Albrecht Schaeffer
Das Prisma
Albrecht Schaeffer

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Der Hund

An einem sonneblitzenden Winter-Mittag, nicht lange bevor der Frieden zu Osnabrück geschlossen wurde, tauchte ein Pikett kaiserlicher Dragoner, zehn Mann unter Führung eines Wachtmeisters, aus dem verschneiten Bergwald hervorbrechend, so plötzlich über der talwärts gesenkten Straße eines weimarischen Dorfes auf, daß ihnen einige menschliche Gestalten nicht entgingen, wie sie neben der Kirche hervor über den hohen Schnee der Straße hüpften und – nebst einem Kinde und einem kleinen gelben Hunde – jenseits zwischen den Häusern und kahlen Bäumen verschwanden. Sofort abschwenkend, schnitten zwei Mann ihnen den Weg zum Walde ab und brachten sie, während der Wachtmeister mit den übrigen gemächlich bis zur Kirche hinabtrabte, zum Vorschein: einen Mann, zwei Frauen, ein vier Jahre altes Mädchen und den giftig kläffenden Hund. Es war der Pfarrer des Dorfes, ein noch jugendlich blonder, zorniger Mensch, todbleich und elendiglich mager wie seine Frau und die ältliche Magd. Er versicherte, das Dorf sei seit langem verlassen und gänzlich ausgeraubt; sie Viere seit Tagen ohne Nahrung bis auf ein wenig Brot. 330

Der Wachtmeister und seine Leute hatten selber, seit sie aufgesessen waren, Nichts in den Magen bekommen und seit Tagen nur das Dürftigste; die ganze Gegend war verödet und leer. Und schon wollte der Wachtmeister, von den hungerentstellten Gesichtern der Menschen mehr überzeugt als von ihren mündlichen Beteuerungen, den Befehl zum Antraben geben, als Einer seiner Leute ihn auf die gesunde und straffe Haut des kindlichen Gesichts im Gegensatz zu denen der Erwachsenen aufmerksam machte und, den braunen Gaul im struppigen Winterfell schneestäubend zwischen ihnen herumlenkend, schrie: »Ihr Lausbande habt eine milchende Kuh und legende Hennen im Wald, daß ich verdammt würde, Alles für den Balg!« Und zielte mit seiner Muskete auf das Kind.

Die Bemerkung war treffend; der Wachtmeister zog blank, drängte sein fuchsiges Pferd gegen den Pfarrer und verlangte, längst gereizt durch sein glühendes Augenpaar, ein Bekenntnis. Der gepeinigte Mensch log lange verzweifelt, bis die letzte Erbitterung vor den rohen Zügen des Folterers in ihm schwoll und er schwieg. Der Wachtmeister, die Plempe hebend, fragte noch zweimal und hieb zu; der Stahl blitzte und spaltete die hohe weiße Stirn; der Mann stürzte lautlos vornüber, daß der Schnee funkelnd wölkte; eine rote Lache verbreitete sich rasch und dampfend um seinen Kopf. »Zwei ins Haus, die Andern in den Wald!« schrie der Mörder, saß ab, nahm den Pallasch in die Linke, ging, den Zwein, welche die umsinkende Pfarrerin hielten, einen Wink gebend, auf sie zu, 331 um ihr – salva venia! – die Röcke hoch zu heben und die Gewalttat an ihr zu verrichten wie sonst ein Leibes-Geschäft. Er überließ sie dem Nächsten, dieweil Andre mit der Magd desgleichen verfuhren, gewahrte dabei das Kind, das, weit über seine Fassung entsetzt, ohne schreien zu können, offenen Mundes dastand, und schleuderte es mit einem solchen Tritt in den Schnee, daß es liegen blieb, noch eine Zeitlang die Augen verdrehte und lautlos verschied. Er sah hiervon Nichts, da er ins Haus trat.

In der Küche brannte ein kleines Feuer; sonst hatte das Haus, ausgenommen ein paar irdene Näpfe und Lager von Stroh, Nichts zu zeigen als kahle Wände. Der Unmensch fluchte und spuckte, stach ein brennendes Scheit mit dem Degen aus dem Herd, streute es über die Bettstätten und trat, als der Qualm beizte, hustend wieder ins Freie.

Dort lag, anscheinend entseelt, die Frau über dem Leichnam des Mannes; abseits die kleine Leiche, unruhig umschnuppert von dem gelben Hund; die Magd ächzte an der Mauer; es schienen nur dunkle Bündel von Kleidern im zerstampften, blutigen und von Goldfunken überstäubten Schnee. Aber vom Waldrand schrieen sie nun und winkten in ihren buntfarbenen Hosen und Ärmeln und eisengrauen Sturmhauben und Harnischen: da wäre ein ganzes Lager im Wald! worauf sie zum Vorschein brachten: eine falbe, magere Kuh, mehrere Hühner, einen halben Hasen und eine Menge Kleider.

Der ganze Haufe zog nun, teils aufgesessen, teils zu Fuße, bergunter zu einer platzartigen Verbreiterung der 332 Dorfstraße, allwo sie in einen großen, äußerlich unversehrten und schönen, innen aber leergeplünderten Bauernhof einfielen und sich tummelten. Während Einige die Kuh zunftgerecht umbrachten, häuteten, ausweideten und zerlegten, schlachteten und rupften Andre die Hühner, zerhackten wieder Andre einen eichenen Tisch und zwei Schränke und machten drei Feuer, eins im Hof, eins auf dem Küchenherd, ein drittes im Ofen. Alledem sah der Anführer, herumschlendernd, wortlos zu, spuckte in den und jenen der verödeten Ställe, fing zuletzt an zu frieren und gesellte sich zum bereits bullernden Ofen, wo er, einen Fuß auf der Bank, den Pallasch aufgestemmt, eine theatralisch martialische und nachdenkliche Haltung zur Schau trug. – Er war seines Zeichens ursprünglich relegierter Student und seit zwanzig Jahren im Felde. Sein rotes Gesicht mit tobsüchtigen Augen quoll von schon geifernder Verödung zwischen einem Netzwerk alter Schläger-Narben; der rechten Hand fehlten die letzten zwei Finger.

Der Dragoner, der ihm einen Napf voll gebratener Fleischstücke und einen Zinnbecher brachte, erzählte, sie hätten in einem Loch im Kuhstall ein kleines Faß Wein gefunden; sei aber beißender als chymische Säure. Er brachte noch einen Topf voll. Der Wachtmeister kostete und spie, trank aber aus und später noch mehr. Er kaute und schlang, auf der Ofenbank sitzend, die harten Brocken, den Kopf überm Napf nach oben schielend wie ein Hund, im Rücken wohlig angeglüht von der Hitze der Kacheln. Inmitten seiner Mahlzeit gewahrte er beim Dämmer-Licht, das die kleinen 333 und blinden Fenster einließen, plötzlich den kleinen gelben Hund am Boden, der, zitternd vor Kälte, mit schiefem Kopf sich die Lippen leckend, erwartungsvoll aussah. Scheinbar war er allzuviel menschliche Güte gewohnt, denn er sprang nun auf die Ofenbank neben den Schenkel des Essenden.

Der kam erst jetzt zu sich von einem jähen und wilden Erschrecken, das ihm die lautlose Erscheinung des Tiers eingejagt hatte. Ob aus einer Furchtsamkeit, oder aus List, oder aus beiden: er setzte den Napf, ohne den Blick von dem Kleinen zu wenden, leise beiseite und hatte mit einem Zupacken den mageren Körper mit weißem Bauchfell zwischen den Händen, der indes keinen Laut hören ließ. Eine Minute verging unter schweigsamem Starren des Menschen in die kleinen, bläulich glimmenden, unruhigen Augen des Hundes; worauf er ihn weder in den Ofen steckte, noch erwürgte, sondern aufstehend zum Fenster trug und auf das nahe Pflaster des Hofes fallen ließ. Er sah ihm noch zu, wie er um die, das Feuer mit dem Bratspieß auf Strohschütten umlagernden Dragoner dreibeinig hüpfte, einen Brocken oder Knochen erhaschte und damit in den Winkel unter die Hühnerstiege entfloh, wo er sich niederlegte.

Nachmittags um drei Uhr hatte der Wachtmeister auf der Ofenbank ausgeschlafen, trat, fast platzend von Ofen-Hitze und Wein, in die Tür und schrie seinen Befehl zum Packen und Aufsitzen ins Freie. Als ihm sein Pferd vorgeführt wurde, fühlte er sich so übel trunken und vollgegessen, daß er nicht in den Sattel mochte, die Trense über den Arm hing und, den Wallach nachziehend, schwerfüßig straßauf 334 stampfte – dieweil seine Leute noch sattelten oder die Überbleibsel der Mahlzeit verpackten.

Über die Dorfstraße wälzte sich träg eine gewaltige schwarze Qualm-Wolke aus dem schneenassen brennenden Strohdach des Pfarrhauses gegen den Schreitenden herunter; rote Flammen züngelten heraus, gasig verflackernd vor dem blauen heiteren Winter-Himmel. Unschlüssig – als ob ihm der Rauch den Weg verlegen wollte – stand der Mensch eine Weile; aber indem brach auch das Dach zusammen, dicker Qualm puffte schwarz nach allen Seiten empor, doch dann drehte sich das ganze, wolkige und brennende Ungetüm aus irgendeiner Ursache nach der Seite herum und gab langsam die Straße frei.

Die Toten lagen noch dort, und das gelbe Hündchen wurde dem Näherkommenden sichtbar, wie es herumhüpfte, nach den Flammen bellte und wieder bei den Leichnamen stand, zusammengezogen, windend angstvoll und winselnd. Da sich nun vom Platz her schon Lärmen und Hufschlag und Klirren des nachtrabenden Piketts hören ließ, so kam es tapfer entgegen, bellte und machte Sätze vor und zurück. Der Wachtmeister geriet indes während seines Nahkommens in eine so rauchende Wut, daß er fast nicht wußte, was er tat oder tun sollte, wie blind am Sattel nach der dran hängenden Muskete tastete und plötzlich blank zog. Er belauerte, schon dicht vor den Leichen, das immer kläffend zurückweichende Geschöpf, wobei ihm in schnaufender Aufregung mehrmals die Linke den Degen wegreißen wollte, um zuzuschlagen. Jählings 335 vorstürzend hatte er dann einen Hieb geführt, der den Gelben aufjammernd an den Fleck heftete; hatte ihn dann gespießt und im Bogen in den Brand hineingeschleudert.

Er war in dem Rauche verschwunden. Der aber teilte und verzog sich alsbald und zeigte, als sollte es so sein, dem Wachtmeister und seinen herangekommenen Leuten auf dem Dache das kleine Tier, das in Flammen saß, still, ganz in sich zusammengekrümmt, nur Hals und Kopf weit vorgestreckt – mit einem Ausdruck – einem Ausdruck, der den Trupp vor Gelächter aufbrüllen ließ, dieweil Einer krähte: »Hei scheißt! hei scheißt op üns Füer!« – ausgenommen ihren Führer, der in die Todesangst der zerspringenden Hundelichter starrte, als ob ihm die eigenen tobsüchtigen Augen bersten sollten wie Glas.

Merkwürdig war ein losgerissen oben herausflatternder roter Flammen-Fetzen über dem verschwundenen Hunde, der von seiner Gestalt gerade so viel hatte und erkennen ließ, ehe er zerstob, daß die Lache des Haufens im Nu verstummte und in die Stille der leicht prasselnden Lohe nur Einer mit unterdrückter Stimme hervorstieß: »Huch! dat Beist hatt' 'ne Seele!«

Der Wachtmeister lag mit dem Gesicht im Schnee, dergestalt, daß seine Stirne fast die des toten Pfarrers berührte. Sie drehten ihn um, sein Gesicht war blau, aber er lebte, röchelte und schlug um sich. Da sonst mit ihm nichts anzufangen war, hätten sie ihn gern liegen gelassen; doch war es vielleicht der verbrannte Hund, der noch wirkte, denn sie entschlossen sich schließlich zum Mitnehmen, 336 hoben ihn mühsam in den Sattel, und da zeigte sichs, daß er reiten konnte. Zwar schwankend wie ein Trunkner und hier und da nur durch schnelles Zugreifen der seitwärts Reitenden vor dem Fallen bewahrt, aber sonst ohne Unfall erreichte er mit seinen Leuten kurz vor Dunkelwerden die Schwadron, mit der er am andern Morgen, scheinbar unverändert, gegen Rudolstadt aufbrach.

*

Dieser Wachtmeister lebte danach noch an vierzig Jahr, und zwar dies, obgleich er in einem der letzten Scharmützel des Krieges nicht nur am Kopf von Hieben übel zugerichtet wurde, sondern auch das linke Bein dicht überm Knie durch die Vollkugel eines Geschützes verlor. Die Samariter wollten ihn liegen lassen, da sie ihn aufgaben, und erhörten ihn erst auf sein dringendstes Gejammer: sie müßten ihn aufheben; er müsse heil werden, sonst holte ihn der Hund, – was sie kaum recht verstanden.

Nachmals, geheilt, mit einem Stelzfuß und geistig in wirrem Zustande, tauchte er in Hannover auf. Da er anfänglich weder seinen Namen noch sonst Bescheid über sich zu geben wußte, fand er Aufnahme im Armenhaus; später hauste er lange Jahre mit einem verkrüppelten alten Weibe zusammen, die sich und ihn von Abfällen ernährte; nach ihrem Tode wieder im Spittel. Er bettelte an den Kirchentüren, barhaupt, an einer Krücke, mit einem Blechnapf, eine wüste Figur. Für das Geld kaufte er Fusel, den er stets vor dem Schlafengehn, niemals eher, 337 verschlang. Die Schlafgenossen hörten ihn viel stöhnen, auch reden und schimpfen gegen ein unsichtbares Wesen, wobei sich die Worte: Geh weg! und: Gehst du! unter den Scheltworten wiederholten. – Obgleich er kaum und fast nur unfreiwillig sprach, verbreitete sich seine ganze Geschichte, und jeder wußte, was die Worte bedeuteten und was ihn vor dem Einschlafen, wenn die Abwehr der Sinne sich löste, beunruhigte. Die Stadt legte ihm den Namen ›Hundsförchter‹ bei; die Kinder liefen ihm nach und bellten.

Kurz vor seinem Ende geriet er noch einmal in eine gewisse Klarheit, seufzte viel, lag murmelnd still, schwätzte wieder, redete von seiner Mutter und dem Hunde, dazwischen auch in lateinischer Sprache; und lateinisch waren die letzten Worte, die leise von ihm gehört wurden: »Deus me non amavit.«

Da er nicht unberühmt gewesen war in der Stadt und von manchem Kirchgänger vermißt wurde, bekam er ein ordentliches Begräbnis, einen Leichenstein und eine Inschrift, die ein Student ihm setzte, der seine Geschichte vollständig kannte. Die Schrift sagte:

Ein großer Hund und ein kleiner Hund
Brannten sich beide höllenwund
Allhier bereits auf Erden.
Schlimmer kann es nicht werden. Amen.

Und darunter jene aufrichtige und Alles besagende Erklärung:

Deus me non amavit.

 


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