenbrauen und Bart dabei und behielt Zeit seines Lebens sehr häßliche Fingernägel, auch ein talergroßes Mal auf der Wange. Das Wild hatte allerdings klug getan, den angewiesenen Weg gegen den See inne zu halten, und die Jagdbesitzer 323 in den westlichen Bergen am Stillmer See erfreuten sich des Zuwachses ihrer roten und schwarzen Rudel.

Am vierten Tag, als der vernichtete Wald nur noch qualmte, begann Regen zu fallen und strömte eine halbe Woche lang gleichmäßig fort; dann hörte er auf, denn es war Zeit für die Ernte. Herzog Woldemar ließ an dem vierten Tag sich beim Abt melden, wurde in seinem Sprechzimmer empfangen und sagte zu dem Gebeugten:

»Ehrwürdigster Vater Abt, ich bitte Sie um Verzeihung.«

Der sah ihm kummervoll in das entstellte Gesicht, das ohne Brauen und Bart, versengten Vorderhaars und über und über mit kleinen roten Brandflecken von herabgefallenen Nadeln bedeckt war, und erwiderte: »Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet, was kann ich verzeihen?«

»Und was kann ich bitten?« erwiderte der Herzog. »Dem Allmächtigen hat es gefallen, eine große Heimsuchung durch mich über uns Beide kommen zu lassen. Ihnen wollte ich ihn wegnehmen; aber er nahm ihn.«

»Dieser Wald«, sagte Abt Uhlhorn, »wird mich mein Leben lang würgen.« Und er reichte dem Herzog die Hand, bekümmert dessen verbundene betrachtend.

Sie schwiegen eine Weile, und Woldemar fragte: »Wie befindet sich Demoiselle Uhlhorn?«

»Gut«, sagte ihr Vater trocken.

Die nächste Frage war, wo sie sich befinde, und die Antwort des Vaters: er wisse es, aber er sage es nicht. 324

Aber eine Botschaft könne wohl ausgerichtet werden? Ja, das könne.

»Dann sagen Sie ihr – nein, sagen Sie ihr Nichts. Ich will schreiben.« Er sah seine verbundenen Hände und fuhr fort: »Ich kann nicht schreiben, habe auch nie geschrieben. Habe aber viel nicht gekonnt, ich will das auch können. – Nein, ich kann es so oder so noch nicht!« schloß er ärgerlich, »ich muß diktieren.«

Der Abt seufzte, ließ sich am Schreibtisch nieder und schrieb, was der Herzog diktierte, väterlich mit seiner kleinen und blühenden Handschrift, indem er die Worte zugleich, um ihnen auf jeden Fall das Persönliche zu dämpfen, in das Lateinische übersetzte, das Suzette geläufig war. Hier folgt die Verdeutschung:

Liebe Jungfrau, sehr teuer verehrte Tochter des hochwürdigen Mannes, Abtes Uhlhorn, dessen Hand meine Worte aufschreibt, ich habe Euch Etwas zu sagen.

Ich werde mein Leben ändern. Es wird möglich sein, denn es war ohnehin sinnlos; nun wird es Sinn haben. Ich muß Euch berichten, daß der halbe Wald abgebrannt ist durch Unvorsichtigkeit meiner Jagdleute; das ist mir sehr leid.

Liebe Jungfrau, ich habe gleich gesehn, daß Ihr es wart, die auf dem Hirsch saß; es war aber doch ein Wunder Eurer Kraft und des Todes-Muts, mit dem Ihr unter die Flinten geritten seid. Das hat mich ganz umgestürzt. Wenn ich aber die Wahrheit sagen soll, so bin ich noch unwissend, ob in mir lauter Grund-Übel war 325 oder nur eine Verwilderung, und ob solche Jagdlust grundböse ist oder nur ihre Ausartung. Alles aber, was Euren lieben Augen unrecht erscheint, bedrückt meine Seele, und ich werde von nun an sorgen, daß ich alles Das loswerde. Weil ich aber in so vieler Weise Euch Pein zugefügt habe und summa summarum als ein eitler und unbändiger Mensch erscheinen muß, so will ich eine Frist von drei Jahren setzen. Da will ich mich ändern; und wenn es nicht gelungen sein sollte, so dürft Ihr Euch nicht sperren und müßt kommen, um zu helfen. Wenn es mir aber gelungen ist, so könnt Ihr es wohl mit Euren Augen ansehn und den Gewinn zu einer Vergütung annehmen.

Nun bitte ich zum Schluß: Die Kraft, mit der Ihr den Hirschen wieder zahmgemacht habt, der schon verwildert war, wie ich höre, so daß er Euch und die Krone trug: diese unglaubliche Kraft möge bei mir sein.

»Amen«, sagte der Abt und setzte, dem Herzog die Feder reichend, den Finger auf die Stelle, wo er sich unterschrieb.

Danach ging er hin und änderte sein Leben.

Daß, als die gesetzte Frist um war, der Herzog eine Bürgerliche zur Ehe nahm, hatte geringe Schwierigkeit; auch lagen solche oder ähnliche Entartungen in der Natur jenes Fürsten-Geschlechts, das seinen Ursprung auf einen Bauern zurückführte; und sie waren es vielleicht, die noch dem Letzten des Throns zu einem Wesen verhalfen, das seiner Zeit tributpflichtig war wie jedes und doch souverän wurde 326 in Menschlichkeit zu einer Epoche verfallender Monarchien. Auch der Religions-Unterschied ließ sich dadurch umgehen, daß einmal in der Lokkumer Kirche katholisch, einmal in der Schloßkirche protestantisch getraut wurde. Innerlich war die Schwierigkeit freilich so groß – in einer kirchenfrommeren Zeit als der unsern –, daß ihre Überwindung nicht erklärt werden kann. Nur dies kann gesagt werden, daß nur Wer mit sich selbst uneins ist, zu keiner Einigkeit mit Anderen kommen kann. Wer aber mit sich in Einklang ist, der ist auch in Einklang mit Gott, und zu den Beiden fügt sich die Welt, daß es den menschlichen Dreiklang gebe.

 


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