Albrecht Schaeffer
Das Prisma
Albrecht Schaeffer

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Regula Kreuzfeind

1

Regula, als sie zwölf Jahre zählte, beschloß auszuwandern. Wie ging das zu? So ging das zu, daß sie bei also geringem Alter schon viele Drangsale zu dulden hatte, was von einer absonderlichen Natur ihres Herzens herrührte, nämlich folgendermaßen.

Regula, die von allem Anfange an ein gescheites Pflänzlein gewesen, das eher plappern lernte als kriechen, und das man schon in dem zartesten Alter auf einem Sesselchen treffen konnte, Bein mit Beine gedeckt und die Hände gefaltet, worauf es die Augen erhob und eine gewaltige Frage, die es erwogen, über Himmel und Erde auftat: Regula nahm ihre Mutter Christine in die Kirche mit, da sie fünf Jahre zählte, um ihr die Herrlichkeit Gottes in seiner Anbetung zu erweisen. Sie war aber noch nicht lange am Knien unter den übrigen Weibern, als sie einer großen Ungebühr inne wurde, dieweil das Kind laut mit den Zähnen klapperte und dazwischen tief seufzte. Die Mutter sah sich um und sah Regulas Antlitz, welches rund und fast knollig und immer schön rot anzusehn war, sah sie weiß wie der Wandkalk und mit kohlschwarzen 372 Augen; und das Kind ächzte, als ob es Schmerzen litte, und sagte: Ach, Mutter, der garstige Mann! Ach, der böse Mann! – Sagte das von dem guten Heiland, der auf dem Altare stand vor seinem Kreuz, an das er genagelt war, und so groß war, als ob er lebte. Ein grausiger Anblick freilich in seinem hölzernen Leiden und Sterben. Bist du wohl still! raunte die Mutter, der ist ja nicht bös! – Das Kind schwieg, doch es währte nicht lange, so ließ sich wieder das Zahnklappern hören, dann ein Schluchzen, dann wieder ein Klappern; es blieb der Mutter nichts übrig, als ihr Geschöpf in das Freie zu führen, damit es die Andacht nicht störe. Sie war eine fromme Frau und im Herzens-Grunde nicht unmild; führte das Kind auf dem Gottes-Acker umher, zeigte ihr die Blumen und hier und da in einem geschmiedeten Grab-Zeichen den armen Heiland, nur klein und nicht so schrecklich; und sie lehrte dem Kind seine große Güte, und daß es die Bösen waren, die mit ihm so verfuhren. Das Kind war still, sie brachte es heim, nahm die Postille und las ihm die Geschichte von der Weihnacht und mancherlei andres Ding aus dem wundertätigen Leben; wie er gut war und wie töricht die Menschen, und wie ihn Judas verriet; wie er gekreuzigt wurde und starb; wie er begraben wurde und wieder auferstand und gen Himmel fuhr zu großer Freude seines Vaters und aller Menschen, da er nun in der Glorie wohnt und uns Alle erwartet. Tat das Kind einen schweren Seufzer und fragte: Hängt er dann nicht mehr an dem Holz? – Er sitzt zur Rechten seines Vaters in einem 373 ewigen Sonnenschein, sagte die Mutter. Ist ihm ganz wohl? fragte die Regul. Immerdar wohl, bekräftigte sie. Warum haben sie ihn denn wieder aufgehangen? – Es ist ja nur ein Bild und ein Gleichnis, erklärte die Mutter, damit wir uns seiner Leiden erinnern. – Wenn er aber doch in dem Himmelschein ist, warum muß er am Kreuz hängen? – Ich sagte es doch, Kind, damit wir es nicht vergessen. – Warum muß er so häßlich aussehen, wenn er es gut hat im Himmel oben? – Das haben die Menschen getan! – Haben sie ihn nicht begraben? – Das haben sie wohl, du Quälgeist! – Warum haben sie ihn nicht drinnen gelassen? fragte das Kind. Nun habe ich es dir zweimal gesagt, versetzte Christine, nun ist es genug! – Sie ließ ab von dem Kinde, ging an ihre Wirtschaft. Regula saß nachdenkend eine Weile, dann holte sie ihre Puppe aus dem Winkel, entkleidete sie splitternackt, fing an ihr Arme und Beine zu biegen, bald so und bald so, legte ihr zuletzt die ledernen Hände fest am Leib, umhüllte sie mit einem Lumpen und barg sie im Winkel. Plötzlich lief sie zur Mutter hin, die am Küchenherd stand und rührte, zupfte sie am Kleid und sagte: Mutterle, warum haben sie ihn doch wieder aufgehangen? – Dummes Kind, schalt die Geplagte, ich kann dichs nicht lehren, wart, bis du älter bist.

Es begann aber hiermit eine Zeit des Kummers für Mutter und Kind. Denn da wieder der Sonntag kam und Christine den Kirchgang rüstete, sagte die Regul: Ich will nicht! und wehrte sich so und erhob ein solches 374 Geschrei und Weinen, daß die Mutter sie im Zimmer verschloß und allein kirchwärts ging, voller Leid über das ungeratene Wesen, auch voll Angst vor einem bösen Geist, der in Regula hauste und sie zwang, schon jetzt wie ein Ketzer zu reden. Und sie offenbarte es dem Priester. Der kam und begann Regula nochmals zu unterweisen, hatte aber nicht bessere Wirkung als die Mutter vordem, und je länger es währte, um so trotziger wurde das Kind, sagte nur: Warum haben sie ihn aber gehangen? und war ihm Nichts beizubringen. Stundan, wenn die Kirchen-Zeit kam, entlief es und barg sich im Walde, kam spät hervor und stand an der Kirchentür, bis die Mutter heraustrat. Die wollt es nicht ansehn, ließ Regula hinter sich schleichen, gab ihr kein Essen den Tag über, hatte aber selbst keinen Geschmack, kaute trocken, und so waren sie beide verstockt. Das Kind sah wohl den Kummer, es fühlte sich schuldig und konnte doch nicht anders. Weil nun die Mutter alle Morgen in die Frühmesse ging, so erhob es sich bald und fing an, allerlei Arbeit zu machen, so gut es konnte. Brachte Wasser zum Sieden, das schon über der Glut hing, wusch Geschirr ab vom gestrigen Tage, kehrte die Stube und trug Bettkissen ans Fenster. Kam die Mutter, lag es wieder auf seinem Bettsack, deckte sich und tat, als ob es schliefe. Die Mutter sah Alles innen voll Tränen; sagte aber Nichts, dachte, das Kind tue es zur Buße. Am Sonntag jedoch wars wie vordem.

Kam nun die Zeit, daß Regula in die Schule gehen sollte. Die Mutter schickte sie hin; das Kind wußte den Weg, 375 trat in das Schulzimmer ein, setzte sich an einen Platz und sah, da sie die Augen erhob, einen Crucifixus an der Wand gegenüber, groß genug. Sie erschrak so heftig von dem Anblick, daß sie zittern mußte; hielt die Augen gesenkt, wußte sich lange nicht zu helfen. Endlich, da immer noch Kinder zur Türe hereintraten und der Lehrer draußen verweilte, stand sie leise auf, gewann die Tür und eilte davon. In die Stube daheim trat sie verzagt und so klein, daß die Mutter nichts hörte, die am Waschzuber stand und plantschte. Erst da sie einmal unversehens hinter sich blickte, stand das Kind bei der Tür, hatte die Tafel im Arm, war ganz gebückt. Da wußte sie gleich, was geschehen war, hatte ja selber vor dreißig Jahren auf derselben Bank vor dem Heiland gesessen; nun ward ihr höllenangst vor dem feindlichen Wesen, das aber schon schrie: Tu mir nichts, Mutterle, tu mir kein Leid, ich kanns nicht sehn, wie er da hängen muß! – Denn so hatte das Antlitz der Guten sich verändert, daß ihr Kind es erkannte, obwohl es die Augen am Boden hatte.

Und nun ward es schlimm. Denn jetzt nahmen die Kinder der Sache sich an und führten sie mächtig durch. Wo die Regula sich hinkehrte, hörte sie rufen: Kreuzfeind! Der Kreuzfeind ist da! Regula Kreuzfeind! Das Wort, das Keiner erdacht hatte, war ihnen in den Mund gefahren und brannte darin, daß sie es ausspeien mußten, wo die Regul erschien. Alle standen ihr entgegen und ließen sie nicht herankommen. Eins, das heimtückisch war, schlich hinter Regula, stieß sie in den Nacken, daß sie fast 376 niederfiel. Wo sie ging, tat ein Fenster einen Mund auf, der Kreuzfeind! schrie; die Zäune wurden lebendig, überall flog das giftige Wort, und als es einmal zwei großen Buben gelungen war, Regula zu packen und ihr die Arme hinterwärts um ein Bäumchen zu ziehen, daß ihr fast die Schulterblätter zerbrachen, ging sie nimmermehr in das Freie hervor. Der Pfarrer kam noch ein- und zweimal; Regula weinte nicht mehr, bebte nur wie ein Laub, hatte alle Sprüche gelernt, die er ihr aufgegeben, sagte sie kaum vernehmlich. Es half aber Nichts, und als sie das Crucifix küssen sollte, das seine knochige Hand vorstreckte, mußte sie sich erbrechen. So wars ersichtlich, daß ein unsauberer Höllen-Teufel drin wohnte. Der Pfarrer begann furchtbar: Exorciso te, Satana! und wetterte und schwor so entsetzlich, daß Regula steif ward und ohnmächtig niederfiel.

Als sie aufwachte, war sie in einer leeren Kammer, einen Strohsack unter sich, über sich an der Wand das hölzerne Crucifix, das nur armlang war, ein sehr armes Schnitzwerk, das den Leichnam in gräßlicher Hagerkeit zeigte. Alsbald trat die Mutter herein, setzte einen Wasserkrug an den Boden, legte ein Stück Brot hin und sagte, schon wieder zur Tür sich wendend: Da bleibe nun. Ich will nicht glauben, daß du den Teufel hast. Wenn du ihn aber nicht hast, so will ich dich von hier nicht erlösen, bis du vor dem Heiland kniest und sprichst, daß du ihn anerkennst. – Ging nach dem Wort und verschloß hinter sich die Tür. 377

Ach, laßt uns aber nicht verweilen bei den nächsten Stunden des Kindes. Als vor dem Schlafen-Gehen spät in der Nacht die Mutter jene Kammer betrat und nach Regula leuchtete, lag sie auf dem Strohsack, tief schlafend und heißrot im Gesicht. In den Armen hielt sie das Kreuz, da war aber kein Leichnam daran, und als die Mutter umhersah, gewahrte sie etwas im Winkel verborgen. Das stellte sich da heraus als der hölzerne kleine Leichnam, eingewickelt in die kleine Schürze des Kindes, doch waren ihm die dünnen Arme abgebrochen und fielen heraus; das Kind hatte sie wohl umbiegen wollen, da waren sie abgegangen. Überdem wußte die Mutter nicht, was sie glauben sollte. Denn so ruchlos erschien ihr die Vergreifung und so lieblich und voll sanfter Genugtuung die Tochter im Schlaf, daß sie es in ihrem Sinn nicht vereinen konnte und irr wurde an aller Möglichkeit und wie verstört und am Ende fremd und versonnen. Sie fing an und wurde verschwiegen, hütete sich vor den Leuten, bückte sich vor Jedem, sprach leise kaum das nötigste Wort, wich kaum aus ihrem Hause und Garten. Und wie die Zeit ging, sah sie Regula nicht mehr an, außer wenn sie hinter ihr war, scheu und wie ein fremdes Tier-Wesen im Raum, und ließ sie immer schalten, wie sie selber sich Etwas vornahm. So wuchs Regula traurig die Sommer und Winter durch. Sie war immer gut bei Kräften gewesen, lernte durch Absehn, was nötig war in dem Haushalt und was ihre Stärke vermochte; bald hatte sie das Meiste auf sich genommen mit Ausnahme der 378 Mahlzeit-Bereitung, die Stuben zu pflegen, auch den Kuhstall, auf das Feuer zu achten und was daran sott oder briet, auf die Bäume zu steigen und die Äpfel und Birnen zu brechen. Und sie säete den Spinat, las die Raupen vom Kohl, jätete das Kraut und begoß und harkte, und da sie älter und stärker ward, grub und hackte sie fleißig. Bei Alledem hatte sie fast kein Wort mehr zu sprechen, hatte keinen Gespielen; Stube und Garten, das war ihre Welt, da lachte kein Menschen-Mund. Doch war später die Weide zwischen Garten und Wald, die Rinder grasten geduldig. Vögel sangen über sie hin, der Wald hatte Stimmen und Winkel und manches schöne Geheimnis. Regula war braun, stämmig und hatte Augen wie Brombeeren unter fast rötlichem Haar, ihr Mund wurde süßer, aber wozu? Sie sprach nicht, sie wußte kein Lied, keine Schrift, sie hatte fast keinen Gedanken, sie dachte mit Sehen und Hören und mit dem Tun. Und allein, wenn sie auf einem Baumstumpf saß in dem hohen Gras, den Kopf auf den Knien, die Hände über den Füßen verschlungen, und so in die feurige Bläue des Himmels blickte, schläfrig, im Gehör allerlei Stimmen, Gesumm und die Lerche im Nichts, ganz fern einen Ruf im Dorf und das grüne Rauschen des Waldes, so dachte sie, daß sie ein Mensch war; Tränen liefen ihr über das Herz, sie bebte. Aber es blieb innen. Manchmal war es, als ginge sie vor dem Weinen wie vor einer lautlosen Wand aus Wasser, die stürzte, konnte aber niemals hinein. Einen Vers hatte sie, der war so, wie Tau in der Blüte wird, in ihr gebildet, und so sagte sie ihn in die Stille: 379

Ich bin traurig, Jesu Christ,
Daß du an dem Kreuze bist.
Wollte dich gern begraben,
Mutter wollt es nicht haben,
O, wie könnten wirs lustig haben,
In dem Grabe,
In dem Grabe, im Himmelreich,
Hosianna!

Wenn sie das sagte, so kostete sie das Hosianna am Ende durch die anderen Worte hin schon zuvor wie eine fremde heilige Speise, den juwelenen Brosam, den sie als einzigen aus der Christen-Welt davongetragen hat. Aber Christine, die Mutter, verzehrte sich innerlich in diesen Jahren, dann gab sie sich auf, es war, als ob sie sich vergäße und in sich hinein verschwände, und ihr Leben verlosch dann so wie das Licht am Docht, weil die Nahrung verzehrt ist. Sie war gestorben, wie sie im Bett lag; Regula fand sie des Morgens kalt und steif und begriff, was das war, saß lange bei der kummervollen Leiche, dachte, was nun kommen könnte, und da kam es ihr, weiß Gott woher, daß sie auswandern könnte. Ja, es kam, daß sie sich zusammen nahm zu einem Widerstand und zu einer Hoffnung auf ein anderes Leben in einem unendlich fernen Land, in das sie zu wandern sich sehnte mit solcher Inbrunst und Süßigkeit, als ginge es in die Bläue des Himmels hinein, und da läge es und wäre völlig gut. Vielleicht dachte sie auch, daß sie weit genug würde gehen können, um zu Menschen zu kommen, die Nichts von ihr 380 wußten, und daß sie stark war, um die Arbeit eines Erwachsenen zu verrichten, und in Haus und Garten und Stall erfahren genug. Also machte sie ein Bündel aus ihrer Werktags-Kleidung, legte einen halben Laib Brot und Speck und ein paar Kleinigkeiten hinein, die sonst nötig oder ihr lieb waren, ergriff ihren Stab, mit dem sie die Kühe gehütet hatte, und machte sich auf den Weg, nicht leichten Herzens, weil sie die Tote so liegen lassen mußte; aber die konnte sie auch nicht begraben. Am Leib hatte sie deren Festtags-Gewand, das nur wenig zu lang war, denn die Tote war kleiner Figur gewesen. Im Bündel war es zu unförmig, und sie schürzte es über den Hüften und band es mit einer Schnur auf, daß es bauschte. Es war von gründamastenem Stoff mit dreingewebten Blumen von gleicher Farbe, und ein Käpplein gehörte dazu von demselben Zeug, das über den Ohren schloß, unter dem Halse zu binden; hinten floß ihr Haarzopf heraus, der war rotbraun, kurz aber kräftig, und das Kleid stand weit und ging herab zu den Füßen. Da stand sie marschfertig und zauderte noch bei dem Leichnam. Aber Alles an ihr war rüstig geworden; sie mußte aufbrechen und wandern, um schnell ihr Ziel zu erreichen.

2

Die Sommer-Straße war leer, da sie das eben sonntägliche Dorf hinter sich ließ, schon von allen Lerchen empfangen, die den Himmel erfüllten wie die Engel, wenn eine Seele heraufschwebt. Stille standen die Mauern des 381 Korns, braungelb und in der Morgen-Glut zitternd, als ob sie lieber fallen möchten als stehen, und die Unendlichkeit gläserner Himmel machte das kleine Herz zu ewigen Wanderungen frisch. Da setzte sie Bein vor Bein und das dritte daneben, den Reise-Stecken; marschierte da im Takt eines unhörbaren Gesangs, der ihr Körperlein füllte, äugte umher wie ein Spatz, schwang ihr Bündel, stieß kräftig auf mit dem Stab und war immer in ihrem Leben so einsam und nie recht allein gewesen, daß sie die Einsamkeit heut wie eine Gesellschaft empfand; daß sie mit sich dahin wie mit einer Schwester schritt und allerdings laut zu schwatzen begann, Alles sich nannte – oder der Schwester –, was sie zu sehen bekam, dies putzig fand und das nützlich, und lachte und nicht erschrak vor der einsamen Kinder-Stimme in den Feldern. Wer sie gehört hätte und gesehn, der wäre vielleicht beklommen worden von dem grünen Wandeln im Sommer-Gefild, Stab und Bündel in Händen, ältlich von Kleidung, uralt von Augen, seltsam süß, blumenjung und braunflaumig von Wangen, die ganz lose ein goldfremdes Lächeln umflog.

Regula war entschlossen, den Tag durchzuwandern, und sie führte es aus. In seinem ersten Halb gelang es ihr um so leichter, als freundliche Grüße und Lachen aus Türen und Fenstern im zweiten Dorf ihr anzeigten, daß sie für die Welt eine Fremde war und als solche herzlich empfangen; so ward der Ärmsten zum Trost, was anders dem Reichsten sonst in der Fremde zur Schwermut gedeiht, und munterer strebte sie vorwärts. Am Mittag hielt sie 382 bei einem Tannen-Wald Rast und teilte ihre Speise mit einem Hüte-Jungen, der ein paar magere Kühe bewachte und so arm war, daß er nie eine Speckseite gesehn hatte wie Regulae ihre. Für das, was sie ihm mitteilte, freudvoll zum ersten Male in gleicher Gesellschaft speisend, zeigte er ihr Heidelbeer-Schläge im Wald, woran sie sich schwer satt aß, im Knien Händevoll blauer Beeren in den offenen Mund hineinschüttend. Alsdann schlief sie ganz selig im Schatten ein, am Waldrand neben dem Knaben, vom Geläut der Rinder eine Strecke Wegs in die Stille geleitet; und als sie erwachte, lag der Knabe schlafend an ihrer Brust, offenen Mundes atmend, als möchte er saugen, worüber sie lachte, denn er war älter als sie. Behutsam entfernte sie sich von ihm, stand auf und fand mit Bündel und Stab ihre Straße wieder.

Am Spätnachmittag wurde sie müde. Sie hatte in harten Schuhen die Füße wund gelaufen, schritt lange schon barfuß aus, Schuhe und Bündel und Kappe am Stab über dem Rücken, glühenden Angesichts und zerwehten Haars. Die Gegend war öde geworden, Haide und Moor, selten waren die Dörfer, die Sonne brannte, der Geschmack der Beeren klebte und war bitter in ihrem Mund. Ein blaues Gebirg, auf das sie zuschritt, verharrte in aussichtsloser Unwandelbarkeit. Da sie wieder zu einem Weiler gelangte, dachte sie schon um Obdach zu bitten, gemahnte sich aber ihres Entschlusses, nicht halt zu machen als unter dem ersten Stern. Den sah sie aber über dem Zwielicht funkeln, ohne daß weit und breit eine Behausung sich wies; sie 383 ging und ging, nur die Füße bewußtlos bewegend, und als sie wieder aufsah, war es Nacht. Darum nicht mutlos geworden – denn es hatten sich unzählbare Sterne allerseits zu ihr genaht, funkelten mit Augen, und insbesondere war auch ein halber Mond über den Erdrand herausgekommen und glühte honigfarbne Gemeinschaft –, nutzte sie ihre letzte Kraft, vorwärts pilgernd dem schon genäherten Ziele zu.

Und da war es nun. Da glänzte der Licht-Funken unter den Sternen hervor, rötlicher als sie, aber fast sternenhaft hoch über der Ebene. Es dauerte noch, bis sie an den Fuß eines steilen Hügels gelangte, von dessen Höhe das Licht glimmte, übrigens verschwindend, als sie unterhalb anlangte. Hier waren Felswände, doch führten Wege und Treppen empor. Die bezwang sie mit neuer Munterkeit; oben war Wald, aber ein Pfad und wieder der Lichtschein. Regula trat auf einen freien Platz und sah vor sich eine kleine Kirche.

Das war nun eine Enttäuschung, denn was da im Innern ihrer wartete, wußte Regula wohl. Immerhin war es möglich, daß der Gequälte am Holz hier nur klein war, so daß er nicht so erschreckte und sie ferne von ihm hinter einem Pfeiler in einer Bank schlafen ließ. Ferner bedachte sie, daß, wo eine Kirche stand, ein Dorf nicht weit sein konnte; aber nun war sie von Müdigkeit wie gelähmt, vermochte nur wankend noch die wenigen Schritte zu tun, um die Tür zu erreichen, klinkte auf und trat ein. Das kleine Innere war dämmerhell von zwei Kerzen, die in 384 hohen Leuchtern vor dem Altare am Boden standen und über nichts Anderes schienen als einen offenen Sarg mit dem Verstorbenen drinnen. Das war nicht schön; da traf sie abends auf das, wovon sie morgens ausging. Aber viel weniger schön war der Gemarterte, der hinter dem Altar-Tisch stand, als hätte er die Füße darauf, größer fast als ein Mensch; und er war mit einer furchtbaren Kunst so zubereitet, daß er zu leben schien in dem Augenblick, wo er das lama asabtani schrie: so warf er das Haupt über den Balken zurück, so waren seine Lippen offen verzogen, so empörte das Sterben die Brust, so sprangen die Rippen, krallten sich die Hände und wanden die Füße sich um den Nagel. Aus der Haut aber, die wie gegerbt war von der Säure des Sterbens, traten tausend Blutstropfen hervor, und wie die Kerzen sich regten, so flatterten die Knie, und das Blut-Wasser aus der Speer-Wunde floß über. Regula hatte in ihrem Leben kein solches Schrecknis gesehen. Sie brannte vor Entsetzen, aber aus den Flammen reckte eine Lebens-Kraft sich im Nu zu einer Empörung auf, zu einem solchen Grimm und Jammer und Taten-Drang, daß ihr Herz Christe! Christe! schrie und: Ich kanns nicht ansehn, Herr, wie du leidest! Und nun wußte sie nicht, was geschah.

Denn sie war am Altar und hatte sich hinaufgeschwungen und kniete bei seinen Knieen und stand aufrecht und war groß genug, an die Nägel der Hände zu reichen, und sie zerrte am ersten, und der flog heraus, und sie trat zu dem andern hinüber, aber da mußte sie Etwas sehn. Die Hand, 385 wo sie eben den Nagel löste, die senkte sich mit dem Arm; steif und nur so biegsam wie das Glied eines eben Verstorbenen senkte sich Arm und Hand, bis sie hingen. Regula faßte sie an; sie waren kalt, aber anders als Holz, samtener, weicher als Holz. Da riß sie den zweiten Nagel heraus, unbegreifend mit welcher Kraft, und auch dieser Arm fiel, daß er fast Regula schlug, und indem neigte der ganze Leichnam sich vor, sank in sich in die Knie, und da Regula sich bückte, fing sie den Stürzenden mit Nacken und Schultern auf, trug ihn, als wöge er Nichts, und zog aus den Füßen den Nagel. Dann ließ sie ihn behutsam nach unten gleiten, von dem Tisch auf die Stufen, und kletterte nach und saß auf dem Teppich und hielt auf den Knieen das schwere wunde Haupt mit dem Dornen-Kranz. Sie saß, wie mit ihm vorzeit seine Mutter gesessen, und eine unermeßliche Lebens-Last war gelöst, und so war sie auch durch die Wand der Tränen gebrochen; die stürzte zusammen in ihr und strömte aus Augen und Munde mit unersättlichem Schluchzen: Hosianna!

Regula dachte nun ausgeweint, daß dieses Werk erst begonnen und an sein Ende zu bringen war. Legte also den himmlischen Leichnam sanft hin, trat zu dem Sarg und beschaute den Inlieger. Da fand sich nun Wunderbares; daß nämlich dieser Leichnam der desselbigen Pfarrers war, der Regula damals beschworen hatte; der hier eine andere Pfarre bekommen und sie soeben wieder verlassen hatte. – Siehe nun, sprach zu ihm Regula, da sie ihn erkannte, so ist es dahin mit dir gekommen, du zorniger 386 Mensch, daß du heraus mußt aus deinem letzten Bett. Geduldig mußt du es aushalten, denn ich weiß mir anders nicht Rat, und ich will nun endlich meinen Heiland begraben. – Sprachs und packte sogleich den gewaltigen Mann, der er war, obschon tot; und es gab einen Ruck, da hatte sie ihn schon heraus wie eine riesige Puppe gezogen und auf den Estrich gelegt. Da lag er todstille und rührte sich nicht; Regula aber in ihrer Kraft trug den ärmsten Heiland herbei, bettete ihn auf das Linnen, und da sie die Hände hinlegen wollte, so erwies es sich, daß die grausam gesperrten mit den wulstigen Rändern der Wund-Male weich genug waren, um die Finger ineinander zu schließen. Alles schlief, und Regula griff nach dem Sarg-Deckel, hob ihn hoch und legte ihn über; und alsbald, weil sie einen Kasten dastehen sah mit Handwerks-Zeug und hinlänglich großen Nägeln, schallten die Schläge ihres Hammers in die Stille der Kerzen hinein, daß die frommen Wölbungen dröhnten.

Da war der Sarg verschlossen. Wo aber ein Sarg und ein Toter ist, wußte die Regula, war ein Grab auch fertig oder doch halb. Eh sie noch wußte wie, nahm sie den Sarg: einen Arm untergeschoben, einen darüber gestreckt, schwang sie ihn sich auf den Rücken, rückt' ihn zurecht auf der Achsel und schritt sehr klein dahinter, aber aufrecht und festen Ganges in das Freie hinaus. Ja, der Friedhof war draußen, die Kreuze standen im Mond, Regula schritt über die Grab-Hügel hinweg, als wären sie Maulwurfs-Hügel, und da war auch das frische Loch, freilich die Tiefe 387 erst halb gewonnen, aber in der aufgeworfenen Erde stak der Spaten. Regula setzte die Bürde nieder, griff zum Spaten und schaufelte sich rüstig in die Erde hinunter. Der Spaten klang hell in der Nacht, die Erde scholl dumpf, wenn sie fiel, und rauschte und rieselte an den Wänden; der Schatten des Sarges lag über dem Grab, hoch oben stand der silberne Mond und blickte hinunter, sah aber Nichts als den Grabscheit-Stahl, der blitzte, wenn er nach oben flog und sich drehte, um die Erde zu stürzen; Regula unten im Grab, wo sie fleißig war, sah er nicht.

Jedoch ein andres Geschöpf hatte nicht Alles, doch das Meiste, was Regula vollbrachte, mit angesehn. Das war der Leichen-Wächter, ein Bauernbursch, der sich in einen Beichtstuhl gesetzt hatte, um sich da in Kissen dem guten Schlaf zu ergeben; Regula sah ihn nicht, denn er schlief hinter Vorhängen. Er erwachte auch erst bei der Rede, welche die Regul über den Pfarrers-Leichnam häufte, sah Christi Leib auf den Fliesen, und rührte sich nicht vor abgründiger Furcht, dieweil er den Toten in Regulas Armen aus dem Sarg fahren sah und weiter alle Unholds-Kraft in dem Kinde, das den Gekreuzigten hertrug und legte, und das die Nägel in den Schrein hämmerte so laut und so rasch, wie der Wagner um den Wagen geht, überall die Nägel hineintreibend ins weiche Holz, doch dieses war Eiche. Da sie aber gar den Sarg auf sich lud, der noch einmal so lang war wie sie, und ihn davontrug und nicht den Arm in die Hüfte stemmte, um es sich leichter zu machen, so ward er fast ohnmächtig bei soviel Zauber und 388 Höllen-Spuk, und er wagte sich erst auf den Kirchhof, als die Regul schon fertig war, aus der Tiefe heraufstieg und ihr Antlitz zum Himmel kehrte, auf den Spaten gestützt, um tief bis in die Sterne hinein Atem zu schöpfen. Und nachmals schwor jener Bursch, sie sei in jenem Augenblick riesig gewesen, bis zum Zenit empor, und auf ihrem Atem wäre die Milchstraße zum Munde hinein und wieder hinaus gerauscht. Danach bückte sie sich zu dem Sarg, schob ihn zur Grube, kniete und griff ihn beiderhändig und ließ ihn hinab, bis sie mit halbem Leib über dem Rande lag und es doch unerfindlich war, wie sie, mit Haupt, Schultern und Armen in die Tiefe hängend, hinabreichte. Wieder aber aufrecht bereits, handhabte sie den Spaten mit Schnelle, die Erde rauschte, schollerte und strömte auf das Holz; bald ward das Geräusch stiller und ganz stille, das Grabscheit klang leise, ebnend den obersten Sand. Da entlief der Bursche ins Dorf, um Alles zu wecken. Die Regul, miteins so erschöpft, als hätte sie das, was sie ohne Anstrengung vollbrachte, das Übermenschliche alles mit den eignen schwachen Kräften geleistet – Regula hatte nicht Zeit, noch ein Ave zu sprechen, da sie schon lag, wo sie stand, auf dem Grab, und einschlief in diesen Traum.

Sie mußte an einer Felswand empor, die ähnlich der wirklichen war, die sie vor einer Stunde erstieg, jedoch unabsehbar hoch, lauter Treppen im Zickzack, die über ihr in der Finsternis schwanden; und sie hatte dabei eine ungeheure Bürde zu schleppen, die so sehr drückte, wie der 389 Sarg, wenn sie ihn gespürt hätte, sie bedrückt haben würde. Regula keuchte in Sterbens-Not, kroch eher, als daß sie klomm, und eben als sie zu brechen meinte, war es hell um sie her, und knieend sah sie einen schönen nackten Mann mit einem blauen Schurz vor sich stehen, von dem die Helligkeit ausging und bald so stark, daß sie von seinem Antlitz nur einen Schatten sah wie von Rosen und Gold in der Helle. Dann hörte sie seine Stimme sehr linde sprechen: Regul, was schleppst du? – Ach, sagte sie, es sind die Drangsale; ich kann sie im Leben nicht loswerden. – Regula, sagte die Stimme, du hast mir davongeholfen, da muß ich dir auch wieder helfen. – Ach, sagte das Kind, sterbensschwach und geblendet hinaufblickend, bist du es, mein Herr? Ich habe dich ja begraben, bist du doch wieder auferstanden? – Das bin ich, sagte er fröhlich, nun laß dir auch helfen. Regula seufzte tief, fühlte indem aber die Last von sich weichen. Es ward lauter Erleichterung, da sie aus dem Knien emporwuchs, als ob sie erblühte. Und sie stand vor dem Herrn, die Erleichterung hörte nicht auf mit Blühen und Blühen, während sie ihre Stirne an jene Brust legte und sich in lauter Blüte verlor.

Was aber unten die Menschen sagten, nämlich jene Bauern, da sie morgens kamen – sie trauten sich nicht eher – und Regula fanden, taunaß auf dem Grab und schlafend unerwecklich, bleich, aber die selige Genüge auf den Wangen, in ihrem grünen Kleid; und als sie das Grab wieder aufwarfen, den Sarg emporholten und aufsprengten mit 390 vieler Mühe – die Nägel Regulas hielten zäh – und darinnen den Heiland fanden, hart aus Holz, aber mit gefalteten Händen; was sie zu Alledem sagten und nachmals taten: das weiß ich nicht; und liegt wem daran, es zu wissen?

 


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