Albrecht Schaeffer
Das Prisma
Albrecht Schaeffer

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Fidelio

1

Die Geschichte des Sängers Iwan Skobeleff– eigentlich Peter Nehr –, Baßbuffos an der Königlichen Oper zu A., der bis zu seinem einundzwanzigsten Lebensjahre das Schlosser-Handwerk betrieben hatte, danach von einem vermögenden Manne ›entdeckt‹, wie es heißt, und zum Sänger ausgebildet, an fünfzehn Jahre sich künstlerisch größter Beliebtheit, menschlich des besten Rufes erfreute, endlich im neununddreißigsten Jahre seines Lebens die Sängerin Eleonore Hennig mit bloßen Händen erwürgte und zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilt wurde – mit welchem Augenblicke die Öffentlichkeit ihn und sein Schicksal aus den Augen verlor: diese Geschichte ist wert, erzählt und gelesen zu werden, wie sich zeigen wird.

Von der Vorgeschichte Iwans oder, wie er aus diesen Blättern mit richtigem Namen genannt werden möge, Peters, so viel: daß seine Mutter, Tochter eines geringen Kätners in der Umgegend von Hamburg, ihn von einem polnischen Landarbeiter russischen Namens – nämlich Skobeleff – empfing; ihn in Hamburg, im Hospital, zur Welt 58 brachte, ohne ihn mehr zu sehn; daß der Knabe im Waisenhaus aufwuchs, mehr Drangsal erlitt als Güte, das genannte Handwerk des Schlosserns erlernte, und daß er, erwachsen, ein Mensch von großer und breiter Statur, schwarzhaarig und blauäugig und von ernsten Zügen eines gemischt trägen und schwermütigen Ausdrucks geworden war. Der Grundzug seines Wesens und Gehabens war allezeit ruhiger Ernst, um so mehr in späteren Jahren, wo er behäbig, Familienvater und Hausbesitzer geworden war und sein großes und blaßgraues Gesicht mit dem kleinen schwarzen Schnurrbart, der ihm als Buffo erlaubt war, in seiner Fleischigkeit jene Maske von ausdrucksvoller Charakterlosigkeit angenommen hatte, die den Meisten seines Standes eigentümlich zu sein scheint. Gab es auch kaum einen Menschen, mit dem er jemals in einem längern Gespräch begriffen gewesen wäre, so war er doch Jedem angenehm, der ihn kannte. Seine außerordentliche – durch Tiefe, Gewalt und Klangfarbe außerordentliche – Stimme ließ ihn sogleich einen Platz einnehmen, der selbst Eifersüchteleien der Genossen nahezu ausschloß, während sie andererseits sowohl den Glanz wie alle Plagen des gefeierten Tenor-Sängers von ihm abhielt; und die Friedlichkeit und Geradheit seines Lebensganges erlitt nie eine Störung.

Mochten auch seine Jugendjahre, die traurigen, nicht gänzlich leer gewesen sein an Stunden innerer Heiterkeit, wie sie kaum einem Leben versagt sein können, so fand diese doch nur selten einen äußern Ausdruck im Klang, so sehr 59 in der Waisenhaus-Schule die Singstunde ihm die einzig behagliche und auch ehrenvolle gewesen war. Doch genügte ein sonnenheller Morgen der Arbeit in jenem neuen Palast in Othmarschen, um aus seiner Brust die Stimme, aus dem die Treppe herabschreitenden Paar Neuvermählter das Staunen hervorzulocken, das dann im Verein mit dem Glücks-Empfinden der kaum geschlossenen Ehe die gewaltige Änderung in Peter Nehrs Leben bewirkte und ihn fast eines Schlages in den Gesang-Studenten, in den Baßbuffo Iwan Skobeleff tönenderen Namens verwandelte.

Neun Jahre später konnte der schon berühmte Sänger in Ida Fuhrmann, der Tochter eines sehr wohlhabenden Hamburger Bürgers, eine gleichaltrige und gleichgeartete Lebens-Gefährtin heimführen. Als Weib schon an der Grenze des Verzichts, war sie von Wesen so schlicht wie ihr Scheitel; die jugendliche Verliebtheit in den Sänger und Verkörperer Hagens, auch Wotans und anderer Götter und Helden mehr wich bereits in den Flitterwochen einem gelassenen und liebevollen Besitz-Empfinden, das in Handlung mehr als in Wort und Blick und Gebärde seinen Ausdruck suchte. Als dann Kinder kamen – Knabe und Mädchen –, beschränkte es sich ganz auf sie, ihre Pflege und Erziehung. Peter wünschte es nicht anders; er war ganz zufrieden.

Dann kam jene Verirrung in A. und die grausame Verwandlung alles Gewesenen. Kurze Zeit vorher war Peters Schwiegervater als Witwer gestorben, Winters-Anfang. Für das Frühjahr hatte er seine Verbindung mit A. gelöst 60 und eine neue mit der Vaterstadt seiner Frau geschlossen. Dorthin war sie bereits im März übergesiedelt, hatte den väterlichen Haushalt aufgelöst und ein Stockwerk des Hauses mit den eigenen Möbeln eingerichtet. Ende April dachte ihr Mann zu folgen; nicht so das Verhängnis.

2

War es eine Verirrung gewesen, diese Leidenschaft zu einem halb noch kindlichen, kindischen Wesen, deren Gesang mehr ein Zwitschern, deren Dasein mehr ein Gestalt gewordenes Schmeicheln und sich Schmeichelnlassen gewesen war als irgend etwas Andres? Eine Verirrung, oder Erkrankung, oder etwas Naturgemäßes vielleicht? Peter, in der Einsamkeit seiner Zelle später nach jener Leidenschaft suchend, fand, wenn sie eine Krankheit gewesen war, weniger von ihr, als ein vom Fieber Genesener davon in sich finden mag: Erinnerung dumpfester Art nicht mehr fühlbarer Zustände der Qual und Zerrüttung. Drang er den unbestimmten Gefühlen nach zu Vorgängen, Handlungen, so mußte er sich zwar sagen, daß Dieses und Jenes so vor sich gegangen war, oder so; aber ebenso wie die Gefühle ihm nicht mehr faßbar waren, so die Tatsachen nicht mehr fühlbar. Selbst die Erscheinung des Mädchens war wie ausgelöscht; zerstört bis auf ein seltsames Bruchstück: die Vorstellung ihres Nackens, zusammenhanglos sichtbar in einer Leere; und dann seine eigenen großen Hände, die ihn umkrallten; zuletzt das Gefühl der sich wehrenden Muskeln und Bänder 61 unter seinen Fingern – mit dem, wenn er es in sich zerdrückte, die Vision schwand.

In Peter Nehrs Leben war, wie sein Charakter es bewirkte, Alles mit einer Selbstverständlichkeit vor sich oder vielmehr über ihn ergangen. Nichts war ihm unerträglich erschienen, so daß er sich dagegen hätte empören mögen; und nachmals Nichts so erstaunlich oder unglaubwürdig, daß es ihn nur verwirrt hätte. Alles hatte er so mit Gelassenheit hingenommen, derselben, mit der er dann auch das Zärtlichkeits-Gefühl für die Sängerin in sich eindringen ließ, ohne zu ahnen noch zu bedenken, wie bis zum Rand es ihn füllen würde. Klar erkannt, in Besitz genommen hatte er es erst mit der ersten Regung der Eifersucht, und augenblicks war es ein Feuer, das um sich fressend nichts mehr erkannte, noch erkennen ließ als seine Gier.

Peter konnte, wenn er recht sich hineinzuversetzen versuchte, noch ein Nachbeben jener Eifersucht in sich zum Keimen bringen. Er konnte – aus frühester Zeit – die Bewegung sehen, den mattfarbenen Abendmantel in den Händen eines Unsichtbaren und die Neigung des blonden und krausen Kopfes des Mädchens, während sie ihn mit den Schultern empfing und während ihn, Peter, selber in einer Tiefe seines Daseins ein Zittern durchrieselte, scheinbar leise und gleichwohl unheimlich und in sich von einer ungeheuren Gewalt, die in gar keinem Verhältnis stand zur Geringfügigkeit des Vorgangs. Aber in der Erinnerung noch fühlte er das Sichkrümmen seiner Finger zur Faust, die sich an hundertmal später aus kaum bedeutungsvollerem 62 Anlaß geballt hatte. Dann gedachte er der wilden, zänkischen Szenen aus der Zeit, wo er vor der Öffentlichkeit Rechte über sie zu haben schien, die sie ihm in Wirklichkeit niemals zugegeben hatte; und schon im ersten Augenblick jeder von diesen Szenen hatte er sich verloren in eisige Sinnlosigkeit, in ein kaltes Wüten, aus dem er danach zu sich kam, geschwächt wie aus einer Ohnmacht. Der letzte Streit hatte jenes entsetzliche Ende genommen, auf das er sich schon am nächsten Tage kaum noch besinnen konnte.

Peter Nehr hatte niemals im Leben Bücher gelesen, ausgenommen hier und da einen kleinen Roman, auf Reisen, in der Sommerfrische, bei Kopfschmerzen, so kam er nicht auf die Frage oder Vermutung, ob vielleicht gar nicht er, Peter Nehr, der er für sich selber noch immer war, das gewesen war, der diese Anfälle der Raserei gehabt und den Mord begangen hatte, sondern Iwan Skobeleff, der Sohn eines Russen. Nun, auch eine Bejahung und weitere Erläuterung dieser Frage hätte ihm die Geschehnisse – und das heißt sich selbst – kaum klarer gemacht, da er doch Beide – Iwan und Peter – in einem Leibe war, einem Hirn; und ihm war sicherlich besser, er kam auf die Frage nicht. Stärker bewegte ihn, der niemals sonderlich nachgedacht hatte, in der Zeit des Grübelns im Untersuchungs- und noch im Zellen-Gefängnis ein Gedanke, der bereits früher ab und an flüchtig in ihm aufgetaucht war. Der nämlich, daß jenes kalte Erzittern, mit dem die Eifersuchts-Regung bei ihm einzusetzen pflegte, äußerst verwandt und ähnlich war dem seines Lampenfiebers. Dies war bei ihm 63 eine Erscheinung, ohne die noch kein Abend seines Auftretens im Theater vorübergegangen war. Mit dem Augenblick, wo er aus der Wärme seines Ankleidezimmers in das kältere Treppenhaus trat, hatte es ihn unweigerlich überfallen: ein kaltes Erzittern ganz innen, während seine Wangen unter der Farbschicht aufglühten, und eisige, fast metallische Aufgeregtheit, die ihm die Besinnung nahm, sich atemlos steigernd bis zu dem Augenblick, wo der erste, süßgerundete Ton aus einem Abgrund der Angst aufquoll; bis er mit erschrockenem Staunen seine eigene Stimme erkannte, abgründig ernst und tief und beruhigend. Und während der ganzen Dauer der Abende, durch die sie erscholl, von ihm in heiterer Behaglichkeit seiner sichern Kunst die verschlungenen Wege des melodischen Tönens geführt, voll schallend wie eines Riesen, rollend aus seiner immer mächtigeren Brust – war es eine einzige lange Erlösung. Von ihr wußte Niemand außer ihm, und er selbst wußte kaum, daß sie – und die Angst vorher – ihm eine Kostbarkeit waren, ein Geheimnis, ein magisches Etwas, größer als er selbst und gewissermaßen heilig. Oder gar, daß hier der Kern seines Lebens und Wesens lag, und daß er absterben würde, so er ihn herausnahm, ganz leer werden; und daß auch die Angst notwendig dazu gehörte und nicht wäre zu entbehren gewesen. Er würde, wenn Jemand all Dies ihm kundgemacht hätte, nicht verstehend gelächelt haben, und um so tiefer war es sein Eigentum. Immerhin, wie schon gesagt, offenbarte sich ihm die Verwandtschaft dieser Erregung mit jener der Eifersucht, ohne daß 64 er mit Grübeln auf die Spur tieferer Zusammenhänge gekommen wäre. Auch blieb ihm Etwas verborgen, so hartnäckig gerade darum er sich abmühte; Etwas, das ihm vielleicht mehr der Klarheit hätte verschaffen können. Das war sein eigener Zustand während der ersten halben Stunde nach dem Mord. Ob er, fragte er sich umsonst, vielleicht auch sie im Gefühl solchen Erlöstseins verbracht hatte wie die Abende, wo er Wotan war oder Hans Sachs?

Als Peter Nehr eine halbe Stunde nach seiner Untat zu sich kam, befand er sich sitzend auf einem Stuhl neben einem Tisch, auf dessen weißem Tafeltuch eine Flasche Wein nebst zwei Römern stand; eine rote, verschleierte Hängelampe leuchtete dämmrig darüber, und Peter erkannte, daß der sich zu ihm beugende Mensch im Halbdunkel ein Schutzmann war; daß ein zweiter dahinter stand und noch ein Herr, der Inhaber der Weinstube, wie Peter im Augenblick klar wurde. Er fühlte sich schwach und ohne Gedächtnis, aber die Gegenwart der Beamten schien ihm so sehr ihre Richtigkeit zu haben, daß er der Aufforderung mitzukommen ohne Umstände Folge leistete, seinen Mantel in Empfang nahm und hinausging. Ebenso unbesinnlich schritt er durch eine Anzahl ihn anstarrender Menschen draußen auf die dort haltende Droschke zu; doch schwand ihm jetzt wieder das Bewußtsein und kehrte erst wieder, als er eine schwere Tür ins Schloß fallen hörte. Da war er in einer Zelle.

Vom Untersuchungsrichter erfuhr Peter am nächsten Tag, daß er am Spätnachmittag zuvor jene Weinstube betreten, 65 Wein verlangt und den ihm bekannten Inhaber aufgefordert hatte, mit ihm zu trinken. Daß er alsbald seine Hände ihm hingehalten und gefragt hatte, ob ihnen wohl anzusehen wäre, daß er eben vorher einen Menschen mit ihnen erwürgt habe. Daß er danach seine Tat in Einzelheiten beschrieben und den Zuhörer aufgefordert hatte, die Polizei telephonisch zu benachrichtigen, was denn geschah. Und daß er im ganzen dabei, mit glänzenden Augen und übergeschwätzig, den Eindruck eines leicht Berauschten gemacht habe, der sich in der sogenannten ›gehobenen Stimmung‹ befindet.

Peter, aufgefordert, hierzu sich zu äußern, konnte es nicht. Er gab zu, daß es so gewesen sein mochte, so bereitwillig, wie er jedes Geständnis machte, aber bekräftigen konnte er es nicht aus eigenem Wissen. Auch während der Vorlesung der nach der Aussage des Gastwirts aufgezeichneten Angaben über die Mordtat konnte er nur in Qualen des Abscheus und Nichtbegreifens sich winden, konnte danach auch gerne gestehen, daß es so geschehen war, aber – erinnern könne er sich nicht, das hielt er aufrecht, und zwar mit deutlicher Miene, daß es ihm sehr leid tue, das nicht zu können.

Gleich gesagt sei hier von Peter Nehr, daß sein Verhalten an diesem wie an allen Verhandlungs-Tagen auf jeden Beteiligten den allergünstigsten Eindruck machte. Offenbar war seine tiefe Zerknirschtheit, seine Reue, seine große Bereitwilligkeit, zu gestehen und Strafe zu leiden. Seine Haltung verlor trotz Niedergeschlagenheit oder Jammer 66 niemals gänzlich die stille Würde, die den großen und schweren Mann früher angenehm und stattlich gemacht hatte. Offensichtlich war die Störung seines Gedächtnis-Vermögens; offensichtlich, daß er die Vorgänge der Tat wieder und wieder vergaß, so oft sie ihm ins Gedächtnis zurückgerufen wurden, und sein unglücklich eifriges: »Ich will mir's jetzt aufschreiben!« erregte Heiterkeit und Rührung. Der Fall lag einfach. Dieser so beliebte Mann, Gatte, Vater, Eigentümer einer gesicherten Stellung, hohen Ansehens, besten Leumunds aus den Jahren des geruhigsten Lebenswandels, er konnte diese Tat – für deren Planung nicht das geringste tatsächliche Anzeichen vorlag – aus keiner Überlegung heraus vollführt haben, die ihm auch all jene eben aufgezählten Dinge vor Augen geführt haben würde, so daß sie sich unübersteiglich vor ihm auftürmen mußten. Die Schilderung seiner sinnverlassenen Eifersuchts-Zustände tat ein Letztes, Jeden von seiner Unschuld, das heißt von dem Zustande der Unfreiwilligkeit zu überzeugen, aus dem seine Tat über ihn selber hereinbrach.

3

Es ist nachzuholen, was sich mit Peter Nehr während der ersten Nacht im Untersuchungs-Gefängnis zutrug, oder richtiger im Morgen-Grauen, denn die Nacht selber durchschlief er schwer. Ein Frösteln erweckte ihn aus einem Angst-Traum; er fand sich in seinem kurzen Taghemd halb entblößt von den wollenen Decken; erkannte mit Schaudern, wo er sich befand; war im nächsten Augenblick inne 67 geworden, was er am Tage vorher getan hatte, daß er ein Mörder war – und befand sich im Nu schweißbedeckt in der tiefsten Angst und Verzweiflung über dem Gedanken an seine Frau. Seine Kleidungsstücke sorgsam auf Sitz und Lehne eines Stuhls geordnet im Dunkel gewahrend, stürzte er darauf zu, fand den Hosenträger und blickte nach dem hochsitzenden Fenster in der Wand in der Absicht, sich augenblicks zu erhängen. Dort erstaunte ihn die Erscheinung einer ganz feurig rosigen Morgen-Wolke im vergitterten Viereck; er ließ den kaum errafften Gegenstand fallen, warf sich über das Bett hin und erstarrte in Unseligkeit.

Auch als aus der Dumpfheit die ersten Bilder und Vorstellungen sich lösten, hafteten sie an der Gestalt seiner Frau, zuerst und lange mit nichts Anderm ihn folternd als mit dem Gedanken, daß sie nicht das Geringste wußte; Nichts von seiner Tat, seinem Aufenthalt im Gefängnis; Nichts von seinen Beziehungen zu der Gemordeten; ja kaum Etwas von ihrem Dasein, es sei denn ihr Name vom Theaterzettel her. Was Alles brach so mit einem Sturz über sie herein!

Peter Nehr hatte bisher nicht gewußt, daß er Ida, seine Frau, das ruhige, ein wenig farblose Geschöpf, liebte. Zu sehr war sie einfach immer vorhanden gewesen, wie das bei Müttern zu sein pflegt; zu sehr hatte ihr Dasein das schlichte, gar dürftige Empfinden eines In-Ordnung-Seins in ihm erregt, wahrnehmbar höchstens an Geburts- oder Festtagen, wo man sich auf die Werte des Alltags zu besinnen pflegt. Ich habe sie, stöhnte Peter Nehr, nicht 68 verdient! Weinend im plötzlichen Gefühl heftiger Zärtlichkeit und Hülflosigkeit.

Noch oft in der nächsten Folgezeit hatte Peter Nehr Frühstunden zu überwinden wie diese erste; aber wenn diese auch langsam sich verzogen, blieb doch alles Denken und Fühlen in ihm gesammelt durch das Dasein seiner Frau. Gegen sie hatte er sich grausam versündigt, über sie unnennbares Elend gebracht; vor ihr war er schuldig, ihr Leben hatte er für immer zerstört, er hatte – nein, das durfte nicht eintreten! Er mußte unschuldig sein für sie.

Sobald dem Gefangenen dies ganz klar geworden war, verbrachte er seine Zeit mit Bemühungen, den Nachweis seiner Unschuld, will sagen der völligen Unfreiwilligkeit seines Tuns zu erbringen. Auch der Kinder wegen – ihm brach das Herz im Gedanken an sie – mußte ihm das gelingen. Nicht, daß er seine Haltung, sein Gebaren vor Richter, Staatsanwalt oder Verteidiger geändert hätte; daß er zurückgenommen oder gar verdreht hätte, was zugestanden war – Peter Nehr war ein gerader Mensch. Aber in ihm, dem Ungebildeten, der nur reichliche Jahre den Anschein der Bildung im Umgang mit Solchen, die mehr und weniger davon besaßen, vorgegeben hatte – und zwar durch wenig Anderes als durch Schweigen und gute Haltung –, in ihm rangen unschuldvolle Begriffe sich wieder nach oben, nicht ganz unentstellt von theatralischen. Er gedachte, selber seine Richter, die Geschworenen und die schweigend und hörend mit richtende Menge von seiner Unschuld zu überzeugen. Daß die Todes-Strafe über ihn 69 verhängt würde, wie er im Anfang befürchtete, das konnte sein Anwalt ihm in Bälde ausreden; allein auch schwerer Kerker, überhaupt jede Strafe mußte ausbleiben! Er selbst wollte sprechen, sich verteidigen, und er hatte Stunden verzückter Träume, sah sich im Saal voller Menschen, den Richtern gegenüber, in Feierlichkeit und unendlicher Rührung alle Welt überzeugend, daß er frei ausgehen mußte. Nichts würde er verdrehen noch beschönigen; er würde gestehen und wieder gestehen, und das würde es sein, gerade das, die genaue, die offenherzigste, die unverfälschte Bloßlegung, die Darlegung seiner unseligen Handlung, die alle Feindschaft zerstörte, die Gerechtigkeit gleichsam – lähmte, ja alle Hände einfach band. Keine konnte sich gegen ihn erheben, denn Alles würde ja begreiflich sein. Es konnte nicht gerichtet werden, einfach deshalb, weil Nichts zu richten war.

Peter Nehr sagte hiervon seinem Beihelfer Nichts oder nur ganz Unbestimmtes; aber er selber gewann Glauben an die Vollkommenheit seiner Unschuld, im Maße wie mit Tagen und Wochen das ganze, ewig unglaubwürdige Geschehnis ferner und ferner wich und verblaßte. Wahrhaftig mußte er sich aufschreiben, was er noch von ihm und von seinen Beziehungen zu dem Opfer wußte; und wahrhaftig, wenn das Wort des Silesius Richtigkeit hat: Mensch, was du liebst, in das wirst du verwandelt werden‹, und wenn lieben heißt: mit Ernst und Pein und heiligem Feuer sich bemühen um ein Ding, so verwandelte Peter Nehr sich in die Unschuld, die er liebte – nicht 70 seinetwegen, sondern um der Frau willen, die er mit ihr zu beschenken hoffte.

Was jedoch die Stunden sieghafter Träume und hoffnungsvoller Entrücktheit anlangt, so waren sie selten genug in diesen Monaten der Haft, und alles in allem bestand jene Zeit aus Nichts als – steigend, schwellend unendlich bis zum unabwendlichen Tage des Urteils – einer einzigen langen Angst.

4

Der Mensch, der gehörig zu tun hat, in welcher Lage er auch sich befinde, verkommt weder außen noch innen. Peter in unablässiger Erregung, innerer und äußerer Geschäftigkeit, magerte ab, ohne schlaff zu werden, und wahrte bis zum Ende sein Bestes, die würdige Haltung, die, so äußerlich angewachsen sie war, doch ihre wenn auch nur dünne Wurzel im Innern haben mußte, und jedenfalls die Eigenschaft hatte, um so schöner und deutlicher zutage zu treten, je unbewußter sie ihrem Träger war. Peter Nehrs Erscheinen vor den Schranken gewann ihm alle vorhandenen weiblichen Herzen jedenfalls, bevor er den Mund noch öffnete, wie vormals Iwan Skobeleff, zumal sich zur Aureole des begnadeten Künstlers nun noch das Stigma des Unglücklichen aus eifersüchtiger Liebe gesellte; und für jedes Auge, das ihn so sah, war, nachdem er gesprochen hatte, der Märtyrer fertig.

Nicht ganz so freilich sahen die Geschworenen ihn an; doch angenommen, sie hätten es getan, würden sie ihrer Gesetzes-Vorschrift sich nicht haben entziehen können, und 71 so verurteilten sie ihn, den selbst der Staatsanwalt ihrer Milde empfahl, zu nicht mehr als zweieinhalb Jahren Gefängnis, übrigens mit der Anheimgabe an die Gnade des Königs, und ebenso viele Monate Untersuchungs-Haft würden ohnedies in Abzug kommen.

Zuvor hatte Peter Nehr seine größte Stunde erlebt. Das denkbar längste Bühnen-Fieber der Welt von zweieinhalb Monaten hatte sich mit dem Augenblick, wo er seine Zelle verließ, zu einem Orkan gesteigert, der ihn einhüllte, ein fürchterlicher Wirbel von Stille zugleich und einem brüllenden Getöse, das jeder Laut darin schien. Jede Sekunde vor dem Zusammenbrechen, blindlings und taub, hielt er sich aufrecht in einer Gefaßtheit, die zur Schau zu tragen keine Tracht eines Gottes oder Helden, kein falscher Bart, keine Schminke ihm half. Von der ganzen Verhandlung nahm er nichts wahr als den Wink, der ihm erlaubte aufzustehen und seine Lippe entsiegelte. Verwirrte ihn dann auch zugleich mit der eintretenden Klarheit die unverhoffte Sichtbarkeit der Zuschauer, ihre Lebendigkeit, Bewegung und vielhundert blickenden Augen, so ward es alsbald doch wie immer: er sang und bereitete sich die Erlösung.

Er gestand wiederholt und mit Inbrunst. Er sagte, wie er aufgewachsen war und gelebt hatte, bis er Eleonore Hennig kennen lernte. Er entdeckte dabei plötzlich seine Frau in der Menge, erschrak ein wenig, da ihre Augen fest auf sein Gesicht gerichtet waren, konnte aber lächeln, als er die seltsame Hingegebenheit ihres Ausdrucks erkannte; beruhigend lächeln. Er sagte, in welchem Verhältnis er zu 72 Eleonore Hennig gestanden hatte, und offenbarte die Art seiner eifersüchtigen Anfälle. Er kam zu der Untat und sagte, daß er von ihrem Verlauf nichts mehr wisse, daß er aber noch einmal vorlesen wolle, sein Einverständnis mit der Schilderung des Staatsanwalts zu bekräftigen, was er über sie in Erfahrung gebracht habe, und er tat dies, treuherzig und offenbar auf das tiefste erschüttert. Er sagte, daß er nun versuchen wolle, begreiflich zu machen, wie ihm danach bis heute zumute gewesen sei, in sich ein grauenvolles Etwas, von dem er nicht sagen könne, wie es in ihn geraten sei, und er führte dies weiter aus. Er bat endlich, verzagt, nur um Schonung, nicht seinetwegen, sondern um der Seinen willen, deren zukünftiges Elend eine furchtbarere Strafe für ihn sein würde als jede, die über ihn verhängt werden könne. Kurz, er sprach in Demut und voll Würde mit jedem Wort seine wahrhaftige Unschuld aus, an die er glaubte.

5

Eine Stunde später, noch einmal in seine Zelle zurückgekehrt, lag Peter auf seinem Bett, glücklich erschöpft im Gefühl des Siegers. Er hatte das Urteil weniger als die umfängliche und recht menschlich gehaltene Begründung gehört, in der die Unfreiwilligkeit seines Handelns unter Hinweis auf seine eigene Verteidigung und das Urteil des Arztes mehrfach betont wurde, und worin sogar das Wort Unschuld sich zeigte, wenn auch in einer Verbindung etwa wie das Wort Sonnenstrahl in dem Satz: kein 73 Sonnenstrahl drang in das Dunkel – wo niemand umhin kann, den Sonnenstrahl deutlich zu sehen. Und daß weder das heimlich immer gefürchtete Beil sich erhoben, noch das Zuchthaus sich aufgetan hatte, das vollendete in jener ersten Stunde die Einbildung des Triumphes und seine selige Erleichterung. Und jetzt, wie er so lag, die Hände unter dem Kopf gefaltet, während der Herbst-Abend schon den schmalen Raum mit Dunkel erfüllte und vor seinen Augen wieder und wieder die von ihm entzündete Menge zur Myriade leuchtender und betränter Augenpaare schwoll – jetzt begann zum ersten Male seit Wochen wieder ein melodisches Tönen in ihm zu wogen, sein erleichtertes Herz umspülend und es mit sich heraufhebend zu den Lippen, wo es sich glückhaft auflöste in heiligen Klang. Peter sang. Neben, über und unter ihm horchten die Häftlinge betroffen auf beim rollenden Dröhnen der tiefen Stimme, die sichtlich wie ein gewaltiges Haupt sich aus einer nächtigen Bodenlosigkeit hob, doppelt ergriffen vom nun sich breitenden Glanz der Engels-Musik. Denn was der Gefangene sang, war Nichts, was er selber je mit der eigenen Stimme hatte hören lassen; es war der Chor der Befreiten aus dem ›Fidelio‹. Peter hatte das unendlich ferne, das grausen machende Ertönen der Fanfare hinter der Szene, die mit der Ankunft des Ministers die Erlösung ankündigt, im tiefsten Herzen gehört. Und nun, durch Tränen der Dankbarkeit und der Freude, die ihm aus den Augen liefen, sah er singend die traurigen zerrütteten Gestalten der Eingekerkerten sich einzeln aus der Kerkertür winden; sah sie die 74 bleichen Hände erheben im staunenden Vorwärtsgehen, und sah, wie die ausgestreckten erfaßt wurden von unsichtbaren, sanftern Händen, die sie höher zogen in das göttliche Licht.

Er verfiel danach, fiebernd von langer Überspannung aller Nerven-Kräfte, in einen Halbschlaf voll anfänglich heiterer, bald aber ängstigender Phantasien, allzu wirr, als daß sie sich beschreiben ließen. Es war ›Fidelio‹, eine Aufführung der Oper, in der er selber die Rolle des Kerkermeisters Rocco früher innegehabt hatte, und die Traum-Wirrnis entstand aus den verschiedenen Widersprüchen: daß er im Stück der Schließer und zugleich ein Gefangener in Wirklichkeit war, was Florestan war im Stück; daß er seine Frau in der Gestalt Fidelios oder Leonorens sah; daß sie jedoch in Wirklichkeit Ida hieß, Leonore dagegen die Tote, die wiederum im Stück seine, des Schließers Tochter, Marzelline gewesen war. Aus all diesen Mischungen und Verwechslungen entstand der düstere und quälende Tanz, aus dem ihn zu wirklichem Häftlings-Dasein das Eintreten des wirklichen Schließers mit dem Abendessen weckte.

Nun, schluckend mit Gier ohne Appetit, geekelt von der saftlosen Speise und heillos ernüchtert, sah er Alles mit andern Augen in dem kalten Licht der elektrischen Birne, die hoch über ihm hing. Wie es zu geschehen pflegt, setzte die Erkenntnis nicht unmittelbar ein, sondern begann ein ganz sachtes und feines Aufdröseln an entlegener Stelle. Peter fiel ein, daß, während der Gerichts-Saal geräumt 75 wurde, seine Frau vor ihm erschienen war. Sie hatte ihn nur unendlich traurig und liebevoll angesehen, eine Weile seine Hand gehalten, dann den Schleier über ihr Gesicht fallen lassen und war gegangen. – Hatte sie, fragte er sich, wirklich kein Wort gesprochen? Und warum diese Eilfertigkeit? Warum war sie traurig gewesen, während er triumphierte? Und vor allem: sie hatte Handschuh angehabt. Wie gefühllos, ihm eine Hand in Leder zu reichen!

Diese beiden, der Handschuh und der traurige Blick, waren es, die ihn heftig und heftiger reizten, von wo aus das ganze Glorien-Gewebe sich aufdröselte und zerflatterte; und noch angesichts der Leere, da er wußte, er war verurteilt, weiter nichts, war entehrt, ausgestoßen aus der Gemeinschaft der Unbestraften, und mit ihm für immer waren es die Seinen: noch da ärgerte er sich an dem Trauer-Blick, so gut oder so schlimm er nun wußte, wie begründet er gewesen war.

So fehlte wenig, daß die letzte Nacht Peters, die er in Untersuchungs-Haft verbrachte, der schaurigen ersten glich, und wieder beim Morgen-Grauen hob die sinnlose Gier nach dem Tode das fahle Gesicht. Nur litt er stumpfer und hatte auch kein Mittel zum Sterben mehr bei der Hand.

6

Von der Gefängniszeit Peter Nehrs ist wenig Anderes zu sagen, als daß er in ihrem Verlauf mehr und mehr sich verbitterte. Er dachte nun so: War er schuldig eines Verbrechens oder nicht? Wenn ja – so gut; dann hatte 76 er die äußerste Sühne, Tod oder Kerker, auf sich zu nehmen. Wenn aber nein: wie durfte man ihn verurteilen? Hatten sie nicht die Wahrhaftigkeit seiner Zerknirschung eingesehen und konnten sich genügen lassen, daß er sich selbst dahinein stieß? Gab es zwischen schuldig und nichtschuldig ein Mittel? Ein Mittel zwischen Finster und Licht? Wie wenn Jemand einen Menschen für einen Halunken hielt und ihm, den er laufen lassen muß, einen Knüttel nachschmeißt, aus bloßem Ärger, daß er ihn freilassen mußte und daß er sich geirrt hatte: so hatte man sich gegen ihn benommen. Der Knüppel aber hatte getroffen und ihn zuschanden geschlagen fürs Leben. – Weshalb hatten sie's getan? Um ihrer richterlichen Würde nichts zu vergeben; damit der Gerechtigkeit Genüge geschehe, wie sie es nannten.

Peter drang in langen Verhandlungen mit seinem Anwalt ingrimmig auf Wiederaufnahme des Verfahrens und geriet, da der Kundige nur dringend abraten konnte, schließlich in halsstarrige Wut, Pläne schmiedend und Träume träumend von einem neuen Verfahren, wo er alle Geständnisse widerrufen, von einer neuen Verhandlung, wo er eine andere, donnernde Rede halten wollte gegen die sündhafte Unwahrhaftigkeit der Richtenden und der Gesetze. Er wollte dann zugrunde gehen, wollte den Tod erleiden, aber vorher wollte er sich empören. Der arme Peter wollte ähnlich wie der Knabe, der sagte: Es ist meinem Vater ganz recht, wenn mir die Hände frieren, warum kauft er mir keine Handschuh! 77

Danach kam er einigermaßen zur Ruhe, indem er sich verhärtete, und verbrachte die langen, harten Wochen der Haft in tiefer Verbitterung. Verstärkt wurde diese durch den Kummer, daß er von keinem der beiden ihm besonders nahestehenden Menschen draußen, weder von seiner Frau noch von seinem Gönner ein Zeichen erhielt. So verschloß er sich auch krampfhaft gegen jedes Empfinden der Zärtlichkeit und Sehnsucht nach ihr, und sein ganzes zusammengepreßtes Liebesbedürfen ergoß ein wenig Licht um die zarten Häupter der Kinder, Träume hauchend: wie er sie vielleicht später entführen könnte, über das Meer, in eine unbekannte Welt, wo er unbekannt war mit seiner Schande, und sie schadlos heranwachsen würden; oder aber wie er sich dort allein ein neues Leben begründen würde, um sie später hineinzuholen. Wie er vielleicht reich werden, einmal zurückkehren und Alle verachten würde am lichten Tag.

Was auch kommen werde, so stand ihm ohne Besinnen fest, daß er seinen bisherigen Beruf aufgeben und zum Schlosser-Handwerk zurückkehren würde. Auch dies im Hintergrunde aus Rachsucht, da er seine Stimme Niemand mehr, auch sich selber nicht gönnte – ähnlich jenem Knaben mit den Handschuhen. Er wollte sich nun vergällen, sich vereinsamen und erniedrigen. Er sah sich wiederum an der Drehbank stehen, aber kein Laut kam aus seiner Kehle. Oder quälerischer, er sang, aber Niemand gewahrte die Gnade seiner Stimme. Oder gar – er arbeitete wieder im schmutzigen Kittel in einem Palast der fünften Avenue, und er sang; nur wenige Noten ließ er 78 hören, und Leute kamen, Menschen strömten zusammen – er sang aber niemals mehr.

Als Peter Nehr nach genau einjähriger Haft von der Nachricht seiner Begnadigung getroffen wurde, die ihn im Augenblick der Freiheit wiedergab, erschrak er zwar, für Minuten ohne Verstand und Atem, raffte jedoch alsbald seine Verstocktheit zusammen und verfinsterte sich völlig. Als absichtlich Blinder und Tauber ging er durch die Stadt zum Bahnhof, verbrachte einige dumpfe Stunden im Wartesaal bis zum Abgang seines Zuges nach Hamburg, geriet aber, sobald das offen gewaltige Land des Sommers um ihn zu kreisen begann, in Verwirrung.

7

Unversehens fand er sich im Gedenken eines Freundes der frühesten Schuljahre, eines allezeit munteren, flinken, rothaarigen Jungen vergessenen Namens, dessen Eigenheit es war, immerfort zu hüpfen und zu hopsen, sobald er einen Augenblick Freiheit dazu erwischte. An seine kleine erfreuliche Gestalt schloß sich alsbald wie ein vorbeiflatternder Reigen Erinnerung um Erinnerung an, lauter heitere oder doch lichte seltsamerweise: die Spiele der Freistunden; Lärm und Getümmel in den Pausen des Unterrichts; Spaziergänge; die Singstunde, wo er Ehre einlegte, stolz und doch unglücklich war, dieweil seine tiefe Stimme ewig verurteilt blieb, des melodischen Schmelzes zu entbehren, der sich aus den führenden Sopran-Kehlen triumphierend ergoß. Dann die Jahre seines Handwerker-Lebens, die Sonntage der 79 Lehrzeit, das Mädchen, das er ausführte, und ihr Name, Lina, fiel ihm ein. Er sah die Bank im nächtlichen Park, auf der er sie in Besitz nahm, und den sommerlich flimmernden Alster-Fluß bei Kahnfahrten bis über Poppenbüttel hinaus.

Als dann die spätern Lebens-Jahre vorüberzogen, rauschend von Orchester-Musik, Lorbeer und Seidenschleifen, fand er nur wenig darin, was ihm in der Erinnerung so lieblich erschien wie jenes Nichtige, kaum Faßliche aus der Jugendzeit. Soviel schwerer war auch das Gute, Erfreuliche, so gewaltsam jede Abendstunde der singenden Erlösung, so erschreckend gelb und entstellt das Gesicht seiner Frau in dem unvergeßlichen Augenblick: als sie die erste Geburt überstanden hatte und er sich über sie beugte, angstvoll und seltsam glücklich im neuen Gefühl einer tiefen Liebe.

Als er aber dies leichenhafte Antlitz verscheuchte, erschien ihm, durchaus lebendig, lachend aus runden Augen die ermordete Leonore. Und jetzt, als es sich wieder verzogen und an seine Stelle die wüste Leere der Halbstunde nach der Untat gelassen hatte, tauchte ein fremder Gedanke in Peter Nehr auf. Wie, fragte er sich, wenn er wirklich unschuldig war – und er war aufs äußerste überzeugt davon –, wie also, wenn kein Verbrechen vorlag, wie war es möglich oder wie ging es zu, daß doch sein ganzes Inneres sich damals empört, sich umgestülpt und geleert hatte? Warum war das notwendig gewesen? – Da dämmerte es in ihm, so sehr er mit Grübeln sich wehrte, von einem neuen Schuldbewußtsein; er rettete sich schließlich 80 in den Anblick der im Frühnachmittag glänzenden Landschaft, Ebenen der Felder, dunstiger Waldstreifen und des unendlichen Himmels schöner, beweglicher Wolken. Schon von Anbeginn seiner Fahrt hatten, ohne daß er es merkte, die göttlichen freien Spiele des Lichts in dem schattenlosen Gefilde den Hintergrund seiner innern Gesichte gebildet, die heitere Farben-Schüssel, aus der eine magische Hand sie entfließen ließ und bildete, und deren eigenes Leuchten sie wieder und wieder beruhigend unterbrach. Und wie er jetzt abermals seiner Frau gedachte, von der er vergessen war, seiner selbst, der von der Welt verstoßen, in Eisen gelegt und grausam mißhandelt war, und weiter an Alles, was gramvoll und bitterlich sein konnte – da wirkte das Alles nicht so. Es war milde geworden; er fühlte in sich viel Weichheit; er konnte nichts Hartes noch Galliges fassen; er kam sogar nahe der schwierigsten und seltensten aller menschlichen Einsichten: daß nämlich, wenn er das Jahr lang ohne Zeichen von seiner Frau geblieben war, sie vielleicht dennoch nicht schuld daran war, sondern daß irgend Etwas vorgelegen haben mochte, wovon er nichts wußte. Er bereute schließlich, in einer mehr schmerzlichen als erbitterten Art, daß er in seiner Verstocktheit sich nicht darum gekümmert hatte, von wem eigentlich der Anlaß zu seiner Begnadigung ausgegangen war, die er einfach dem König als beliebige Zufalls-Handlung zugeschoben hatte. Über einer flüchtigen Erinnerung der Oper Fidelio und jener getreuen Leonore, die den eingekerkerten Gatten befreite, und leisem Ertönen des herzangreifenden 81 Gefangenen-Chors verlor er sich endlich wieder ins Anschaun des leuchtend vorübergleitenden flachen Landes, und immer linder entgiftet, offner geöffnet in Wehmut und Freude, sog er den ewigen Atem der Freiheit ein.

So kam es aber, daß Peter Nehr seinen Plan, im Hamburger Hauptbahnhof auszusteigen, im ersten Schiffahrts-Bureau einen Zwischendecks-Platz für den nächstfälligen Amerika-Fahrer zu lösen – gleichviel ob nach Neuyork oder Rio de Janeiro – und von Niemand gesehen über's Meer entschwinden –, daß er diesen Plan nicht ausführte, sondern den Zug erst am Dammtor-Bahnhof verließ und durch die offene Leere der Anlagen, die Alleen hinunterging bis zur Normaluhr an der Kreuzung der Rabenstraße.

Eine Weile stand er dort unter blinder Betrachtung des Schreibbarometers in der Uhr, zitternd und kalt von Beklommenheit, ehe er es wagte, die Straße hinabzugehen. An der Ecke der Magdalenenstraße – dort war das Haus – zauderte er wieder, überquerte sie und sah im selben Augenblick, wo er nun doch in sie einbiegen wollte, unter den schattenden Baumwipfeln neben den Vorgärten eine Dame in dunkler Kleidung zwischen zwei Kindern daherkommen, die er im Nu, heftig zusammenzuckend, erkannte. Er jagte davon, vergeblich sich einzureden versuchend, daß sein Blick sich geirrt habe, vor Augen in der grünen Öffnung der dunkel verschatteten Baumwölbung, in der er ging, die seltsame Erscheinung einer großen, weißen, sonneleuchtenden Segel-Fläche, deren schöne Fremdartigkeit in 82 der Baumstraße auf geheimnisvolle Weise an einen landenden Engel erinnerte, an dem nichts so deutlich war wie sein Lächeln.

Am Straßen-Ende, über den weißen Stegen und Geländern der Landungs-Brücke, bog Peter ab, lief an den Gärten hin in den Harvestehuderweg hinein, verhielt und wandte sich vorsichtig um. Wenig später konnte er die Drei gewahren, die zur Anlegestelle hinuntergingen; er folgte und durfte sich überzeugen vom Wachstum seiner Kinder, und daß er Ida nicht verkannt hatte. Im Hintergrund unter den Bäumen verlor er sie nicht aus den Augen; sah das Mädchen am Rande des Steges schlendern, die Mutter mit dem Jungen reden, während der sich die Nase putzte, sah sie plötzlich an Bord eines Dampfers steigen und folgte voreilend mit brennenden Augen lange der flimmernd goldenen Kiellinie, bis das weiße Fahrzeug verschwand und an seiner Stelle im dunstig gläsernen Hellblau des Wassers ein tiefblauer indianischer Kahn langsam sich wiegte, und eine weibliche Gestalt in leuchtend gelber Jacke tauchte das Ruder ein. Wasser blitzte scharf, Alles verschleierte sich und ward wieder klarer, fern jenseits über den blauen Flächen voller Segel und Dampfboote erschienen die Türme der Stadt, deutlich grün im rauchigen Violett; Peter Nehr drehte hastig um und lief die Straßen zurück bis zum Hause.

Im ersten Stock war das alte Namens-Schild; auf sein Klingeln erschien ein freundliches Mädchen in der Tracht einer Schwester, das ihn, da er sich zu erkennen gab, 83 errötend, aber so einfach einließ, als würde er erwartet. Peter öffnete aufs Geratewohl eine von mehreren Türen des Flurs, dessen schrecklich bekannter Geruch ihm den Atem verschlug, und stand in seinem eigenen Arbeits-Zimmer, wo – Flügel, Arbeits-Tisch, Kränze und Bilder – nicht das Geringste anders war, als er es kannte. An seinem Schreibtisch, vor dem Mädchenbild seiner Frau, das er bevorzugt hatte, weil sie darauf immer jugendlich, anmutiger und fremd aussah, brach Peter zusammen, Kopf und Arme mit Schluchzen über die Tischplatte werfend, mit einem Schlage jetzt wissend, daß Alles so war, wie es war, und er daran schuld.

Jawohl, das war es, fühlte er aufstehend: ob schuldig eines Verbrechens oder nichtschuldig, hatte er etwas Unmenschliches und Verhängnisvolles angerichtet, dessen giftiger Schatten niemals von vier Menschen weichen würde. Davon war auch mit einem Jahre Gefängnis-Haft, wo er sich statt zur Einsicht nur zur Härte und Bitterkeit verholfen hatte, Nichts gebüßt; und somit war er entschlossen, allein seines Weges weiterzugehen – richtiger: sich aus dem Wege der drei Andern zu räumen.

Er betrat danach noch das, gleichfalls kaum gegen früher veränderte, Zimmer seiner Frau, weilte darin einige trübe Minuten lang vor seiner eigenen vergrößerten Photographie in Kreide an der Wand und in tiefer Erschütterung vor denen seiner Kinder, die sie in dem Alter zeigte, wo er sie noch sein hatte nennen dürfen. Ihre Zimmer zu 84 betreten, brachte er die Kraft nicht auf, nahm ihre Bilder und das ihrer Mutter an sich, schrieb einige mühsam gefaßte Zeilen und ging leise.

8

Am Abend desselben Tages war Peter Nehr in Othmarschen. Während der Minuten, die er im Empfangs-Zimmer zu warten hatte, versuchte er, sich eine Vorstellung vom jetzigen Aussehen seines Patrons zu machen, mit dem er vor mehr als fünf Jahren zuletzt zusammengetroffen war. Damals schon – er war Peter um zehn Jahre voraus, jetzt also im Anfang der Fünfziger – waren sein Haar, Brauen und spitzer Bart beinah weiß gewesen, die Hautfarbe rosig wie je, die kleine Gestalt behende. Seine Frau, die es eigentlich gewesen war, die Peter ›entdeckte‹, hatte er nur wenige Jahre gehabt; eine Tochter führte ihm den Haushalt, die mochte vor fünf Jahren dreizehn gewesen sein oder zwölf.

In der Tür gegenüber Peter erschien dann ein kleiner Greis, weißhaarig, aber rosigen Gesichts, der an einem Stock hinkend schnell auf Peter zukam, ihm eine Hand auf die knapp erreichbare Schulter legte und ihn von unten besorgt und prüfend aus scharfen kleinen Augen ansah, worauf er den Blick ins Zimmer wandte und, den Kopf senkend, in der andern Hand Peters Rechte mit dem Stockgriff, mehrere Male vor sich hin nickte, etwas Ungewisses leise bekräftigend, und zugleich Peters Schulter sacht klopfend. 85

Dann ging er ihm voran in sein Arbeits-Zimmer, ließ Peter in einen Sessel sitzen, nahm selber am Schreibtisch Platz, wo eine grüne Kuppel-Lampe wenig und angenehmes Licht in das Dunkel des großen Raumes spendete, und fragte Peter, ob er bei seiner Frau gewesen sei. Auf dessen Antwort und Andeutungen über seinen verkürzten Aufenthalt in jenem Hause entfaltete sich alsbald die ausführlichste Schilderung seines Lebens und Wesens während der letzten Jahre.

Peter fühlte, dieweil er sprach, wie ein Merkliches in ihm fester und fester wurde; wie die Erschütterungen auch des letzten Tages ein Ende nahmen, Alles sich glättete, und wie er dergestalt mählich, aber vollkommen sicher in einen andern Menschen verwandelt wurde. Er berichtete stockend, jedoch nicht schlecht; um so wirkungsvoller für sein Gegenüber, als jeder Hauch des Theatralischen fehlte; und er sprach von seinem schmerzlichen Eigentum mit ganz unpersönlicher Gefaßtheit und Ruhe, ja mit dem Atem der Andacht zuletzt, die einem brennenden Leide gebührt, das sich wohltätig erwies und heilig wurde aus sich selbst. Am Ende staunte er dann über sich selber ein wenig, über Alles, was ihm widerfahren war und wunderbar schien in Ansehung seiner Person, die gleichsam nur alleweil zugegen gewesen; worauf er unvermutet mit der Erklärung schloß, daß er nunmehr gewillt sei, wieder Schlosser zu werden; in Amerika.

»Nein,« fragte der alte Mann am Schreibtisch, als ob er erwachte, »warum das?« 86

Da setzte ihm Peter den Zusammenhang auseinander zwischen den Erregungs-Zuständen vor seinem Auftreten im Theater und denen jener Eifersucht. Wie sie verwandt wären miteinander, sagte er, wisse er zwar nicht; wenn aber, schloß er, wie ihm schien völlig logisch, die einen wiederkommen würden, so sei es sehr möglich, daß auch die andern nicht ausblieben.

»Nicht mehr singen?« fragte der Kaufmann nach einem Schweigen bedenklich, »ja, werden Sie das können?« – Peter erwiderte nichts, und gleich darauf sagte der Alte, sich ermunternd: »Ja, und nun, Peter, habe ich von mir zu reden.«

»Ich«, fing er an, »habe, wie Sie wissen mögen, mein Lebtag außer der Arbeit nichts gekannt als – die Güte einer Toten und die Freude am Aufblühen meines Kindes. Trotzdem bin ich niemals ein Mensch ohne Besinnung und Nachdenken gewesen; habe zu wissen geglaubt, was uns fehlt, was uns treibt und erhält, habe auch Blick gehabt für das Oben. Und ich habe mir eingebildet, daß ich die Menschen verstünde und ganz gut mit ihnen umgehen könnte – nun, und Sie wissen wohl, Peter: wenn ich mich seinerzeit Ihrer angenommen habe, so geschah's nur aus menschlichen Gründen; ich bin unmusikalisch, die Kunst ist mir angenehm, aber fremd, und das Ohr für Ihre schöne Gabe hatte allein meine Frau.

»Nun sehen Sie, Peter: da sind eines Tages Sie gekommen und haben mir gezeigt, wie anders, ja, wie anders Alles ist. 87

»Ich war in der Gerichts-Verhandlung. Einem Menschen hatte ich nie nach dem Leben getrachtet und glaube auch heute nicht, daß ich jemals in eine solche Lage gekommen sein oder noch kommen könnte. Wie ich aber da Sie sprechen hörte, Peter, wie Sie da Alles so unendlich, so furchtbar begreiflich machten, da ging mir das Herz auf und sagte: Mein Gott, das bist ja du! Du, du selbst hast das getan, hättest es tun können, und dann würdest du es so wenig begriffen haben wie der da und wie du es jetzt völlig begreifst durch ihn! Daß wir uns selbst immer nur verstehn durch den Andern; und den Andern immer nur verstehn durch uns selbst: das ist mir da klar geworden wie ein Evangelium. Und seit jener Stunde, kann ich sagen, obgleich außen kaum sichtbar vielleicht, bin ich ein andrer Mensch geworden. Durch Sie.«

Peter schwieg in tiefer Verlegenheit, alles mögliche Schöne fühlend, ohne etwas zu verstehen, und hörte den Andern bald darauf weitersprechen.

»Ich bin noch nicht zu Ende. Ich sei, sagte ich, ein andrer Mensch geworden; als aber dann die Sitzung aufgelöst wurde, da war ich zu bewegt, um vor Sie treten zu können. Ich war zu sehr bewegt, und das war schon wieder ein Fehler, und so fing es an, mit einem Fehltritt, das andere Leben – wenn ich allerdings auch sagen muß, daß begreifen und das Begriffene leisten zweierlei Angelegenheit ist. Aber gleichviel, denn was kam nun? Nun wollte ich Ihnen Alles in einem Brief sagen, aber nun gerade kamen in meinem Leben die schwersten Wochen 88 und Monde. Ich hatte geschäftlich die größten Gefahren zu bestehen; dann erkrankte meine Tochter schwer; dann starb mein treuester Mitarbeiter; dann legte ich mich selber mit einem Nierenleiden, bekam Rheumatismus und Gicht: endlich vor kurzem erst gab es Stillstand. All die Zeit hin hätte ich wohl einmal und mehrmals die Hände frei gehabt für einen Brief; weil ich aber glaubte, Kopf und Herz nicht frei genug zu haben für einen solchen Brief, wie ich ihn schreiben wollte, so ließ ich es ganz. Nun muß ich aus Ihrer Erzählung Ihren Schmerz kennen lernen über mein Schweigen. Nun muß ich denken, was ich vielleicht hätte wirken können durch einen Brief, der so war, wie Sie wollten und nicht wie ich, und daß ich, der Ihnen so Wichtiges schuldete, so schuldig geworden bin gegen Sie. Und nun muß ich denken, wie dem auferstandenen Heiland zumute sein müßte, wenn ihm einfiele, daß er am Kreuz das Wort: Heute noch wirst du . . .! zu sprechen vergaß.

»Ach!« seufzte der bekümmerte alte Mensch, die Knie um seine gefalteten Hände mit dem Stock pressend, das Kinn auf der Brust: »Ach, es ist furchtbar, furchtbar ist das mit uns Menschen!«

Peter wagte kein Wort, tiefer verlegen und errötend im Gedanken: Er hat recht! und im ganzen sehr gerührt von den Erklärungen und der Demütigkeit seines Freundes.

»Wenn ich aber«, hörte er ihn jetzt sagen, »Ihnen helfen, jetzt wirklich helfen könnte, Peter, was würde ich darum nicht geben!« 89

Peter sprang auf; und ins Dunkel gewendet, heißrot und die Hände hebend, stieß er hervor: »Ich verdiene Sie ja Alle nicht!« indem er an seine Frau und die Kinder dachte.

»Wollen Sie schon fort?« hörte er sich gefragt und drehte sich um. Der Kaufmann hatte sich erhoben und fragte, die Stelle in Peters Erzählung erwähnend, wie er auf seinem Bett gelegen und den Chor aus ›Fidelio‹ gesungen habe, ob er nicht ihm zuliebe noch einmal seine Stimme hören lassen wolle, wenn er sie denn schon zum Schweigen verurteilt habe. Auf Peters Ausreden hin, seine Stimme müsse in der langen Zeit gänzlich verrostet sein, auch beherrsche er das Klavier nicht genügend, drückte der alte Mann eine Klingel und beauftragte den alsbald erscheinenden Diener, seine Tochter herbeizurufen. Er bekam den Bescheid, sie sei im Musik-Zimmer, lächelte und lud Peter wortlos ein, zu folgen.

Vom Flügel erhob sich beim Eintritt der Beiden ein sehr kleines, großäugiges junges Mädchen, das Peter stumm und mit tiefem Erröten die Hand reichte. Nach der Erklärung ihres Vaters, um was es sich handle, kramte sie lange in einem Notenschrank, brachte aber schließlich den gewünschten Klavierauszug triumphierend zum Vorschein.

Peter derweil, nun der arme Peter, stand gebadet in kalten Schweiß. Obwohl weder Skobeleff jetzt noch Rocco oder Hans Sachs; obwohl auf keiner Bühne, hatte ihn mit dem Schritt über die Schwelle des Arbeits-Zimmers die Aufregung wie nur jemals mit eiserner Klammer umschlossen. Bebend und in tödlicher Angst suchte er umsonst 90 nach dem ersten Wort; es war nirgend auf der Welt; das Fräulein präludierte bereits, nun kam sein Einsatz, und siehe da: ohne daß ihm der Einfall gekommen wäre, im Klavierauszug nachzusehen – hatte er das Wort und den ganzen Text, und aus ihm hervor zog das unendlich Berauschende, Musik, Musik, die göttliche Melodie der Anbetung, der edlen Entrückung, in seiner Stimme, die seiner Lenkung gehorchte wie eh und je, ihr tiefes, dunkles Metall abgründig dröhnen ließ wie ehmals und je, und flügelschlagend um seine arme Stirn kreiste die Taube der Erlösung.

»Ach Himmel!« seufzte, die Hände von den Tasten hebend und zusammenschlagend, mit der ganzen Begeisterung ihrer Unschuld das Fräulein, »es ist ja zu wunderbar!«

Ihr Vater meinte, dieweil Peter strahlte wie ein Stern: »Und das wollen Sie aufgeben?«

Peter Nehr verdüsterte sich und traf Anstalt zum Abschied. Sein Gönner ließ ihn noch wissen, daß am kommenden Donnerstag der Woche die ›Valparaiso‹ abgehen würde, und daß er sich im Bureau der Linie eine Freikarte zur Überfahrt abholen könne.

»Bis dahin,« schloß er lächelnd, »ja, noch während der ganzen Reise dürfen Sie sich's überlegen, als was Sie da drüben an Land steigen wollen.«

9

Peter Nehr stand am Donnerstag-Abend am Bordgeländer des Dampfschiffs in Betrachtung der langsam 91 vorbeiziehenden Lichter von Blankenese, als er sich am Arm berührt fühlte und sich wendend in der Späthelle das Gesicht seiner Frau vor sich sah – das wohlbekannte, allzulang gezogene, in dem die Oberlippe zwei lange Schneidezähne sehen ließ –, die hellen, weißblond bewimperten guten Augen jetzt fragend ängstlich und auch wieder besorgt und begütigend auf ihn gerichtet. Er starrte eine Weile sprachlos hinein; dann verzog sich Alles in einer Verdunkelung; er wandte sich ab, während sie seine Hand auf dem Bordgeländer mit ihren beiden ergriff.

Minutenlang noch hatte Peter das verlangende Gefühl, als müßten jetzt unzählbare brennend wichtige Erklärungen von ihr gegeben werden; und in der Tat, nach einer Weile gab sie auch eine einzige; sie sagte: »Die Kinder schlafen in der Kajüte.«

Sie schwiegen danach und blieben so; Fragen und Antworten konnten warten, und übrigens wußte Peter Nehr in dieser ewigen Minute, wer hier Leonore hieß oder Fidelio, wer seine Befreiung erwirkt hatte und wer irgendeinen Grund gehabt haben mußte, zu schweigen, so gut, wie er wußte, daß Alles, was geschehen, mit einer geheimnisvollen Richtigkeit so geschehen war; und wie er wußte, was es hieß, nun diese Hand auf dem Bordgeländer schmerzlich zu pressen.

Schön stieg Musik aus der abendlich dunkelnden See; stiegen die erlösten Schatten-Gestalten erhobener Hände, die von sichtbaren sanftern ergriffen wurden, die sie höher lenkten in die erstaunliche Freiheit der Sterne.

 


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