Albrecht Schaeffer
Das Prisma
Albrecht Schaeffer

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Das verdoppelte Lebens-Alter

1

Tjark hieß ein Knabe. Sein Vater war ein Fischer, der außer Tjark noch elf Kinder hatte, und das war sein Reichtum. Als Tjark drei Jahre alt war, mußte er anfangen zu arbeiten. Seine erste Tätigkeit war, beim Entwirren der eingebrachten Hochsee-Netze zu helfen; mit vier Jahren wurde er beim Ausbessern angestellt. Daher wußte er niemals, daß das Leben ans etwas Anderem bestehen könne als Arbeit.

Mit sechs Jahren lernte er lesen und schreiben. Einmal war er krank, da bekam er vom Lehrer ein Buch mit Geschichten, das er behalten durfte. Er las es tausendmal und lernte es auswendig. Die Handlung war darin von Kindern, deren es reiche und arme gab. Die armen waren stets fromm und folgsam, die reichen ungezogen und häßlich. Dann kam es jedesmal so, daß ein unverhofftes Ereignis eintrat, infolgedessen der reiche Knabe verarmte, durch eine Reihe von Prüfungen geführt, hierdurch gebessert, endlich gut und meistens auch wieder reich wurde. Die armen ebenso wurden durch ein ähnliches Ereignis für die langen Prüfungen ihrer frommen und fleißigen 342 Armut dadurch belohnt, daß sie reich wurden. Daß sie mit dem Reichtum auch schlecht wurden, stand nicht in dem Buch, ebensowenig wie daß es die erst reichen, dann arm und wieder reich gewordenen wurden, und so konnte Tjark mehrere Lehren aus dem Buche ziehn. Die erste war, daß, wer arm, auch gut war; in dieser Lage war Tjark. Die zweite, daß es, um reich und gut zu sein, kein Mittel gab als die Armut. Und die dritte, daß ein unverhofftes Ereignis eintreten mußte, und auf dieses wartete Tjark.

Als Tjark sieben Jahre alt war, hatte er schon allerhand Fertigkeiten erlernt und Aufgaben bekommen. Eine leichte und angenehme gab es für ihn im September, wenn die Granate in die Bucht geschwemmt kam. Dann nahmen sein Vater und ein älterer Bruder das Schleppnetz und wateten mit ihren bis zum Magen herausgeschlagenen Seestiefeln ins Wasser, wo die Krabbe schon lag, spärlich oder in Scharen. Das Netz wurde ausgeworfen, die Männer legten die Leinen über die Schultern und zogen es, langsam, Schritt um Schritt, vornübergebeugt watend im Wasser bis zum Leib, parallel mit dem Strande hinter sich wie einen Wagen. Nach hundert Schritten kamen sie heraus, und das Netz wurde geleert, und zwar in den Eimer, den Tjark inzwischen herbeigetragen hatte. So ging das hundert um hundert Schritt, Meile um Meile, das Gestade entlang.

Tjark derweil konnte anstellen, was ihm beliebte, wenn nur der Eimer rechtzeitig am Platze war, und meist trug er ihn gleich die hundert Schritte voraus. Dann maß er 343 zum Zeitvertreib die Strecke in langen Sprüngen zurück und wieder hin und wieder zurück. War er munter, so stellte er sich Aufgaben dazu, etwa die, Kiesel vor sich her zu werfen und im Springen, nur auf einem Fuß stehend, aufzuheben. Oder er bemühte sich, nach jedem Aufsprung den nackten Fuß möglichst tief in den weichen und feucht-festen Sand einzugraben, um nachher seine sämtlichen Stapfen zu sehen, wie sie sich langsam mit Seewasser füllten. Oder er zog Kanäle für das anschwemmende Wasser, oder sammelte Muscheln oder die farbigen Steine, die, solange sie feucht waren, blau und rosig und weiß leuchteten, als wären sie durchsichtig, oder er suchte nach Bernstein im angeschwemmten Tang. Nicht ohne Arbeitsamkeit war das ein lustiges und leichtes Leben an der weiten blauen See, in der vom ewigen Brausen der Brandungs-Welle getragenen Stille.

An einem schönen September-Nachmittag vergnügte sich Tjark mit Versuchen, über seinen eigenen Schatten zu springen, halb bewußt, daß es niemals gelingen würde, und halb doch verdrossen deswegen. Die See war ein dunstiger, hellblauer Spiegel, des glatte Fläche am Ufer nur wenige Falten runzelte und in glitzernde Splitter zerscherben ließ, glühend und blitzend unter dem Stich der unendlich langen und haardünnen goldenen Sonnen-Nadeln. Da sah er auf einmal, mitten im eifrigen Sprung, fern in der wie gläsernen Luft der Weite eine große Gestalt den flachen Strand hergewandert kommen, die in flatternden, meeresblauen Kleidern wie eine Frau, jedoch rüstig ging 344 wie ein kräftiger Mann. Sie trug etwas auf dem Kopf, das Tjark für ein riesiges weißes Segel ansah, und sie trug es wagrecht, wie um in seinem Schatten zu gehen. Das hatte Tjark noch niemals gesehn, daß man ein Segel unaufgerollt trug; er blieb stehn und wunderte sich, und um sich besser wundern und sehen zu können, sackte er auf seinen kleinen Hintern zusammen, zog ein Bein drunter, nahm die Zehen in die Hand hinter sich und steckte den Mittelfinger der andern in den Mund. Im Näherkommen der Gestalt fing das vorn von dem Segel herabhängende Tauwerk an zu glänzen, als wäre es von Gold. Und als sie noch näher war, entdeckte Tjark, daß dies Segel nicht aus Leinwand, sondern aus weißen Federn bestand. So kam der Pilger vorübergeschritten, ohne sich um Tjark zu kümmern, den diese Nichtachtung kränkte, so daß er, als der Fremde zwei Schritt vorbei war, ihm nachkrähte: »Hä! der trägt sein Segel auf dem Kopf!«

Augenblicks blieb der Gewaltige stehen und drehte sich um, sein Riesen-Schattendach mit einer Hand festhaltend, und Tjark bereute seinen Hohnruf sehr, dieweil er, zur Flucht bereit, merkte, daß er sich nicht bewegen, ja nicht einmal den Finger aus dem Mund nehmen konnte.

»Na,« sagte der große Mann nicht unfreundlich, obgleich seinen blauen Augen mächtige Blitze entfuhren, – und übrigens hatte er einen runden Schiffer-Bart, der von Gold war: »was bist du denn für Einer?«

Tjark konnte den Finger aus dem Munde ziehen und sagte, er sei Tjark. 345

»Und ich, weißt du nicht, wer ich bin?«

Auf einmal wußte Tjark, daß es der Engel Gabriel war, von dem der Lehrer erzählt hatte, daß er zu Maria kam, und er sagte es leise.

»Gut!« sagte der Himmels-Mann. »Nun, warum soll ich denn mein Segel nicht auf dem Kopf tragen, wenn es mir gefällt?«

»Segel«, sagte Tjark, »rollt man auf. Und«, setzte er kenntnisreich hinzu, »das ist überhaupt kein Segel, das sind Flügel.«

»Trägt man Flügel auf dem Kopf?« lachte der Bärtige.

Tjark wußte es nicht. Da wurde ihm gezeigt, daß an dem goldnen Riemenwerk Etwas zerrissen und daß es nun ganz durcheinander geraten war, und der Engel forderte Tjark auf, ihm beim Entwirren zu helfen, er verstünde sich gewiß darauf. Er legte die Fittiche an die Erde, die so hoch waren wie das Segel eines Zweimast-Schoners, und Tjark machte sich an den Riemen zu schaffen, die wahrhaftig von Gold waren. Aber sie waren so unmäßig verfitzt, daß selbst Tjarks geschickte Finger kein lösbares Ende im Wirrwarr fanden, und bald flimmerte ihm alles Gold vor den Augen, und ihm schien, er hocke vor einem Berg goldner Schlangen, die sich unter seinen hineingefahrenen Armen unablässig bewegten.

»So, jetzt ists in Ordnung!« hörte er auf einmal die Stimme des Himmels-Manns; der Berg verschwand, der Engel hatte die Schwingen hochgehoben, und blöden Auges 346 sah Tjark nicht mehr als drei oder vier Riemen sauber und einzeln herabhängen.

»Zur Belohnung«, sagte der Goldbärtige, »darfst du dir etwas wünschen, Tjark«, indem er die Flügel einen nach dem andern an seinen Achseln und Armen festband. »Aber du bist noch klein und zu dumm. In sieben Jahren komme ich wieder vorbei, bis dahin kannst du überlegen. Bedenke aber, daß es Alles sein darf, was du willst, nur nicht Reichtum, denn den habe ich nicht.« Sprachs, griff mit den Händen in die goldenen Spangen, die an den Fittichen waren, nickte Tjark zu, schlug die Schwingen, daß sie knatterten, erst zurück, und vor, und wieder zurück, und mit einem ungeheuren Hiebe, der Tjark an den Boden schleuderte, hatte er sich in die Lüfte hinausgeworfen. Als Tjark aufsah, schwebte er schon in unermeßlicher Höhe, schwanenweiß und blau wie ein Vogel.

Ein überlautes grobes Geschrei weckte Tjark aus seinem Schauen und Staunen, und er sah weit hinten seinen Vater und Bruder, die ihm zuwinkten und drohten. Schon im Fortschleppen des vergessenen Eimers sah Tjark ein goldenes Riemenstück auf dem Boden liegen, und noch im Zurückrennen, Minuten später, sah er es glänzen; als er aber danach griff, war es ein ganz altes und braunes Stück von einem Lederriemen, naß, wohl herangespült und daher so glänzend. Tjark hob es trotz seiner Enttäuschung auf und verwahrte es, indem er zu überlegen begann, was er wünschen solle. Was gab es Wünschenswertes außer Reichtum, und der sollte es nicht sein? 347

2

Tjark wurde es im Laufe der Jahre klar, daß der Himmels-Mann ihm eine unmögliche Aufgabe zugedacht hatte. Der Fischfang, in dessen schwierige Geheimnisse Tjark nach und nach eingeweiht wurde, war das mühseligste und obendrein ein gefährliches Gewerbe, bei dem nicht mehr herauskam, als daß die Familie ihr Leben fristen konnte. Tjark war schlau genug, um zu begreifen, daß ein Widersinn lag in solcher Mühsal und solcher Entlohnung. War der Krabben-Fang nicht eine lange Schande? Dies Waten Schritt vor Schritt, von Sonnen-Aufgang bis ins Dunkel der Nacht, wenn überall die Sterne aus der verschwindenden See aufstiegen, – und was herauskam, war mitunter nicht mehr als ein Dreiviertelseimer voll Granaten. Um so mehr also Tjarks eigene Kräfte in dies Marter-Leben eingespannt wurden, um so weniger konnte ein Ding der Erde ihm wünschenswert scheinen außer dem Reichtum. Es sei denn eine Sache, für die er keinen rechten Namen fand und die etwa ›ungemessene Arbeits-Kraft‹ hieß.

Aber mit zwölf Jahren wurde er zum ersten Male in die unferne Stadt mitgenommen, sah er zum ersten Male, daß es noch andre Dinge gab als Wasser, Himmel, Dünen und Boote, andre Menschen als Fischer und andere Tätigkeiten als Fischfang, und damals begann er zu lernen, daß Reichtum sich nicht nur an einem Tage bekommen ließ, wie es in jenem Buche ausgesehn hatte, oder daß man ihn besaß, sondern daß er sich erwerben ließ, – und 348 so dauerte es nicht lange, bis seine Gewitztheit auf den Gedanken verfiel, er müsse sich das wünschen, was ihn am besten instand setzte, Reichtum zu erlangen. Mit zunehmendem Alter schwankte er hundertmal, was das sei: Geschicktheit der Hände oder Riesen-Stärke oder Klugheit oder Glück – wovon er oft reden hörte – oder ein reiches Weib oder ein Laden oder ein Segel-Schiff, eine Schaf-Herde oder ein Gasthaus oder Rechenkunst oder Gott weiß was. Je näher der Jahres-Tag rückte, um so fiebrischer wurde Tjark, um so peinlicher quälte ihn Ratlosigkeit bei Tage und des Nachts immer der gleiche Traum: daß er wieder mit beiden Armen in den goldenen Riemen-Berg vergraben sei und das Ende nicht finden konnte.

Da starb eines Tages Tjarks uralter Großvater. Beim Begräbnis hörte er den Pfarrer davon predigen, welch ein fleißiges Leben in Gottes-Furcht der Tote geführt, daß er das biblische Alter erreicht und sogar überschritten hatte – vierundachtzig Jahre war er geworden –, und daß ein jedes Leben, wie das seine, wenn es köstlich gewesen, Mühe und Arbeit gewesen sei.

Tjark aber hatte, als er mit sich allein war, nichts fortgetragen als den erschreckenden Gedanken, er könnte es mit seinem Wunsch verfehlen und uralt werden und sterben, ehe er sein Ziel erreicht hatte, und in siedender Angst erschien ihm plötzlich nur Eines rätlich: um das höchste Alter zu bitten, das es gab, da er dann auf jeden Fall Zeit haben würde, alles Erdenkliche zu versuchen und immer wieder von vorn anzufangen. Da sein Großvater mit 349 vierundachtzig Jahren noch hellen Auges und beweglichen Leibes gewesen war, so hoffte Tjark um so mehr, das Rechte zu treffen.

So kam der Jahres-Tag an, und mit zunehmender Angst und Grübelei hatte nur dieser eine Wunsch sich so einzig und gebieterisch mit drohendem: Mich mußt du wählen! vor Tjark aufgestellt, daß jede andre Möglichkeit ausgelöscht war und unauffindbar. Und wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, so lag er in der erschrockenen Erkenntnis, daß die letzten sieben Jahre so schnell und so spurlos hingeschwunden waren wie ein Schatten im April.

Aber wie vor den Kopf geschlagen war Tjark, als der Tag, endlos lang durch sein Warten, jählings vorüber, als es Nacht war und kein Engel Gabriel gekommen. Diese Treulosigkeit versetzte Tjark in eine flammende Wut. Der Gedanke, daß mit ihm gespielt, daß die ganze Quälerei dieser Jahre umsonst gewesen sei, erfüllte ihn mit einer harten Art Raserei, die ihn wie ein Stück Eisen auf seinem Bett liegen ließ, ohne Bewegung.

Ob er geschlafen hatte oder nicht, war ihm unbekannt, als er von einer gewaltigen Stimme geweckt wurde, die dicht an seinem Ohr, wie es schien, seinen Namen rief: »Tjark!« Er fuhr auf, sah die Kammer, die er mit seinen Brüdern teilte, in einem Lichtschein mit den karierten Bettstücken und den Hinterköpfen der Schläfer, und dann mit heißem Erschrecken in der Fensterluke das ganz leuchtende Antlitz des Himmels-Manns, der hereinsah mit lodernden Augen und ihm befahl, zu ihm herauszukommen. 350

Tjark folgte zitternd und fand hinter dem Hause den Gewaltigen, der in seinen Flügeln in der Nacht stand wie in einem weißen Zimmer.

Ob Tjark nachgedacht habe, fragte er gleich mit sanfterer Stimme. Tjark nickte. Durch das nicht mehr erwartete Erscheinen war er, herausgerissen aus seiner Wut, kalt nach verrauchender Hitze, kaum fähig, Etwas zu denken, geschweige einen Wunsch.

»Was wünschest du dir denn, mein lieber Tjark?« fragte der Flügel-Mann mit noch süßerer Stimme. »Reichtum, wie du weißt, ist verboten. Aber sprich nur frei, und wenn es unverständig ist, soll es dich nicht gereuen, und ich werde dir helfen.«

Tjark schöpfte Atem. Ihn umbrauste ein ganzes Leben voll Glanz und Gefunkel. »Ich will,« würgte er endlich hervor, indem er im letzten Zurückschaudern die Ziffer um zwanzig heruntersetzte, »ich will, daß ich hundertundvierzig Jahre alt werde.«

»Ja, warum denn das?« fragte der Engel erstaunt.

»Weil –« Aber Tjark schwieg. Das Wort Reichtum schien ihm auf einmal ängstlich zu sagen, aber da sah er, daß der Engel es schon erraten hatte. Seine Augen waren da weiß geworden wie Sterne, sein goldener Bart schütterte, er trat dicht vor Tjark hin und sagte, sich über ihn beugend, nur mit halber, aber schrecklicher Stimme: »Du Narr! Glaubtest du, mich zu hintergehn? Ja, habe deinen Wunsch, du Flegel, aber ich sage dir, du wirst es –«

Allein das Wort »bereuen« hörte Tjark nicht mehr. Denn 351 der Engel hatte eine Hand aus der Flügel-Spange gezogen und Tjarks rechten Arm unter der Achsel gepackt, und im Augenblick war ihm das ganze Glied von der Achsel bis in die Fingerspitzen in brennendes Feuer verwandelt, mit so rasendem Schmerz, daß Tjark brüllte und sich zerstob.

3

Tjarks alte Mutter erwachte von einem Schrei, sah aus dem Fenster und sah im Mondlicht den weißen Leib ihres Tjarks auf dem dunklen Erdboden liegen, lief hinaus und brachte ihn zur Besinnung. Tjark heulte wie ein Tier, als er erwachte, denn sein Arm war, als er bewegt wurde, wieder in Flammen aufgegangen. Und so blieb es durch Tage. Die Seinen vermeinten erst, er sei im Monde gewandelt, habe auf unbegreifliche Weise das steile Schilfdach erstiegen und sei abgestürzt. Aber dann ließ sich nicht verbergen, daß Tjarks rechter Arm und die Hand so schwarz waren wie Kohle und wie ein verkohltes Stück Holz. Da meinten sie, er habe Umgang mit dem Teufel, und zogen sich von ihm zurück. Tagelang hockte er stumpf umher. Er merkte endlich, daß der Arm fortfuhr zu schmerzen, aber nur, wenn er bewegt wurde. So steckte er die Hand in die Tasche und wollte sich wieder an die Arbeit machen, aber er wurde stillschweigend fortgedrängt. Fast ein Jahr trieb er sich nun untätig herum, nachdem er ein altes Netz gestohlen hatte, mit dem er, so gut es einarmig ging, Fische im Flachen fing, die er roh verzehrte. Endlich nahm er sich zusammen, dachte, daß es anderswo andre Gewerbe 352 gebe als Fischfang, auch solche, die sich mit einer Hand verrichten ließen; seine alten Pläne erschienen wieder, er hoffte von neuem, Trotz erwachte gegen den Fürchterlichen, der ihn gestraft hatte, und der Gedanke, er habe ihn betrügen wollen, indem er ihm den Wunsch zwar erfüllte, aber die Möglichkeit nahm, ihn in die Tat umzusetzen. Da nahm Tjark den Kampf mit dem Himmels-Mann auf; er brach in seine alte Kammer ein, stahl, was er kriegen konnte, und lief in die Stadt.

4

Die nun folgenden sieben waren in Tjarks Leben die bittersten und mühvollsten Jahre. Ungelernt, wie er war, an der Ausübung jedes in der Stadt betriebenen Handwerks durch sein Gebrechen gehindert, war er nach Wochen des vergebenen Anklopfens, des Hungerns und Herumlungerns froh, beim Abdecker anzukommen, der mangels eines Gehülfen bereit war, es mit Tjarks breiter Gestalt und dem einen, aber kräftigen Arm zu versuchen. Ein elendes Gewerbe, aber es genügte Tjark fürs Erste, um das Verbeißen des Schmerzes, das Stillhalten des Gliedes zu lernen, und es ließ ihm auch so viel Zeit, um die eine Kunst zu erwerben, auf die er alle Hoffnungen seines Lebens zu setzen hatte, die des Schreibens mit der Linken. Umsonst lernte Tjark hinzu, daß dem Stadt-Menschen viele Wege verschlossen sein konnten; so ließen sich immer noch neue auftreiben; diese wurden Schleichwege genannt und waren, wenn man genauer zusah, die beliebtesten. Tjark war entschlossen, sie zu gehn. 353

Nach unsäglicher Mühe eines vollen Jahres war Tjark im Besitze seiner Kunst, verließ seinen Brotherrn, zog Handschuhe an und begann seinen Weg. Er begann ihn in der Welt, die männiglich auszusuchen pflegt, der mit der gleichen Gierde wie Tjark dem gleichen Ziele nachstrebt, in der sogenannten Neuen Welt; aber ihn in allen einzelnen Strecken zu verfolgen, wäre ein zu langwieriges und stumpfes Bemühn. Nach abermal sechs mal sieben oder mit dreiundsechzig Jahren sehen wir Tjark seit langem am Weg-Ende und in einem Reichtum von solcher Ausdehnung, daß er, wofern er nur acht auf ihn gab, nicht mehr ab-, sondern nur mehr zunehmen konnte. Dies hatte er fertiggebracht, indem er an jedem Tage seines Lebens, vom Öffnen der Augen bis zum Schließen, nur ein Ding vor sich gesehn hatte: die Arbeit, die Aufgabe des Tags. Und sie hatte er erledigt, einsam, grimmig, abgeschlossen in sich, ewig auf der Hut vor jeder schmerzmachenden und störenden Bewegung. Wie zehntausend graue Eisen-Wände hintereinandergestellt, die er sich mit seinem einen Arm hinaufzog, waren die Tage von Tjarks Leben gewesen.

In der ersten Hälfte dieser Zeit träumte Tjark viel und nachtaus nachtein das Gleiche. Die eine Erscheinung war, daß er, unter dem riesenhaft angewachsenen goldenen Riemen-Berg halb vergraben, halb erstickt, nach einem Ausgange suchte. Die andre: daß er die rufende Stimme des Himmels-Manns hörte und vor ihr durch Zimmer und Flure, über Treppen und durch Straßen entfloh; oder auch, daß er der Stimme folgen und ihr Trotz bieten wollte, daß sich 354 aber in Straßen und Höfen, in Fluren und Räumen der Engel nicht finden ließ. Und immer endete der eine wie der andere Traum damit, daß Tjark erwachte, weil er sich bewegt hatte und sein Arm ihn schmerzte.

Tjark glaubte zu begreifen, daß der Himmels-Mann es darauf anlegte, ihn auch nachts zu bekämpfen und ihm keine Ruhe zu lassen, und auch diesen Nacht-Kampf nahm er auf. Ob es mehr darauf ankam, nicht zu träumen oder Andres zu träumen oder aber sich nicht zu bewegen im Schlaf, wußte er kaum. Er meinte, es käme vor allem darauf an, sich immer eiserner bei Tag in einen Bohrer zu verwandeln, um, auf diese Weise gerüstet, den nächtlichen Kampf anzutreten. Es dauerte zwei Jahrzehnte, dann hatte Tjark auch hier die Oberhand gewonnen. Die Traum-Angst legte sich allgemach, er schritt entschlossener auf die Stimme zu, die nun ihrerseits zu entfliehen schien, und gleichzeitig wurden die ganzen Erscheinungen selten und seltener, bis mitunter Wochen und Monate vergingen, ehe sie sich zeigten, und Tjark triumphierte.

Da begab es sich eines Nachts in seinem dreiundsechzigsten Jahr, daß Tjark erwachte, wie nun schon seit Jahren nicht mehr, weil sein Arm ihn schmerzte. Wachliegend im Dunkel, besann er sich auf das Traum-Gesicht, das daran schuld gewesen war, doch fand er Nichts mehr als das leuchtende Antlitz des Himmels-Manns in der Nacht über ihm, der in seinem Bett lag wie schlafend. Unter dem Dach seiner Fittiche, die das Licht-Haupt trug, blickte es auf Tjark herunter mit einem starken Ausdruck von Mitleid und 355 Spott der gesenkten Lider, der Tjark im Wachen um so heftiger verdroß, als er ihn mit Schreck empfunden hatte im Traum.

Dies, dachte er, war nicht der Ausdruck Eines gewesen, der sich für besiegt ansah, – und mit Tjark war es so, daß er heut, wo er ihn nicht mehr brauchte, auch den gesunden Arm darum gegeben hätte, den Gewaltigen unterlegen leibhaft vor sich zu sehn. Tjark begann zu grübeln, woran das liegen mochte, doch entschwand nur der Schlaf währenddem, als würde eine Decke fortgezogen von ihm; er lag wacher von Stunde zu Stunde, erhob sich endlich im grauenden Morgen, legte einige Kleider an und wanderte durch die Räume seines schönen Palastes.

Er fand Zimmer darin, die er niemals benutzt, und Zimmer, die er niemals gesehen hatte. Er fand auch solche, an die er sich erinnerte, die er gesehen und wieder vergessen hatte. Die Zimmer seiner verstorbenen Frau waren da; er erkannte ihr Bild an der Wand im Dunkel; die Züge blieben nicht sichtbar. Aber die vor Jahren Dahingegangene hatte kein Gesicht gehabt, das sich einprägte, und die Ehe war er eingegangen, weil die Verbindung mit ihr ihn ein beträchtliches Stück seines Weges in der leichtesten Weise vorwärts brachte. Tjark ging weiter und betrat die Zimmer seiner Töchter, an die er sich erinnerte wie an zwei farbige Schmetterlinge und eine Stunde im Mittsommer: sie waren in weit entlegenen Städten jetzt, wo sie Männer hatten, die für Tjark arbeiteten. – Und Tjark durchschritt die Zimmer seines ältesten Sohnes, der 356 eines Tages von einer Segelfahrt nicht zurückgekommen war, und betrat die des jüngsten. Das Bett war leer; im Fenster-Vorhang zeigte sich ein weißlicher Kopf und Verängstetes wie zwei Augen; der Knabe war stumm und ärmlichen Geistes, und Tjark drehte sich um.

Tjark merkte, daß er durch die Räume seines Lebens gegangen war und sie leer gefunden hatte. Doch blieb der letzte, den er nunmehr betrat, der seiner Arbeit, der voll war zum Rand.

Aber in dieser Stunde um Sonnen-Aufgang, die Tjark zum ersten Male untätig vor seinem Schreibtisch versaß, ging der Inhalt auch dieses Raumes langsam auf und davon wie ein Rauch durch das Fenster, das dieweil allgemach von der Morgen-Sonne zu glänzen begann, und es entstand eine Leere um und in Tjark, während er seine Augen nicht abwenden konnte von dem einsamen Spiel des Lichts, das alle Dinge umher leise anfaßte und glänzend aufblicken ließ.

Dann dachte Tjark, und zwar so: Sein Ziel war seit langem erreicht. Nun war er dreiundsechzig Jahre alt geworden, noch lagen sieben vor ihm bis zum gewöhnlichen Lebens-Ende –, und dann noch abermals siebzig. Und diese siebzig, sie würden mit dem Gleichen angefüllt sein wie die letzten zwanzig und dreißig, mit der Vergrößerung des Vorhandenen, mit den gleichen Gedanken, Berechnungen, Verhandlungen, Reisen und Plänen, tagein und tagaus, und auf einmal stiegen ihm die Haare zu Berge angesichts der entsetzlichen Einförmigkeit, Öde und Länge dieser siebzig Jahre. 357

Da erschien ihm das Antlitz des Himmels-Manns wieder wie im Traum, und noch spöttischer vielleicht stach sein Blick unter den gesenkten Lidern hervor, und siehe da, Tjark glaubte zu wissen, welchen Grund die Verachtung hatte. Der Engel war gleichwohl der Listigere gewesen und hatte gesiegt; mit Tjarks eigenen Kräften hatte er ihn besiegt, denn Tjark hatte sein Ziel, den Reichtum, erlangt, und die siebzig Jahre mehr, die er erbeten hatte, er hatte sie nicht nötig.

5

Weniger mühsam, aber schwerer und bitterer als die ersten sieben Jahre des Anfangs waren die nun folgenden sieben für Tjark. Maßlos quälte ihn, unerträglich zu werden begann die Langsamkeit der Zeit. Wochen der Einförmigkeit dehnten sich aus zu Monaten, Tage zu Wochen, Stunden zu Tagen, und die Minuten schwollen ihm zu Stunden an unter dem nicht mehr weichenden Druck des Gedankens: noch siebzig Jahre so! Eine entsetzliche Schnecke hatte die Gestalt der Zeit auf ihren Rücken genommen; Tjark konnte sie sitzen sehn, an das riesige Schneckenhaus gelehnt und im Schlaf, und diese Erscheinung drang in seine Nacht-Träume ein und marterte ihn furchtbar. Dann lag die Schnecke, ein Ungetüm, im Zimmer, in dem er schlief; die sitzende Gestalt auf ihrem Rücken war der Engel, der im Schlummer das Haupt auf die Knie gelegt hatte, und das Schneckenhaus wandelte sich deutlicher Nacht um Nacht in die Fittiche um. Tjark aber lag im Bett wie angeschmiedet. Nun konnte 358 er, der es gewaltsam verlernt hatte, sich nicht bewegen, obwohl an all seinen Fasern die Gier zerrte, aufzuspringen und mit Fäusten und Füßen das grauenhafte Tier einzutreiben, das durch Stunden oder Jahre Nichts tat, als den blinden Kopf mit den Hörnern zitternd hin und her und auf und nieder zu bewegen.

Dann waren diese sieben Jahre zu Ende, und Tjarks Kraft war es auch. Ihn ekelte vor diesem Leben wie vor einem Aussatz an seinem Leib, und wenn er schon gezwungen war, weiter ein Leben zu führen, so doch nicht dies. Ihm kam der Gedanke, Alles im Stiche zu lassen, davonzugehn ohne einen Heller und an einem andern Punkt der Erde von vorn anzufangen. Allein – was konnte es anders werden als bisher: reich werden das Ziel, und ewig dasselbe Zerlegen und Verbinden der Elemente des Reichtums seine Beschäftigung? Andres hatte er nicht gelernt, für alle anderen Möglichkeiten des Lebens waren ihm die Organe eingeschrumpft, verkümmert und abgestorben wie sein kohlschwarzer Arm. Und so war selbst der Aus- oder Schleichweg, der ihm erschien, wenig versprechend; doch schlug er ihn ein und begab sich ans Reisen, um in der Betrachtung fremder Länder und Völker Zerstreuung zu suchen. Und zwar gedachte er zuerst, den Fleck wiederzusehn, wo er sieben Jahre lang leicht und heiter gelebt hatte und wo ihm der mächtige Austilger jenes Reichtums, der reisige Flügel-Träger, begegnet war: den Strand seiner Kindheit. 359

6

Tjark fuhr zu Schiff nach der Alten Welt, erkannte jedoch unterwegs, daß diese Fortbewegung zu geschwind war. In seiner ungemeinen Angst vor den Jahren glaubte er, um die ganze Welt gekommen zu sein, ehe ihm ein weißes Haar mehr aus dem Kopfe gewachsen war, und so beschloß er, ein gesunder und rüstiger Alter, zu Fuß zu gehen. Und also, in kleinen Tage-Reisen langsam von Lande zu Land, kam er der Gegend seines Ursprunges näher.

Die Wanderung tat ihm wohl. Wiederum lernend, seine Sinne, vor allem die Augen, zu brauchen, sah er alltäglich und stündlich neue Welten in Wäldern und Weihern, Äckern und Gärten, in Abend- und Morgen-Rot, und er schöpfte wiederum Zuversicht und Vertrauen aus dem erstaunlichen Anblick der Gestirne über seiner nächtlichen Lagerstatt im Freien. Wenn er im Buchen-Walde anhielt, dem lauten Schlagen der Finken zu lauschen, dem Spiel der Sonnen-Lichter im Tiefen der grünen Gewölbe, so konnte er minutenlang ohne Bewegung stehn und sich einbilden, er höre in der warmen Stille das Rieseln der Sekunden, die fortrannen, unaufhaltsam und unwiederbringlich, und er konnte sich freuen und lange vor sich hinlächeln, wenn er des Weges davonzog. Es kam so weit, daß ihm Abend-Stunden, wo er unter überhangenden Zweigen der Gärten dem süßen Pausen-Gesang der unsichtbaren Schwarzamsel zuhörte, nicht lang genug sein konnten im versunkenen Anschaun des Goldes, das den weiten Kristall der Himmel überschmolz und wieder 360 entlosch, der aufblühenden Farben und der vergehenden im weißen Windhauch des Gewölbes. Und er konnte aufbrechen inmitten der Nacht, damit ihm der Schlaf nicht das Bewußtsein raube, das Schwinden der Stunden zu spüren, und dann traute er sich, eine halbe Ewigkeit so durchwandern zu können.

Aber diesen Sonnen-Blick in der Nebel-Schlucht seines Lebens zu erdrücken, genügte ein wirklicher Regen-Tag, dessen erste Hälfte Tjark zwar trotzig durchwanderte, dessen andre Hälfte er jedoch, naß bis auf die Knochen, am Fenster eines Gasthauses verbringen mußte. Da erkannte Tjark angesichts des strömenden Feindes, der seinen Schritt hemmte, die Ohnmacht dieses Mittels zur Überwindung der Zeit. Wie viel Tage waren vergangen? Ein Häuflein, das, zusammengescharrt, nicht viel mehr als einen Monat ausmachte. Einen Monat von siebzig Jahren, und noch war nicht einmal das letzte der ersten siebzig dahin.

Am andern Morgen, als der Regen sich gelegt hatte und Tjark, in Verdrossenheit verbissen, der Verzweiflung ganz nah, ausschreitend nur, um müde zu werden, begierig nach dem letzten Täuscher und Tröster, dem Schlaf, seine Wanderung aufnahm, war es Herbst geworden in der Natur. Unfreundlich braun und verwirrt, ablehnend empfing Tjark ein Wald, über ihm unwillig rauschend und mit Schauern von Nässe ihn überschüttend. Aber allmählich erschien Tjark dieser Wald sonderbar, der keine Wege hatte und in dem er kein lebendes Wesen zu sehen 361 bekam. Nicht einmal die Spuren von Getier oder Menschen traf er durch Stunden, keinen Pfad, kein geschlagenes Holz, keine Falle oder Feuer-Stätte oder einen verlassenen Meiler. Ewig die gleichen Höhlen von braungesprenkeltem Grün taten sich auf und schlossen sich wieder, dämmrig im wolkenverhangenen Licht, traurig, immer trauriger, gleich tausend unkenntlichen Gesichtern in Müde gesenkt, und die Stille war wie ein Grab, die nicht ein Rascheln, kein Rauschen, kein Vogel-Ruf je unterbrach. Auch keinen Busch voller Beeren, keine Quelle traf Tjark, seinen Hunger und Durst zu erquicken.

Gegen Mittag sich niederwerfend, wurde Tjark von Verzweiflung übermocht im Gedanken, daß er vielleicht die zweite Hälfte seines Lebens in dieser Einöde verbringen solle, und mit dem Rest seiner Kraft rief er den Himmels-Mann an und verhöhnte ihn: was er zu tun gedenke, um zu verhindern, daß er, Tjark, vor Ablauf der Frist des Hunger-Todes sterbe? – Wenn dies, dachte er, ergrimmt, eine neue Art Kampf sein soll, so will ich ihn ausfechten wie den ersten. –

Überdem, wie er so dasaß und das Brennen seiner Sohlen verspürte wie einst das des Arms, vernahm er einen Laut, den er erst für das Plärrweinen eines Kauzes hielt, dann, da es nicht aufhörte, für das Wimmern eines kleinen Kindes. Mutlos zwar und böse, erhob er sich doch und ging darauf zu; allein er kam ihm nicht näher, und bald schien es da, bald dort, zur Linken, zur Rechten, ja hinter ihm gar, und Tjark glaubte sich geäfft, keuchte und troff 362 von Schweiß seines Alters in der kalten Nebel-Luft. Dann ergriff ihn die Müdigkeit; er schlich halb geschlossener Augen durch die Stämme, allein da öffnete sich plötzlich der Wald, Tjark erstaunte und sah auf einer kleinen Lichtung ein Haus oder eine Hütte, aus der nun deutlich das Kindes-Weinen hervorscholl.

Tjark wankte über den Platz auf die Hütte zu und sah auf dem Sandweg, der durch einen schmalen Garten zur Haustür führte, einen großen und stämmigen Mann liegen auf dem Gesicht in einer Blutlache. Er trat hin zu ihm und versuchte, ihn umzudrehn, doch war er so seltsam schwer, daß es ihm nicht gelang, bis er, vergeßlich, den Schmerzens-Arm zu Hülfe nahm, und sofort wurde der Mann leicht und ließ sich bewältigen, wenn auch Tjarks Arm in Flammen aufging.

Der Mann hatte nur Hemd und Hose am Leib, an den Füßen Nichts; neben ihm lag ein großes Beil, er hatte einen braunen Bart und angenehme Züge, bleich vom verlorenen Blut. In seinen Augen war etwas sonderbar Durchbohrendes, das Tjark bewog, sich trotz seines Schmerzes um die Wunde zu kümmern, die er im linken Knie des Holzfällers klaffen sah. Er begriff, daß zuerst der Blutlauf abgeschnürt werden mußte. Der Mann hatte einen Riemen um den Leib, Tjark wollte ihn abschnallen, aber wieder ging es nicht, bis er die Rechte dazu nahm, da ging es gleich, und ebenso wars, als er den Riemen um den Oberschenkel schnürte. Tjark begriff nicht, warum er so handelte, aber nun trat er in die Hütte, um nach 363 Leinwand und Wasser zu sehn. Sein Arm war wie ein Ding aus glühenden Kohlen.

Drin war ein einziger Raum, und auf einem elenden Bett sah Tjark eine schöne bleiche und dunkelhaarige Frau liegen, die ihn schmerzlich anblickte und sagte: »Ich habe ein Kind geboren und bin so schwach, daß ich –« Ihre Stimme versagte; sie machte mit einer Handbewegung den Kopf des Neugeborenen an ihrer Brust von der Decke frei. Der weinte nicht mehr, sondern sah Tjark mit Augen an, die glänzten wie blaues Feuer. Wie es schien, hatte die Frau das Kind ohne jeden Beistand zur Welt gebracht, denn die Spuren der Geburt befleckten das Lager noch, und Tjark war ratlos, wo er anfangen sollte, um zu helfen. Auf seine Frage nach Leinzeug deutete die Frau auf eine Truhe, wo er fand, was sich brauchen ließ.

Eine Tätigkeit begann für Tjark, von der er sich Nichts hatte träumen lassen, und von so vielfältiger Beschaffenheit wie noch keine in seinem Leben, und da war auch kein Handgriff zu tun, den er mit einer Hand allein hätte ausführen können. Ihm wurde sein Arm mit glühenden Zangen zerfleischt, aber zweierlei Ding war sonderbar: wenn er zurückschauderte vor einem Zugreifen mit der Hand, erschien hinter ihm Etwas wie eine Gewalt, die ihn antrieb, nicht grimmig und drohend, sondern vielmehr ernst, ruhig, fast sanft. Und jedesmal hinter einem Tun, wenn er ächzend vor Pein still hielt, füllte sein übriges Wesen sich wie mit einer kühlfrischen Süße, die anzufühlen war wie ein Gesang seines Leibes mitten in der marternden Glut. 364

Tjark mußte Leinen in Stücke reißen für das Kind und in Streifen für den Verletzten. Er mußte das Kind einhüllen, die Wunde verbinden, den Mann ins Haus schaffen und auf sein Streulager betten. Er mußte zum Brunnen und Eimer voll Wasser herschleppen, mußte das Kind baden und es wieder einwickeln, das Bett reinigen und ein neues Leintuch darüber decken und zugleich die Wöchnerin heben und halten. Im Stall schrie die Ziege, weil Melkzeit war, er mußte sie von der Milch befreien, mußte Brennholz hereintragen, Feuer schlagen und Milch und Wasser daransetzen. Er mußte auf das Kochen achtgeben, unterweil Brot schneiden, den Verband des Mannes erneuern, ihm zu trinken und zu essen geben, mußte Mehl in das Wasser träufeln und zum Brei rühren, Milch daran geben und den Brei fertigmachen. Er mußte die Wöchnerin speisen, und schließlich mußte er das Kind füttern, da der Mutter der Schreck durch ihren Mann die Milch verschlagen hatte, – und als er es auf den Knien liegen hatte, erschien es ihm schön wie Rose und Lilie.

Tjark wurde wacker geplagt an diesem Nachmittag seines Lebens, aber das freilich merkte er am wenigsten. Er mußte zugreifen mit beiden Händen, aber an den Flammen-Schmerz gewöhnte er sich mit der Zeit. Das Sonderbarste war die Geschwindigkeit, mit der all Das vor sich ging und in der es wiederum Augenblicke gab, wo Tjark wie verzaubert war, wo er sich in einer Bewegung stille zu stehn schien eine ewige Weile lang. Kaum aus der Haustür, war er auch schon zurück mit gefüllten Eimern, aber 365 am Brunnen selbst, das Hochziehen der Kette hatte ein halbes Jahrhundert gewährt oder länger. Kaum ans Feuer gerückt, war die Milch schon am Sieden; aber während Tjark am Herde saß, in die Flammen blickte und sich müde und schläfrig fühlte, währenddem schienen ihm tausend Stunden zu vergehn, die er verschlief. Und wie er endlich am Tische saß, selber kauend und schluckend, da kam er sich eingehüllt vor in ein lautlos unfaßliches Gebrause, und etwas schien ihm durch sein Wesen hin zu stürzen, wie ungeheure Wolken von Staub durch ein Sieb.

Kaum gedacht, lag Tjark auf einer Schütte Laub im Winkel der Hütte und schlief.

7

Tjark erwachte, als noch die Sterne am Himmel waren, die er durch das kleine Fenster dicht neben seinem Lager gewahrte. Seltsam fühlte er sich zugleich an allen Gliedern wie zerschlagen und doch hellwachen Geistes, so daß er still und ungesehen davonzugehen beschloß. Sein Rücken war so müde und steif, daß er ihn nicht grad in die Höhe brachte, und er zitterte, als er ging, und mußte sich schwer auf seinen Stab stützen. – Das, dachte Tjark, ist die Strafe für den Gang durch den Regen und das ungewohnte Tun gestern, und er öffnete die Tür der Hütte. Über die Schwelle tretend, war es ihm, als hätten drei glänzende Augenpaare nach ihm geblickt, die des Mannes, der Mutter und des Kindes, die er doch allesamt im Schlaf 366 hatte liegen sehn. Er wollte noch einmal zurückspähn, aber die Tür lag im Schloß und widerstand seinem Druck. Tjark schüttelte den Kopf und schritt mühsam davon.

Tjark wanderte, bis die Sonne aufging, langsam und langsamer und mit immer öfteren Pausen, so blieb ihm der Atem aus. Der Wald war sehr stille und kühl in dem Dunkel der Frühe, aber die Bäume und Büsche zu Seiten des Weges waren in einer sonderbaren Bewegung begriffen, mit der sie ununterbrochen ihre Farbe änderten und sich wandelten, und eben noch sommerlich grün, waren sie schon braun und fahl, jetzt gar schwärzlich und nackt, und im Augenblick wieder so leicht begrünt wie im Frühling. Vor Tjarks Augen aber lag ein Geschleier, das ihn dieses nur undeutlich wahrnehmen ließ.

Tjark trat aus dem Wald, nachdem er mit vieler Mühe eine Anhöhe erstiegen hatte, und fand sich über einer Talsenke und über der unermeßlichen Ebene im Frühsonnen-Glanz, deren blitzende Scheibe sich gerade über dem Rand der Ebene zeigte. Sie blendete Tjark so, daß er die Augen zudrückte, und als er sie öffnete, war die Aussicht ihm angenehm verschwommen und dämmrig, so daß er kaum erkennen konnte, was unter seinen Füßen in der Tiefe war. Doch glaubte er, es sei die Stadt seiner Kindheit, die er sich freilich weniger groß vorgestellt hatte, denn hier war ein ganzes Meer roter Dächer und unzählbare Türme und Kuppeln. Dumpfes Erbrausen scholl zu ihm aus, und jetzt begannen von allen Türmen die Glocken zu läuten. Es war Sonntag, und Tjark, von einem andächtigen Gefühl 367 ergriffen, stützte das Kinn auf den vor sich gestellten Stab, als er merkte, daß ihm ein Bart gewachsen war, der weiß war und bis zum Gürtel reichte. Dies erstaunte ihn sehr, aber das Läuten der Glocken war so laut und so feierlich, daß er Alles darüber vergaß. Es schwoll ihm zu ungeheurem Dröhnen in den Ohren, er ging zitternd vorwärts und bergunter, kam an ein Gitter-Tor und sah, daß ein Friedhof dahinter lag. Als er aber zwischen den Gräbern war und sich zu einem der Kreuze beugte, um zu sehn, ob ihm der Name vielleicht bekannt sei, da war es so dunkel vor seinen Augen geworden, daß er die goldenen Buchstaben und Ziffern kaum noch erkennen konnte, und Nacht war um ihn her, als ihm bewußt wurde, daß die das Sterbejahr des Toten anzeigende Ziffer das Jahrhundert angab, das noch weit vor ihm gelegen hatte. Noch rang er danach, dies zu begreifen, aber in der Nacht, in der er stand, war das Tosen der Glocken wie das eines Meeres, das ihn zu verschlingen drohte; er tastete mit seinem Stab nach einer Erhöhung, wo er sich niedersetzen und ausruhen könne; da fühlte er, daß sich ein Arm um seine Schulter legte, der ihn sanften Druckes davonführte, und eine sanfte und ernste Stimme, die Tjark kannte, sagte: »Nicht fürchten, Tjark, nun will ich dich führen!«

»Ist es noch weit?« fragte Tjark.

»Tu die Augen auf, Tjark!« befahl die Stimme ihm laut, »du bist am Ziel!«

Tjark öffnete die Augen und war erfreut von einem sehr milden und grünen Leuchten, das ein schönes Wald-Inneres 368 von vielerlei Bäumen erfüllte. Darin saß, wenige Schritte von ihm entfernt, die Frau aus der Hütte in einem Kleide, das dunkelblau war und gestirnt; aus ihren Knien hielt sie das Kind mit der einen und eine weiße Lilie mit der andern Hand, nach der das Kind griff, und daneben stand der Holzfäller, gestützt auf seine Axt. Zwischen ihnen und Tjark aber war eine lange und viereckige gelbe Öffnung in der Erde, ein Grab. Tjark sah auf und erkannte über sich das Antlitz des Himmels-Manns, dessen Arm um seine Schulter lag. Von Alledem war Tjark so ergriffen, daß er vornüber und in das Grab zu stürzen meinte, aber indem sah er den Lilienschaft in der Hand des Kindes sich ihm entgegenstrecken. Da reckte Tjark selber die Hand aus, die rechte, ergriff die Lilie und hielt sich daran, obschon das Grab zwischen ihm war und ihr, und während der schmerzliche Arm sich mit einer großen Süße erfüllte.

 


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