Albrecht Schaeffer
Das Prisma
Albrecht Schaeffer

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Lux in tenebris

Motto von Gottfried Keller
.   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .   .  
Süße Frauenbilder zu erfinden,
Wie die bittre Erde sie nicht hegt.

 

An Rudolf Kosegarten in Urach

(auf einer Postkarte)

Lieber Herr Kosegarten,

eben am Bahnhof fragt uns der Stations-Diener, ob wir einen Lodenmantel verloren hätten, es sei einer abgegeben worden. Ich bilde mir ein, daß es der von Ihnen vor einiger Zeit verlorene sei. Wenn Sie ihn besichtigen kommen, so holen Sie wohl zugleich Ihre Tabaks-Dose, die Sie, wie Sie inzwischen bemerkt haben werden, auf dem Malepart bei mir stehen ließen. Während des Fahrens geschrieben. Und zum letztenmal Lebewohl.

E.

 

An Freifrau Editha vom Bühel

in Karlsruhe, Leiblstr. 28

Liebe Baronin,

Ihre gütigen Zeilen mit dem Wink auf den verlorenen Mantel-Kragen, deren Unsicherheit – infolge der Bahnfahrt – so angenehm die Unsicherheit einer Abschieds-Hand vortäuschen konnte, beglückten mich gestern. Ich habe daraufhin heute mit meiner Frau, die ohnehin Schafs-Wolle oben im Apfeleck kaufen wollte, einen Ausflug nach Fröschenthal gemacht, nach Malepart und zu Ihrer Schwägerin 8 in Hubertus, aber davon erzähle ich Ihnen lieber auf andere Weise.

Ich hoffe nämlich, Ende dieser Woche für einige Tage nach Karlsruhe zu kommen, um dort mit einer Münchner Freundin zusammenzutreffen. Wegen meines Abscheus vor Gasthöfen, Pensionen und allem Unwohnlichen dieser Art habe ich mich bei einer Freundin angemeldet, die in Vormberg, eine halbe Stunde von K., mit einem Gutsbesitzer verheiratet ist. Weil ich aber nicht weiß, ob ich dort Unterkunft finde, möchte ich Ihre Güte bitten, in der Pension Cowens anzufragen, die sich liebenswürdigerweise in der Leiblstraße, Numero 9, befindet, ob für mich ein Zimmer frei ist, mit dem Hinzufügen, ich sei ein Bekannter von Frau von Juvent. Auch was es kosten soll, wüßte ich gern. Wenn es viel kostet, will ich da nicht wohnen.

Nach dem Mantel habe ich gefragt, doch war es nicht der meine, und die Tabaks-Dose war auf dem Malepart nicht aufzufinden, also wohl inzwischen von Ihrer Mama fortgetragen, die wir aber in ihrem Hause nicht antrafen.

Und so verbleibe ich, das erfreuliche Wiedersehen vor Augen, Ihre Hand küssend und Ihrem Gatten als Unbekannter mich empfehlend, Ihr ergebenster

Kosegarten

 

An Frau Baronin Editha vom Bühel

in Karlsruhe. Hauptpostlagernd

Ich fahre fort:

Die Tabaks-Dose war nicht da, aber das ganze Haus so noch erfüllt von Dir, insonderheit Dein Zimmer oben, wie 9 nur ein Raum, in dem Pfirsiche gegessen wurden, vom Duft. Dein Vertilgtsein, Edith, mein hesperischer Pfirsich, erregte mich da miteins derart schmerzlich – ich war allein auf den Malepart gestiegen –, wie der Duft mich betäubte, und so kam ich, umstrichen vom blinden, aber alles wissenden, leise winselnden Hunde Lux, fast taumlig wieder ins Freie. Hierzu die erschreckende und hexenhafte Geschwindigkeit der Veränderungen im Haus, da anstatt Deiner rotschopfigen Magd ein hurtiger und überhöflicher kleiner Greis aus der Haustür geschossen kam, der übrigens wie ein Zauberer alles wußte, nämlich von Lux, der verloren ging und von mir zurückgebracht wurde. Er erklärte sich mehrmals als den »eigentlichen Besitzer von Malepart«, bedauerte auch überaus, daß die Frau Baronin die Sommer-, besser Herbst-Wohnung im nächsten Jahr nicht wieder zu beziehen gedächte. Die Dogge stand zuhörend dabei, sah mich blicklos an aus den weißen erloschenen Lichtern und sagte stimmlos: Ich weiß mehr. – Vorher, das war eigentümlich in Hubertus (ich brachte meine Frau dahin, die Deiner Schwägerin ohnehin einen Besuch schuldig war): die Zimmer in dem geheimnislosen Sonnenlicht, Deine Schwägerin ahnungslos, Sofa hier, dort das Bett, alles schon entseelt, frisch, erinnerungslos. Denn damals war Nacht, und die Welt war unsre, nicht diese.

Oh, aber all Dies werde ich Dir nie vergessen! Nun denke ich der Bank oben unter dem Paulus-Berg, und daß alles Dortige, der Nachmittag und das stillere Gespräch und die leiseren Küsse, Dein Antlitz in der rieselnden September-Glut 10 fruchtwarm, das unendliche, herbstlich schon reifende Land unter der gleichen Sonne der Wunschlosigkeit wie wir, leuchtend – wie wir – durch den gleichen Schleier des ruhigen Scheidens vom Sommer: daß all Dieses vielleicht das Bessere war, so beruhigt es war, so leise, in fernen Ahnungen des Vergehens so ähnlich dem ersten Tasten des Anfangs, und so in sich beschlossen wie eine Frucht.

Und lebewohl! Ich schreibe dieses an Dich halb wie im Traum, erloschenen Gesichts wie Dein Hund, da ich nun kaum noch weiß, ob Du lebst, und wer Du jetzt bist. Wenn wir uns wiedersehen, werden wir Andere sein, aber es wäre schön, wenn noch eine Weile Briefe zwischen uns hin und her gingen, wie dieser, die den verhauchenden Duft eines großen Entzückens so lange zwischen uns hin und her trügen, bis – die Zeit ergänze den Satz, wie sie denn mag.

Für diesmal leb wohl, Edith!

Rudolf

P. S. Ob der Gute seinen Namen Lux oder Luchs schreibt, ist mir unbekannt, da ich ihn nur gerufen hörte; das zweite ist wohl wahrscheinlicher, aber das erste mir lieber.

 

An Rudolf Kosegarten

Ach, lieber Himmel, Du Mann unter Männern, so müßt ihr denn ewig mit Maß und Gewicht in den Taschen umherlaufen, die hervorziehn, wenn uns die Augen übergehn, und das süße Herzliche mit Skala und Eichmaß versichern auf besser und schlechter, vergeßlich und 11 unvergeßlich? Uns wird das nachgesagt, daß wir allezeit bewußt wären, beherrscht, gar berechnend, und was habe denn ich, als wir unsern ersten Abend verabredeten, Andres gedacht, als vielleicht einen einzigen Kuß, ach nur ein flüchtiges Licht in meiner jahralten Hunde-Blindheit, da ich schon lange die Spur des Lebens nur mit der arg zerstoßenen Nase verfolge. Statt dessen hast Du mich ohne viele Weiterungen in den tiefsten Abgrund der Seligkeit überliefert, und nun verlangst Du gar, daß ich mit Sextanten und Triangeln Höhen und Tiefen abmessen soll; ich fahre noch immer im Uferlosen unseres unendlichen Traums, aber mich und seine rollende See, den Herbst-Tag und die zwei Regen-Nächte, Anfang und Ende, die hältst Du mit Hund und Schwägerin und dem ganzen Malepart schon fertig in Deiner Hand, wie eine Frucht, die an Deinem Gönner-Lächeln Dir reifte. Ich glaube, ihr nennt das Form, und wenn ich Dich liebe, mein guter Freund, liebe ich Dich nicht deswegen, obwohl es ein wenig schmerzt? Aber die Lust ist hin, so müssen die Schmerzen hergenommen werden, um süß zu schmecken, und ich möchte Dir eine kleine Weile noch munden. So sprich weiter, messe und wäge, ja, sei so gut, prüfe mir etwas Andres auf vergeßlich und unvergeßlich. Denn ich, ich halte all meine Schätze von Dir wie die gleichgeliebten Kinder mir glühend warm an der Brust, und wenn Du sie mir untereinander vergleichst, so höre ich doch die Vergleichungen nicht, sondern immer denselben Lobgesang. Ja, die Bank überm Tal war schön und der Gang durch die nasse Nacht, zusammengelegter Hände, in 12 denen die gute Laterne schwankte wie im Herzen die Ahnung dessen, was kam; und Dein Zorn war schön, jedes Deiner erbitterten Worte in der Abschieds Stunde – der ersten! – und mein Widerstand wars, und die entsetzliche Trauer des einsamen Heimgangs, – aber am andern Morgen kamst Du und brachtest den Hund, der verbessert hatte, was wir versahen, und ein heiliger Abschied war uns geschenkt. So schreibe, schreib, Liebster, ich bitte Dich, Alles entgleitet zu schnell!

Aber Du kommst ja selbst. Dein Kommen erschreckt mich, ich möchte, Du bliebest noch fern. Viel später dacht ich das Wiedersehn, wir sollten schon Fremdere sein, nun wird es quälen. Das kühle Beisammensein unter den immer argwöhnischen Augen, und soviel Kleinliches wird sein, das Aufpassen, ob man sich nicht verspricht, alle Küsse werden mir im Gesicht brennen, Du aber wirst mich kalt finden, und da ist nirgend viel Freude. Auch hast Du gesagt, Du wärest kein Franzose, hieltest es nicht für die Glorie des Lebens, mit dem Ehemann der Geliebten befreundet zu sein, und Du und Arthur, ihr werdet euch sicher befreunden. Du weißt, ich liebte ihn nie, manches veracht ich an ihm, aber Du wirst Dich in seinen glänzenden Seiten spiegeln. Ach, bleib lieber fort, laß uns diese Briefe, wir wollen in ihnen Alles noch einmal haben. Als Kind hatte ich ein schlechtes Gedächtnis, da riet mir mein Lehrer abzuschreiben, was auswendig zu lernen war; das tat ich gern, Verse aus dem Gesangbuch und die ersten schönen Gedichte von Uhland und Chamisso, ich kann sie heute 13 noch par coeur, hab sie im Herzen: »Was will mit seiner Fechter Schar der alte König dort?« und: »Droben stehet die Kapelle.« Das kommt vom Abschreiben, ich malte jedes Wort in mein kleines Herz. Schreibe mir nun, wo es unermeßlich groß geworden ist, schreibe mir schöne Lieder der Liebe hinein, unvergeßlich Deine Küsse, den Blick Deiner Augen, und die reine Güte des Hundes.

Edith

P. S. In der Pension kannst Du wohnen, ich vergaß zu fragen, was es kostet (weil wir kein Telephon haben, sprach ich vom Postamt aus), aber wenn es schon schlimm ist, daß unser Gastzimmer besetzt ist – oder wäre es eher gut? –, so wirst Du doch alle Mahlzeiten bei uns nehmen. Es ist schrecklich, wie viele Freundinnen Du hast!

 

Freifrau Editha vom Bühel, Karlsruhe

Liebe Baronin:

Ihre Güte bemühte sich leider umsonst, meine Freundin verschob ihr Kommen auf unbestimmt spätere Zeit. Ich bin untröstlich, widme mich indessen der Hoffnung, und verbleibe zu Ihren Füßen als der ergebenste

Kosegarten

 

An Edith, hauptpostlagernd

Du hast allerdings recht, Edith: das Wiedersehn wäre verfrüht gewesen, doch führt' ich es nicht herbei. Nun bleibe ich aus, aber – o Himmel, es schmerzt auch. Dein 14 Brief war, als ob mich einer mit Nesseln peitschte: alles Blut schoß zur Haut meines Wesens, in einem Augenblick war ich schon Gekühlter wieder glühend von Liebe und brennend von Verlangen. Sieh, und es ist nun so gekommen, wie ich Dir prophezeite: Immerfort sehe ich Dich so, wie Du von mir aus dem unerlösten Abschied fortgingst, dem ersten; sehe in der tiefen Dämmerung der Landstraße zwischen dem Wiesen-Gefild, unter den Obstbäumen Deine fortwandelnde Gestalt, sehr groß und schlank. Eine Hand hattest Du in die Hüfte gestützt; in weißen Schuhen und Strümpfen, weißem Kleidrock und in der zitronengelben Jacke gingest Du auf das Dunkel los, scheinbar ruhig und doch in soviel Befangenheit; und die Unversöhnlichkeit schwoll wild durch das verdunkelte Land. Lange sah ich Dir nach, endlich wandtest Du Dich noch einmal, und ich ahnte mehr, als daß ich ihn erkannte, den Rosen-Schein Deines Gesichts vor dem Dunkel. Fort warst Du plötzlich, und ich dachte: So giebt es denn keine, keine Gemeinschaft zwischen Zweien, aus der nicht nach Tagen, nach Stunden schon die Natter das Haupt erhübe? Und muß, kaum daß zwei Menschen sich so nahe kamen, daß sie durch die Vermummungen des Daseins die Züge der ewigen Verwandtschaft dämmern sahen, die ewige Fremdheit so scharf zwischen ihnen aufstehen, daß sie ihnen als Feindschaft erscheint? Je näher zusammen im ersten Augenblick, um so fremder, um so feinder im zweiten? – Zwieträchtig stand ich, und so hatte sich Deine abgewandt fortwandernde Gestalt mir in das Wesen gebrannt, daß 15 mir Dein Antlitz und die Augen erloschen: Kaum weiß ich noch, wie Du aussiehst. Wir kannten uns vier Wochen, nahten uns sieben Tage, hatten uns zwei Nächte, und fast schon hätten wir uns für ewig verfeindet.

Denn so fremd sind sich Weib und Mann. Weder beherrscht wärest Du, noch berechnend giebst Du an: aber wie war denn das? Als ich Dich vom Malepart abgeholt hatte, in der Abend-Finsternis unserer ersten Nacht: Fremde waren wir uns noch, aber hatten wir nicht schon Alles beschlossen und wußten Alles voraus? Ich sehe aber, daß ich mich unterbrechen muß, um etwas Unvergeßliches abzuschreiben.

Das war, als ich im Nachtfinstern, im Regenstrom, unter dem Malepart auf Dich wartete. In einem Bauernhof war ein Licht; vor mir erhob sich der merkwürdige Felsen-Kegel, dreimal haushoch, schwarz, rauh vom Wald, worin hoch oben in der Nacht das Trost-Licht von Deinem Fenster glühte; und ich wartete und dachte inständig die Minuten lang nur das Eine: Wenn sie kommt, dann – wirklich kommt, denn wie sollt ich es glauben? – dann werde ich ihre Hand küssen, keine halbe, keine ganze, sondern fünf Sekunden lang; und dieser Kuß wird der erste sein und das Siegel, das volle Wissen und die Erleichterung meiner Zweifel. Und nur dieses denkend, sah ich Dein Licht, fühlte ich schon in meiner erstarrten Deine ganz warme Hand, immer nur dies, immer wieder; der Regen brauste über mich hin. Das aber war von einer betäubenden Lebens-Wonne, diese Gegenwart voller Zukunft, dies kräftige 16 nächtliche Sein, sich vollsaugend mit Feurigsein, dieses Wissen und Fürchten, dieses Sichleeren und Füllen im Wechsel, angefeindet unangefochten von den leibhaften Mächten des Dunkels. Dann aber das jähe Erschrecken: ein Licht kam den Kegel heruntergewandert; das warst Du. Dem folgt ich, an dem hing ich mit all meinen Sinnen, wie sein gelber Schein in die Nacht stürzte und drin versank, wie ich aus seinem Schwanken Deine Gestalt erkannte, weil die hängende Handlaterne beim Gehen gegen Dein Knie schlug und gehoben wurde von jedem Schritt. Und so im unendlichen Zickzack den Weg herunter, aufblinkend, erlöschend hinter Gebüschen, nun ein zitternder schweifender Strahl, nun ein stilles freundliches Licht, und nun endlich auf dem schrägen untersten Pfade am Hang unverkennbar Deine dunkle Schatten-Gestalt hinter der Laterne, die nach drei Seiten seltsame Fächer von Licht in die Finsternis strahlte. Da standest Du vor mir, der Regen fiel gleich leise, ich fühlte innerhalb Deines Mantels das weibliche Dasein wie einen Baum, aber warm, weich, wundervoll wie nur jene Art Mensch, die nicht Mann ist und deswegen geheimnisvoll wie ein Gott. Küßte ich Deine Hand? Sagtest Du dies und ich das? Wir gingen, ich legte meine Hand wie am Nachmittage in Deinen Arm, später in Deine Hand, und wir hielten zuzweit die Laterne, einen Schleier des Alltags sprechend über die Schwelle des Festtags.

So gelangten wir durch die Finsternis den Hügel hinauf zum Haus Deiner Schwägerin. Merkwürdige Gunst des 17 Geschickes! Ja, wenn es nicht selber Alles für uns so bestimmt hätte, was wäre aus uns geworden? Die Umstände bestätigten uns, Edith, aber sage, was geschehen wäre, wenn Deine Schwägerin nicht verreisen mußte an jenem Tage, wenn sie nicht Dich gebeten hätte, für die zwei Nächte herüberzukommen, ihre Kinder zu hüten und das Haus, in dem sonst Niemand war als die Küchenmagd in einem entfernten Zimmer?

Die ließ mich in den Raum ein, wo nun Alles schon fertig war wie ein Mord. Von den schönen weiblichen Möbeln umher, Sofa und Sesseln im Kreis um den gedeckten niedrigen Teetisch, vom strotzenden messinggoldnen Samowar, Kuchentellern und Tassen, von Tapeten und Bildern und den Büchern im Gestell, von der weißen Seiden-Kuppel der milden Lampe und aus dem Nacht-Dunkel der Fenster zwischen den lautlosen Gardinen blickte alles Kommende mich großäugig an, beinah dreist. Ich war allein; zum tausendstenmal dachte ich Alles voraus, sah ich, atmete ich das langsame Einandernäherkommen, und wieder hatte ich die eine Vision: Nachdem das Warten uns unerträglich geworden, Alles brüchig geworden, kein Vorlesen mehr hielt, kein Geplauder, ein jedes äußere Tun so unmöglich geworden wie das Blicken von Auge in Auge: so trat ich hinter Deinen Sessel, streckte die Hände beide neben Deinem Halse nach unten, und Du faßtest sie, Dein Gesicht kam empor, Dein Kopf versank, in dem Nacht-Blau Deiner Augen erlosch es, und weiter war nichts mehr vorstellbar. 18

Du warst zu den Kindern gegangen, Dein Ausbleiben dauerte länger als meine Phantasie: auf einmal schien Alles unmöglich. Wie noch an mich halten, wie noch unvertraut sein, leicht, gleichgültig, kühl, nur eine Minute lang? Durch die Tür, dachte ich, würdest Du eintreten in mein Wesen.

Ja, Eines dachte ich noch: Wie wird sie gekleidet sein? (Denn unter dem Mantel blieb mirs verborgen.) Ich erinnerte mich, Dir zwei Tage vorher etwas Schmeichelhaftes gesagt zu haben: über die Zusammenstellung des schwarzen Kleidrocks und der erdbeerfarbenen Seidenjacke mit den blauen und Honig- und Rosenfarben von Augen, Antlitz und Haar . . . da kamst Du, tratest Du ein, in dem schwarzen Rock, in der erdbeerfarbenen Jacke.

Es genügte, um Dir zu Füßen zu liegen. Ich kam aber nicht dazu. Denn ohne mich anzusehn, hinter dem frei im Zimmer stehenden großen grünen Sofa herum gingst Du zum Teetisch, bedientest den Samowar und begannst in der vollkommenen Natürlichkeit Deines unnatürlichen Geschlechts dergestalt eine Teestunde, daß ich allen Ernstes zu zweifeln begann und mich fragte, ob Du möglicherweise doch nur zu diesem Zwecke gekommen sein wolltest. Du weißt, Du kennst meinen unmäßigen Haß auf Alles, was sich unter dem Namen ›Flirt‹ begreift. Wie, dachte ich jetzt, das Arm-in-Arm am Nachmittag und am Abend: war das keine Allegorie für Brust-an-Brust, sondern da für sich selber, Flirt? Ich saß wie nach einer Niederlage, besiegt in allen Visionen, bis ich endlich den ersten Kuß 19 Deiner Hand und die wiederholten und längeren wagte, ein neues Vortruppen-Geplänkel, aus dem sich der langsam immer raschere Endkampf entfaltete.

War das beherrscht, war das berechnend? Aber freilich Eins war dir, o süßes Herz, vollständig gelungen: hinaus, hinaus, o hinauszuzögern die Stunde der Herzens-Angst, der Lustqual des Wartens.

Nun stehe mir Rede und sag, daß ich recht habe.

Rudolf

 

An Rudolf

Daß Du recht habest, o Du verlorener Mensch, du entsetzlicher Mensch, Erzschelm, Selbstbetrüger, Du Geldwechsler und Seelenverkäufer! Rudolf, ich habe mich schrecklich an Dir geärgert. Daß Du recht hast –, es ist zum Lachen und Weinen, und ich will Dir nun sagen, wie sich Alles verhielt.

Ich trat ein bei Dir in der lieblichen Jacke, und ich war glücklich, in Deinen Augen zu lesen, daß Du verstandest, was ich Dir damit sagen wollte. Darüber war ich bereits so glücklich – wenn Du imstande bist, das zu verstehn –, daß ich nicht mehr wollte als glücklich sein in diesem Gefühl, – und nun alles Weitere, alles war Glück: Allein zu sein mit Dir, mit Dir zu plaudern, äußerst fremd, aber innerst so nah, Dir den Tee zu bereiten, nach Deinen Wünschen zu fragen und sie mir für immer zu merken, die Tasse zu geben und Deine Fingerspitzen an den meinen zu fühlen, und wenn Du die kleine Flamme Deines Streichholzes zerbliesest und das tote Stück in die Schale legtest, so machte 20 auch dieses kleine Begebnis mich glücklich. Ich dachte: Wer kann so zerblasen werden? Ein glänzender See war Alles, glänzende Wellen waren Alles, Glück war es für mich, ein Glück, eine lange Zufriedenheit, eine goldene Wunschlosigkeit war's, die milde weiße Seide der Kuppel zu sehn und zu spüren, daß unsere Augen da sich vereinend einen Punkt gemeinsamer Seele wirkten, wo kein Unterschied war zwischen mein und Dein, zwischen mir und Dir. Glück war die tiefe Nacht-Stille und das Regengeräusch in den Bergen und der Atem der Finsternis, der hinter mir unhörbar die langen Gardinen bewegte, und der Schlag meines Herzens war Glück.

Ach Rudolf, ich muß klagen, mir ist kläglich zumut! Für was denn, Du satanischer Mensch, für was denn hältst Du mich, für welchen Abscheu und Greuel unter den Menschen, daß ich hätte berechnen wollen, an was kein Traum in mir dachte. Wenn Einer phantastisch ist, so wie Du, der rechnet, aber wenn Eine phantasielos ist, so wie ich, die nimmt die ganze holde Gegenwart als Geschenk und borgt nicht drüber hinaus von der Zukunft. War es denn nicht genug, war es nicht unglaublich viel, unermeßlich viel, daß ich gekommen war, daß ich allein mit Dir war, daß ich ausgeliefert war, zu Allem bereit, ja zu Allem vielleicht, aber dies, weil ich Dich liebte, Du Unmensch, und nicht weil ich rechnete. Was ich von Dir bekam, dafür sang ich ein Lob, und wurde es mehr, so wurde es mehr, weil ich es nicht erwartete, nicht weil ichs erhoffte. 21

Du aber, Du Erzbetrüger, Du hast gerechnet, Du hattest von Anfang das Äußerste im Sinn, nicht wie der Jäger, dem das ganze Jagen behagt, sondern wie der Jagdhund, der schnöde, dem nur das apportierte Leichlein was gilt. Du warst kalt wie ein Wucherer mit Schecks und Prolongierungen, und ich bin bis in den Tod überzeugt, daß in Deinen Erwägungen selbst die eine Rolle spielte, ob ich in einem Gastzimmer übernachten würde oder in dem Bett von Louise, das Du durch die halboffne Türe erspähtest, – meinst Du wohl, ich hätte das nicht gesehn? O Gott, ich schreibe ganz unschicklich, und es war das von Louise, und zu Alldem hast Du mich gebracht, Du mit Deinen Logarithmen im Herzen, in dem, glaub ich, jeder Handgriff zuvor überlegt war. Komm, laß uns wieder lachen, ich gebe Dir zu, wenn es Dein Steuermanns-Examen in Verführung gewesen ist, daß Du es mit der ersten Note bestanden hast, und ich will sie Dir als Brandmal auf das Herz drücken, durch den Mund auf das Herz, daß nur Keiner die Schande sieht.

Eins ist wahr: Nur solch ein Glück ist vollkommen, über dem noch ein mögliches, höheres, ahnbares schwebt; und das war das Glück jener Stunde, daß die Vernunft das Höchste empfand, während das Herz noch ein Süßeres ahnte. O die Stunde! Beisammen zu sein, aber noch ganz getrennt; doch in meiner Brust hatte ich Dich schon, meinen ganzen Leib und die Seele machte Dein Wesen mir süß, und diese Fülle und diese Süßigkeit schwoll bei jedem Atemzug und mit jedem Herzschlag durch die zarte Wandung 22 des Seins, versüßte die Luft, hauchte, wölkte im Raum, schlug Wellen der Angst und der Liebe, und ebenso in Dir hattest Du solch einen Frühlings-Anfang von mir, so strömte ich über aus Dir, so rannen die Wellen, die Kreise im Raum ineinander, so füllten wir endlich das ganze Zimmer und da . . . Als diese Erfüllung, diese geistige, oder wie wird man's nennen? der goldenen Liebes-Angst, als sie vollkommen geworden war, da war es der Augenblick, wo auch unser Leibliches sich berührte. Da saßest Du schon lange neben mir im Sofa und halb mir gegenüber. Zwischen uns lag das Buch, und ich war lange schon aufgelöst wie ein Duft in dem Dom Deiner Stimme, die einen ungeheuren erdröhnenden Nacht-Raum um mich herbaute, und meine Hand in der Deinen war schon so Dein, daß ich sie nicht als eigen mehr fühlte; mit meinem Handgelenk hörte ich auf, und die Hand warst schon Du. Und als meine Stirn mir vornüber sank – ach, Rudolf, wie kann man beschreiben, was sich nur tun läßt? Und nun muß ich weinen.

Edith

 

An Edith

Ich bereue unendlich! O meine süßeste Unschuld, ich bin mit Reue wahrhaftig so angefüllt, wie eine Kutte mit einem Asketen. Und wenn ich auch an sich keine Berechnungen anstellte, sondern mich nur von meiner Phantasie zu Gesichten des Kommenden hinreißen ließ, so wurden doch die Visionen, weil sie in den Gang der Begebnisse eingriffen, zu Berechnen. Du bist nicht ohne Phantasie, 23 aber es ist das Eigentümliche, oder das Bewunderungswürdige, oder das Entsetzliche eures Geschlechts, daß ihr in jedem Augenblick, den ihr wollt, blind sein könnt gegen was ihr wollt, gleichviel ob es eine gegenwärtige Unanständigkeit ist oder ein Wunschbild der Zukunft. Ins Unbestimmte hinein seid ihr bloß wünschend, und wir erfüllen es euch im Bestimmten; unschuldig seid ihr nicht, aber ihr habt ein Talent zum Unschuldigsein, das mir die Haare zu Berge steigen läßt, und so ist es zugegangen, daß, als Dein Kopf endlich an meiner Schulter lag, Dein Mund aufblühte – nicht wie eine Blume, die ihre Zeit brauchte, sondern in einem, jenem Augenblick. Und auf diese Weise warst Du befähigt, wahrzunehmen, daß ich das Bett wahrnahm, aber für Dich selbst war an seiner Stelle ein leerer Raum, der sich erst füllte, als –

Nein, mein unkühnes Herz, ich schweige bereits. Ich schweige die Stunde bis zum Hahnenschrei und zum Liede des Wächters:

Brecht Hand aus Hand, ringt aus, was ihr verschlanget,
Sitzt auf, kehrt in euch selber, laßt euch fahren,
            Die ihr Mund an Mund hanget,
            Weicht voneinander, Mann und Frau . . .

Und weiter, es ist von Borchardt:

Wie schnell sie jedem läuft, steht keiner Uhr
Im Feld; dem gähnts, dem bringts, dem rennts vorbei,
            Reißt, noch eh ers recht erfuhr,
            Den Armensünder vor Gericht – 24


            Buhlen sei
                                Alles ewig; denn zunicht
            Auf einmal wirds; wie hier mit Hahnenschrei.

Zunicht wirds – im Augenblick. Da steht es, und mich, Geliebte, mich erfaßt in dem Nu, wo ich es schreibe, eine Sterbens-Angst, daß ich Nichts habe, Nichts halte, daß Alles gewesen ist und nicht wieder kommt, nicht hier, in keinem Leben. Und so laß mich besinnen, laß es wiederholen, noch einmal vom Anfang, vom ersten Blick in Dein plötzlich offenes Herz, vom ersten Anatmen Deines plötzlich lebendigen Leibes bis hin zu der Leuchte des holden Wunders, die der blinde Hund von Dir trug herüber zu mir.

Wann aber und was war der Anfang? Als ich Dich vor Wochen zuerst sah, ich kann es Dir heut gestehn, da warst Du mir gar nicht sehr leidlich. Obgleich es freundlich von Dir war, Deine Schwägerin zu veranlassen, daß sie Dich in das Apfeleck zu dem ihr bekannten Maler Bogner führte, der mein Bildnis machte, und Dir so die Bekanntschaft mit einem kürzlich, was man so nennt, berühmt Gewordenen vermittelte: hattest Du einen verkehrten Hut aufgesetzt, der Dich Deiner lieben Stirn gänzlich beraubte. Überdies–ich weiß nicht, war es Deine Art an dem Tage, literarisch zu reden: genug um den pflichtmäßigen Gegenbesuch, nachdem ich vom Apfeleck in mein Haus zurückgekehrt war, bei der weiten Entfernung wochenlang hinauszuschieben. Besser gefielst Du mir schon bei dem Zufalls-Treffen im Habichts-Wald: ohne Hut, rosig glühenden Gesichts, und die etwas staunende Schwere im Blau Deiner 25 Augen, Dein blondes Haar – nun ja, vor allem war es zuerst das nicht anziehende Blond, da ich nun die Zuneigung für das Dunkle habe –, dies Blond aber nun vom dunkleren Ton sehr gebräunter Ähren mit wenig Gold in den Scheitelwellen: dies war mir eine freudige Überraschung. Aber wieder gingen die Wochen, ich fürchte, Dein frei um Dich her laufender blinder Hund war mir erstaunlicher als Du selbst: bis Du als Besuch in mein Haus kamst und ich als neue Überraschung die sehr köstliche blonde Gepflegtheit Deines Sommerkleides bestaunte, unter dem ich eine alabasterne Weiblichkeit von aphrodisischer Sauberkeit ahnte.

Nun sucht ich Dich auf, lud Dich ein zu der Tübinger Fahrt, die uns verregnet wurde. Nun kam die liebliche Wanderung mit Deinen Töchtern zur Uracher Ruine, wo wir aus der Höhe in der Tiefe die kleinen Täler wie lebende Wesen in die warme Sonnigkeit der Tannenberge hineingelegt sahen; und wo ich Dich selbst liegen sah, schlafend in dem Kieferngestrüpp, in den Mantel gewickelt, nur freien Gesichts, das ich mit einem Pfirsich verglich. An diesem Tag legtest Du einmal, um mich zu bedeuten, Deine Hand auf meine Schulter. An diesem Tage hingen einmal im Streit um Deine Jacke, die Du mir nicht zu tragen erlauben wolltest, unsre Hände ineinander. An diesem Tage beim Abstieg heimwärts ersuchte ich Dich, den Grashalm, den Du zerkautest, aus dem Munde zu nehmen. An diesem Tage waren wir, was man so nennt, sehr gute Freunde. 26

Aber da war noch Nichts. Aber am nächsten Tag, als Du, zum Essen geladen, unter meiner Haustür standest, die ich Dir auftat, lachend, strahlend in dem natürlichen – und in einem noch geheimeren Triumph Deines weiblichen Daseins: da fuhr eine Wolke über meinen Himmel, und ein Schattenwind fiel. Ich hörte seltsam das Rauschen der Weinreben, die vom Torsims hingen, und als ich Dich in den schattigen Hausflur zog, da zog ich Dich, seltsam, zu mir.

Drei Stunden später, als Du in den offenen gelben Vorhängen meines blauen bäurischen, als Diwan dienenden Bettes unter dem gemalten Holzhimmel lagst; als ich Dir dieses und jenes und die Geschichte vom Grafen mit den zwei Frauen und der »dreischläfrigen Sponde« gelesen hatte (unberechnend nicht ohne Nutzanwendung): wolltest Du zwar zugeben, daß eine Frau denkbar wäre, sogar meine eigene, die als Gräfin von Gleichen geboren sei – gleichsam; doch zur afrikanischen Melechsala wolltest Du in Dir nirgends eine Anlage finden. Und als ich dann, die vier Tage bedenkend, die Du noch in der Gegend und meiner Nähe verbringen durftest, mit kühner Natürlichkeit äußerte: Wir hätten also noch über die nächsten Tage zu disponieren: lächeltest Du nur einverständig und meintest, das hätten wir.

Dennoch war all Das noch Nichts. Wir kamen auch zu keinem Abschluß des Verabredens, wir saßen bald beim Kaffee in der Diele; und dann – wie sagtest Du, eine kurze Abwesenheit meiner Frau merkwürdig benutzend? Dir 27 wäre, sagtest Du, ein überkühner Gedanke gekommen. Bei Gott, und alsdann brachtest Du ihn vor: Deine Schwägerin nach Karlsruhe verreisend; Du ihr Haus zwei Nächte zu hüten habend; ich hinüberwandernd zum Maler im Apfeleck, der, wie Du wußtest, seit langem schon zu einer letzten Porträt-Sitzung drängte; und so konnten wir denn zwei reizende Abende im Haus Deiner Schwägerin gewinnen und zwei gemeinsame Tage . . . o, liebes Herz, ahnungsloses, wieviel grüne und goldne Verfänglichkeit!

Denn mir ging ein Zucken quer durch das Herz, und von jenem Augenblick an war ich in einem inneren Zittern, einer unablässigen Brandung der Aufgeregtheit, die erst ruhig ward, mehr als dreißig Stunden danach, als sie Deine Lippen erreichte. In jener Stunde verwandeltest Du Dich. Nun sah ich, daß Du schön warst, Etwas hatte Dich ergriffen, das Unsterbliche leuchtete aus Dir, Dein Antlitz war eine Flamme der Einheit, alles Seele, alles Stolz und Bereitwilligkeit und Verheißung. O, schön ist der Mensch, o, schön ist der heilige Mensch, wenn sein Leben in ihm sich erhöht, um mehr zu werden, um viel zu werden für einen Andern, dem er sich schenken will.

Als Du fort warst, hatte ich Etwas wie eine in Stücke gebrochene Brust aus Eisen bekommen, und so blieb es die Nacht über und die Wegstunde zur Bahn und die Fahrt, während der es mir gewiß wurde, daß Deine Schwägerin mittlerweile ihre Reise aufgegeben habe, Alles zunicht geworden war, und daß ich Dich, entgegen unserer 28 Verabredung, an der Bahn sehn würde, um es von Dir zu erfahren. Mir fiel Burg Urach vom Herzen, als ich einfahrend im Bahnhof Dich nirgend erspähte; ich bog wieder erhobenen Herzens in die Straße am Wildbach ein, und siehe da, als Du mir dort entgegenkamst, lächelnd von fern, nach hinten gebogen, weil vorwärts getrieben vom Drängen der stämmigen Dogge: da wußte ich, daß nur der Hund – oder eine andere blinde Gewalt Dich vor der Verabredung her zu mir führte, aber keine Botschaft von eingetretenem Unheil.

Pfirsich, du liebe Gottes-Frucht: war es von All und Allem nun nicht dennoch das Höchste, Schönste: diese Wanderung, die nun kam, die langsame, bergaufwärts die flachen Hänge der Wiesen und Felder, den Waldungen zu, wo aus den Falten der Tannenberge Nebelwolken hervorrauchten; wo aus unsern glücklichen Augen ein großes Licht Wolkengrau und die dunstige Trübe sättigte mit einem inneren Sein, das nicht leuchtete und doch Helle und Wärme war, Festtag für Werktag, so daß kein Frost am spröden Septembertag schmerzte. Siehe, meine schon geduldige Freundin, Du littest es gern, daß ich, Dich vor sumpfigen oder steinigen Stellen zu behüten, Dich am Oberarm sachte ergriff, dann ihn faßte und hielt. O, keine Zukunft, kein Rechnen war in jener Wanderung, denn – noch jetzt spüre ich den entnervenden Schlag, der mich traf, als Du meine Hand, die Deinen Arm faßte, löstest und sie tiefer hindurch, bis zu Deinem Handgelenk zogst, so daß ich fassungslos stand und wie ein Sinnloser stammelte: Was ist denn? 29

Weiter, weiter bergan! Hatte der Weg denn ein Ende, sind die Wälder nicht ewig, und wie konnte unser Gang unter ihnen nur eine Stunde währen? – Wir plauderten, während wir gingen, worüber plauderten wir noch? Nun, wer kann diese Nichtigkeiten behalten, selbst wenn sie über die süßesten Lippen geflossen sind; doch erinnere ich mich, daß ich Dir von dem Hunde Argos erzählte. Wir gerieten an ihn von dem blinden Lux, den ich zum erstenmal in Freiheit umherstreifen sah, ein kaum begreiflicher Anblick, allzeit um zwanzig und mehr Schritte voraus oder hinter oder neben, anscheinend seines Lebens ganz wie ein Sehender froh und auf wunderbare Art immer von Dir gehalten am unsichtbaren Band des Geruches. Es kam vor, daß er über den Rand eines Grabens geriet; im Augenblick fiel er zusammen, lag er sekundenlang geduckt, ehe er witternd und mit den Pfoten tastend sich erhob, behutsam sich wandte und wieder heraufsprang. Und wie hatte er gelernt, sich von Deiner Stimme behüten zu lassen, da vor einem begegnenden Radfahrer oder Wagen Dein Zuruf ihn augenblicks zurückzucken ließ und laufend zur Seite biegen. Da erzählte ich Dir vom Hunde Argos die biblische Geschichte, welcher den heimgelangten, in Bettlers-Gestalt allen unbekannten Odysseus sogleich mit dem Geruche erriet und starb, nachdem er ihn grüßte.

Es war aber merkwürdig, ja im Hinblick auf das spätere Begebnis mit Lux überaus merkwürdig, daß ich Dir nun von dem kleinen Hunds-Ungetüm im Apfeleck berichtete, Waldmann geheißen, einem stichelhaarigen Dachshund mit 30 Pinscherkopf, der vor zwei Monaten, als ich im Apfeleck hauste, verschwand und verschwunden blieb. Ein liebenswürdiges und liebebedürftiges Tier war es gewesen, leider zu ungestüm in Liebkosungen, so daß er mehr Püffe als Erwiderungen seiner großen Zärtlichkeit davontrug. Auch mich und den Maler hatte er geplagt, so daß wir ihn gerne an seiner Kette sahn, zusammengerollt in seine kleine Einsamkeit und mitunter kummervoll seufzend. Erst als er verloren war, merkten wir, was wir an ihm hatten, und beklagten seine Lieblichkeit um so mehr, als von den Bauersleuten, seinen Herren, kein Wort des Bedauerns zu hören war.

Und siehe da, als wir unter solchen Gesprächen zu dem Gehöft emporgestiegen waren, was kam mir entgegengeflogen, daß die hemmende Kette sich rasselnd spannte? Eben jener Verlorene, eben jenes pinscherhäuptige Ungetüm von bezauberndem Aussehen, da ihm sein Leib glatt geschoren war, eine Leberwurst –– jaulend, außer sich vor Glück der unverhofften Erkennung. Du aber, Edith, warst so herzlich gerührt und betroffen, als ob Du ihn selber gekannt und verloren und wiedergewonnen hättest: so war Dein, was mein war, Hund und Vergnügen; am gemeinsamen Eigentum wurden wir ein Paar.

Kind, was für Erlebnisse, verschwundenes Kind! Aber die Dinge sind Nichts und sind immer so unermeßlich viel, wie das Auge der Liebe ihnen ansieht. Und wir, wir waren glückliche Menschen den Tag, und was uns begegnete, mußte Glück sein für uns und für es. Lebe wohl, liebe Ferne!

Rudolf 31

 

An Rudolf

Liebster Freund, aber das war ein dummer Scherz, mir zum verabredeten Zeichen, daß wieder ein Brief für mich auf dem Postamt liege, diesmal nur einen schön adressierten, aber leeren Umschlag zu schicken! Atemlos, wie ich einmal jede Nachricht von Dir empfange, riß ich ihn am Frühstücks-Tisch mit dem Teelöffel auf, unter den strenge beobachtenden Kinderaugen meiner Töchter wie unter den mehr zurückhaltenden Arthurs. Meine Geistesgegenwart mußt Du bewundern, da ich in der möglichsten Heiterkeit gleich auszurufen vermochte: Da sehe man den zerstreutesten aller Gelehrten! Er schickt mir einen Umschlag ins Haus und vergißt, was hineingehört! –Lieber, beeile Dich nun, mir einen erklärenden Brief – in das Haus – zu schreiben, da Du »das Versehen« doch inzwischen bemerkt haben mußt.

Ich schreibe Dir, um diese Erklärung zu beschleunigen, schon heut, aber aus einem Brief, wie ich ihn gerne schriebe, wird heute nichts werden . . . Laß mich gestehn, Lieber, daß mich seit dem Erschrecken am heutigen Morgen ein unerklärliches Angstempfinden nicht verlassen will. Nein, es betrifft nicht diese Angelegenheit selbst, nicht diese Täuschungen meiner Umgebung oder die plötzliche und bittere Erinnerung an die tiefe Unzulänglichkeit meines und allen Daseins. Es betrifft nicht Arthur; wenn ich Dir nicht geglaubt hätte, so könnte ich an ihm die Richtigkeit Deines Ausspruches erprobt finden, daß übergroße Eifersucht oder Argwöhnischkeit allemal da blind ist, wo sie mit Grund 32 sehend sein sollte. Er hört, seit ich zurück bin, nicht auf, von Dir zu sprechen, d. h. von Deinen Arbeiten, die er besonders verehrt und liebt, und da ich ihn kenne, so weiß ich um die Aufrichtigkeit, mit der er Dein Fernbleiben bedauert. Ach gewiß, gewiß, auch dieses ist wenig schön, aber was soll ich tun, mein Gott, was soll ich tun? Von Dir zu sprechen und sprechen zu hören ist Wohltat allein. Die ewig unhörbare Musik meines Herzens beginnt dann so groß zu tönen, so leidenschaftlich, so den öden Alltag mit den Farben der Unvergänglichkeit verzaubernd, daß ich es nicht lassen kann und heuchle, heuchle, wo Alles heilige Wahrheit sein sollte. Denn wenn ich lächele aus Deinem Herzen heraus, so meint doch er, daß es wegen seiner feinen Bemerkungen geschieht, und womöglich zieht er die Verlockung zu einer Liebkosung heraus, die mich mit einer Eishand verletzt, mich untertaucht in Armut und – fast möchte ich sagen, in Schande.

Vergieb, ich muß aufhören. Meine Nerven sind seit langem viel schärfer gespannt, als Du vielleicht denkst; es ist Nacht, ich hauche Deinen Namen in die kalte Luft, der Rauch weht, und ich vergehe wieder in der unnennbaren Angst, die ich nicht deuten will.

Edith

 

An Rudolf

Liebster, nun habe ich Deinen Brief! Denk es Dir, ich bin tagelang wie eine Verzweifelte herumgegangen und habe nicht gewagt, Deinen Brief vom Postamt zu holen, und die ganzen Tage brannte er mir wie eine Feuerflamme am 33 Herzen. Warum denn, warum war nur wieder die Angst in dieser Richtung, da ich mit einer Felsen-Bestimmtheit weiß, daß sie andere Ursachen hat? Andre, aber welche, das weiß ich auch nicht, seit heut weiß ich es weniger als je, denn nun habe ich Deinen Brief, habe ihn, habe ihn! Ich bin mit ihm in die Anlagen gelaufen, habe geweint und gelacht unter dem Schleier wie eine Verrückte, und dann habe ich gelesen, und nun bin ich erlöst, ach erlöst!

Ja, ich bins, obwohl Du mich wieder in Stücke gerissen hast mit diesem Brief. Aber in Stücke gerissen zu werden von der allein seligmachenden Hand ist auch Erlösung, oder wie Hamsun in dem Buch ›Victoria‹ meint: Es ist eine Seligkeit, an den Haaren gerissen zu werden! heißt es nicht so?

Denn so also, so ist es in Wahrheit gewesen? Nicht bekümmert hast Du Dich, nicht gedacht hast Du meiner die Wochen durch nach dem ersten Sehn, und weiße Strümpfe und eine gebadete Haut, die waren erst geeignet, Deinem Herzen die Augen zu öffnen. Und ich, mein teurer Fürst, die dienende Teppichbereiterin vor Deinen Füßen, die bei dem ersten Blick sich wie mit Händen erfaßt fühlte von der Güte Deiner sehenden Augen, ich habe viel Süßes von Verwandtschaft und Erkennung beim ersten Blick umsonst geträumt, schöne Wochen lang, die Du fern bliebst:– wie ich mir einbildete, in einer stillen Reisezeit des gleich empfangenen Keims. Die aber Dir zureiste durch Deinen weither reisenden Strahl, war ganz allein ich, und Du 34 warst der blinde Lux, blindes Licht – ach, ach freilich: Licht leuchtet, doch sieht nicht.

Ach, ach, und oh und ach! Da habe ich eben vor dem Spiegel gesessen, warum? Fünfunddreißigmal hab ich den Sommer gesehen und habe zwei Töchtern zur Sonne verholfen, die bald schon erwachsen sind, und ich habe doch immer geglaubt, unverbrannt zu bleiben von den Sommern des Seins, und daß die jungen Leben, die ich dem Leben schenkte, mir Nichts nahmen, sondern im Gegenteil sich mir zugelegt haben, ein wenig himmlische Lebens-Schminke auf die Wangen, sichtbar vielleicht Keinem, aber doch dem bestimmten Auge der Liebe. Schön, sagst Du, wäre ich nicht, eher häßlich, nicht wahr? ach Gott, wer soll da nicht weinen? Nun, es ist schon vorüber, herzliebster Freund, und so sei es vielmehr der Strahl von Dir, der aus der alten Tiefe meine noch frische Seele heraufzog zu Augen, Wangen und Mund, daß Dich eine schöne Einheit begrüße! Ob und gleichviel, was dies und was das, wenn es zuletzt doch geschah, wenn Du mir die Rose vom Munde pflücktest, deren Duft Dir Behagen schafft, und wenn das etwas schwere Blau meines Auges Dir nun eine Last ist für Dein fühlend gewordenes Herz.

Und ich überschlage deshalb die abscheuliche erste Hälfte Deines Briefes; die liege im Wolkenschatten, aber die ganze heiße Sonne meines Herzens legt sich über die zweite wie über eine Landschaft hin, jene Landschaft, die Gegend am Gebirg, Wiesen und Äcker und den begeisterten Kiesel-Bach. Und die kleinen Hände meiner Strahlen, wie sie auf 35 dem Bild der ägyptischen Königs-Familie sich auf Schultern und Stirnen legen, so lege ich sie noch einmal auf die Häuser am Hang und den Kirchturm, auf unsre unvergangne Weges-Spur, auf Dein und mein hügelaufwärts pilgerndes Herz, und das wiedergewonnene Hündlein.

Danach aber will ich Dir von einer anderen Wanderung sagen. Ich machte sie einsam, jedoch zuzweit, süße gesellt und doch einsam; ja allein, wie die wichtige Wolke im Blau, die ganz satt ist von Licht. Ist das Licht ihre Seele, mein Freund? Ist das Licht Liebe, mein Freund? Ach, Liebe und Licht und Seele, geliebter Freund, die sind die wahre Dreieinigkeit Gottes in Blumen- und Wolken- und Menschen-Gestalt, und stets, wo die eine sich zeigt, da können die andern nicht fehlen.

Nämlich, Du Guter: an dem Tag, wo ich zum Essen zu Euch geladen war, erwachte ich früh, wie als kleines Mädchen am Geburtstags-Morgen, mit diesem güldenen Schrecken, welcher sagt: Heute! – Der Regen strömte am Fenster, mir war es grad recht, denn mir war gut, mir war so ungemein gut in allen meinen Sinnen, daß ich den Vormittag lang einen Vers vor mich hin summte, den Du degoutieren wirst, von einem aber äußerst beliebten Dichter, wenn Du das Wort gestattest, nämlich: Hab Sonne im Herzen, obs stürmt oder schneit! – Meine Tochter Gelinde sagte weise und ausdrucksvoll: Mama sieht heut wie eine Verzauberte aus. Sie sprach eine Wahrheit; ich ging, ich stand, ich saß und ich tat dieses und das in meinem vollkommenen Traum. Ich war wie ein tönendes Glas, von 36 einem Finger am Rande gestreift; was ich tönte war Innigkeit, und wenn es leise wurde, so sagte ich in mir: Urach . . . und dann war es wieder der behutsame Gottes-Finger, der an mich streifte, und das Summen, das Tönen fing wieder an. Ach, diese harmonischen Wellen aus mir machten alle Sachen im Haus ein wenig unruhig, mich faßte die Ungeduld endlich auch, aber da wars schon die Bahnzeit, ich küßte meine Kinder, als ob sie nicht wären und ich erst zur Hochzeit führe und wüßte, daß sie schon da wären, und verstünde es nur nicht ganz, weil ich so gläsern war, daß Alles durch mich hinging. Und siehst Du, in diesem Traum betrat ich Dein Haus, und dort war es so, daß den Kristall, der ich nun einmal war, in einem Nu Deine Augen mit einem Dunkel erfüllten, ach einer solchen goldbraunen Finsternis, daß ich kaum sah, daß Alles dämmerig wurde und Deine Frau wie ein Schatten im Spiegel; ich konnte mich kaum auf sie besinnen. Wenn ich Etwas dachte, so war es, daß ich nicht lange an mich halten könnte, Dich nicht zu küssen, und einmal weiß ich, als ich in dem Stellwagen saß, nein, verzeih, in Deinem köstlichen Himmelbett mit den gelben Gehängen, da dachte ich ganz laut: Wie kann man mich in dem Bett sitzen sehn und mich nicht an sein Herz drücken? – Du aber rührtest Dich nicht, redetest blanke, berechnende Worte vielmehr von der gräflichen Gleichen und der greulichen »dreischläfrigen Sponde«. Ach, danach stand Dir Dein Herz!

Was ich also gesagt und getan und gelassen habe an jenem längsten und kürzesten Nachmittag auf Erden, weiß ich 37 nicht, und ich bin es kaum gewesen. Das weiß ich aber, daß, als ich aus Deinem Haus wieder ins Dunkel und in den Regen hinaustrat, ich die Erwartung für morgen wie einen verhüllten Gegenstand hinaustrug, der vielleicht eine bedeckte Schüssel voll Feuer war, was weiß ich? Ich ging aber vorsichtig zu Anfang, um nichts zu verschütten.

Ach aber wer hilft mir nun den wunderbarsten Zustand beschreiben? Wie soll ich denn verkündigen, daß es über alle Maßen schön war, im strömenden Regen durch das flache, kaum sichtbare Land auf die Schatten der Berge zuzugehn, Dich im Herzen? War ich eine Geige? Wenn eine Geige Gefühl hätte, wenn sie zu ahnen vermöchte, wie es sein wird, morgen an der Achsel des Meisters zu liegen und eine Musik auszuströmen, die Gott selber erfand; die auszuströmen aus allen Poren wie einen Atem, nein, nicht wie Atem, sondern als ein ungeheures Lebendigwerden, in dem sie vergeht, dieweil sie es wird: so war mir da! Rudolf, mein Mensch, es giebt Götter unter dem Himmel, wenn die lachen wollen oder weinen, so nehmen sie einen Menschen dazu, und dann schwindelt ihn in der brausenden Wirklichkeit, zu der der Gott in ihm wächst. Ja, ja, ja, mein Geliebter, keine Berechnung! aber die letzte, die ganze, die ungeträumte Musik unsrer Nacht – sammelte sich in mir! Sie kam aus Finsternis, kam aus Regen, aus den Wäldern und aus Wolken, aus der Ähren Geduld und der Sanftmut der Wiesen, aus Deinem Herzen, aus meinen Sinnen, die sich verwandelten in ein Hoffen. Und dies war mein Glück, daß ich ein Leben lang arm wie 38 die Landstraße war, aber daß ich es nun spürte, es, dieses ewige Sichbilden in meinem Leibe – ach Rudolf, mein Herzens-Öffner, ich habe Kinder geboren, und ich liebe sie, aber es war Alles ganz schrecklich (dies Gebären); aber wenn es süß, wenn es wunderbar gewesen wäre, so wär es gewesen wie dies.

Gute Nacht, Liebster! Ich bin auf einmal so schläfrig geworden, daß mir die Augen zufallen; ich gehe gleich in mein Bett, denn ich glühe, aber im Zimmer ists eiskalt, der Ofen lange erloschen. Sei nicht meinethalb in Sorge, die törichte Angst ist verschwunden, und mir ist so sicher und hoffnungsvoll, als wärest Du jetzt im Zug unterwegs und morgen bei mir. Gute Nacht!

Edith

 

An Editha, Freiin vom Bühel in Karlsruhe

Verehrte Baronin!

Es hat wohl den Anschein, als ob ich mir mitten im Winter einen April-Scherz mit Ihnen erlaubt hätte. Oder wie? Jedenfalls entdecke ich heute zwischen allerlei Papieren den kleinen Aufsatz von mir mit den Grußworten für Sie, da ich sie Ihnen schicken wollte, und erinnere mich deutlich, auch den Umschlag dazu geschrieben und frankiert zu haben. Falls derselbe inzwischen leer in Ihre enttäuschten Hände geraten sein sollte, so schieben Sie das gütigst auf einen bösen dienstbaren Geist. Ich lege mit tausend Entschuldigungen den Aufsatz zu diesen Zeilen und empfehle mich zu Ihren Gnaden als Ihr allzeit ergebener Diener.

K. 39

 

An Edith

Edith, ich kann Dir heute nur danken und mich stille verhalten wie einer, der Agnus Dei hört. Ein solcher Reichtum überfließt mich aus Deinem Brief, eine solche Fülle der Liebes-Fruchtbarkeit, daß es mich scheu macht und schwer. Vergieb, ich finde die Worte nicht, und wenn es meine Aufgabe sonst ist, das Andern Unsagbare auszusprechen, so laß mich schweigen für mich. Es scheint mir edelmütiger, arm zu bleiben. Arm? Du hast mich königlich beschenkt, ich küsse Deine Hände und lege wortlos meinen Dank hinein, der tiefer als Worte ist.

Rudolf

 

An Rudolf

Also, mein armer, mit Stummheit geschlagener Freund, also muß ich es sein, die wieder zur Feder greift, um ein neues Stück unseres schöneren Lebens abzuschreiben? Ich tue es gern, mir scheint, es ist noch unzählbar viel zum Abschreiben da, ja, mir scheint, als hätten wir zwar schon lange geschrieben und geschrieben, aber das Eigentliche war es nicht und die Wirklichkeit ist unverändert sich gleichgeblieben; wir schrieben nichts davon ab. Ja, so wie ein schöner und großer Penelope-Teppich kommt sie mir vor; wieviel wir auch auftrennen mögen bei Nacht: bei Tage, ob wir es wissen oder nicht, unsre Geister, unsre Gedanken, unsre niemals ermüdende Liebe selbst, webt das Weggenommene allzeit neu. Übrigens ist das kein guter Vergleich, mein Freund hätte einen besseren erfunden, denn was vom Auftrennen und Wiederweben darin liegt, schickt 40 sich gar nicht zu der Vorstellung von unserer Wirklichkeit, die ich habe, weil sie sich gleich bleibt und dies eben ihr Wesen ist, unverändert zu sein. Eher dürfte die größte goldene Statue daher passen, von der wir mit dem Federmesser ein winziges Bißchen abschaben, freilich reines und schönes Gold in unserer menschlichen Hand, aber das riesige Götterbild steht unversehrt da und hat es kaum acht.

Mir ist wohl, lieber Freund, ich darf sagen, mir ist recht wohl. Ein schöner Winter ist da, Schnee liegt hoch, ich bin im Schlitten gefahren, Schlittschuh mit den Kindern gelaufen, und ich war eitel froh, von den Menschen bewundert zu werden. Auch getanzt ist worden, ich habe gesungen, viel musiziert, es waren bewegte acht Tage seit Deinem Brief. Aber wer auch immer mich sah, der sah doch die Wirklichkeit nicht, sah die Geliebte, die Liebende nicht; es war, als sähen mich Alle im Spiegel, und ich in der Wirklichkeit unserer Liebe blieb mit Dir seelenallein.

Eine Sorge habe ich allerdings in dieser sorglosen Zeit, und die betrifft Deine Frau.

Liebster, Du hast ihr doch nichts gesagt, nichts verraten? Nun, schilt mich nur, rede Dich aus, sage kleinlich, bürgerlich und nur zu! Du redest mir das Schamgefühl nicht aus dem Leibe, das mich in dem Nu hochflammen läßt, wo ich denke, sie könnte es wissen. Du sagtest, sie würde es trefflich ertragen, vielmehr, nicht von Ertragen wäre die Rede; ihre Natur stünde außerhalb dieser Dinge, was aber nicht ausschlösse, daß sie ihr verständlich wären. Und doch, siehst Du, so widerspruchsvoll bin ich nun, doch sorge 41 ich mich um sie. Denn damals nannten wir ein Abenteuer, was wir erlebten, und von Deiner Frau sagtest Du, daß sie Dir alle Freiheit zu dergleichen lasse; sie wünsche jedoch, daß es ihr nicht verborgen bliebe. Das, lieber Freund, verstehe ich nicht. Denn wenn Du Etwas tust, zwar ohne ihr Wissen, aber Etwas, das ihr nicht feindlich, schmerzlich oder nur peinlich ist, und wenn Du es auch nicht mit dem Gedanken tust, hinterrücks, als Betrüger zu handeln: warum verlangt sie dann, es zu wissen? Hat sie weder im Guten noch im Bösen Anteil daran: wo ist ihr Recht? Ist es nicht unser Eigentum, Deins, Liebster, und auch meins?

Ich, Rudolf, ich verstehe Deine Frau ja nicht; Du aber verstehst sie anscheinend, und solltest Du daher nicht auch mich verstehen sollen?

Aber wollte ich denn dies schreiben? Mir scheint, ich hatte etwas Anderes im Sinn und schon davon angefangen, aber es ist mir entfallen, denn ich habe nun Nichts vor Augen als die »Stunde des Zorns«, o die schreckliche schöne, schöne schreckliche Stunde! Soll ich sie abschreiben? Nun, so lies, Lieber.

Der letzte Nachmittag sollte noch unser sein. Da meine Abreise bevorstand, mußte ich Mama zum Tee bitten, aber sie würde vor Dir wieder gehen, wir würden noch einen Spaziergang machen, und die letzte Stunde vor Nacht und vor Deinem Zug würden wir zum letztenmal in meinem Zimmer zusammen sein.

Du kamst vor der Mama; und anscheinend nur zu dem Einen entschlossen, sagtest Du, auf den Balkon zu mir 42 tretend, Du habest inzwischen Deiner Frau die ihr erwünschten Mitteilungen über uns gemacht.

Was Dich, da es gelogen war, wie Du später gestandest, hiezu angetrieben hat: Liebster, ich weiß es heute noch nicht. Ich hatt es Dir so verboten, hatt es so herzlich von Dir erfleht, mir diese Scham zu ersparen, und wenn es trotzdem nach Deinem Rechtsgefühl sein mußte, warum verschwiegst Du es mir nicht, hintergingst Du mich nicht, warum diese aufgebrochene Offenheit und warum zu jener Stunde? Oder war Dein Rechtsempfinden – wenn dieses der Name dafür ist – so tyrannischer Art, daß es die doppelte Offenheit forderte? Ich versteh es nicht heut, wie hätt ich es damals verstehen sollen? Ich war so erstarrt; kaum daß ich erwidern konnte, und indem kam die Mama. Da mußte es unterdrückt werden, mußte ich heiter gesprächig sein, und ich gewöhnte mich wohl daran, so daß auch hernach bei dem Spaziergang zur Kapelle und in der sanften Stunde, die wir am Berghang im Scheiden saßen, sich nichts Störendes zutrug. Innerlich aber würgt' es in mir, ich fühlte es, ließ es nicht aufkommen, und erst zuhaus, als wir auf den Balkon hinaustraten, auf derselben Stelle, wo ich den Schlag empfangen hatte, da brach sein Brennen jetzt auf, da er mich erst nur betäubte; brach so feurig hervor, daß ich sagte: Ich bin außer mir, Rudolf! Und: Ich kann jetzt nicht oben mit Dir zusammen sein. Verzeih mir, ich kann es nicht. – Es ist so wahr, Liebster, ich wußte keinen Gedanken zu fassen, wenn ich einen sah, war es immer nur der, daß sie – diese Andre, Unbekannte, 43 daß sie wußte, ach was denn wußte? Nicht die Wahrheit, nicht meine Liebe zu Dir, sondern nur – mein Erlegensein, in drei Tagen . . . o, wie ich brannte!

Und Du? Rudolf, und Du? Mit einem Schlage warst Du ein anderes Wesen geworden. Deine Augen kohlschwarz, Dein Kinn wie ein Stein, Dein Mund ein Strich, und – wie? Sagtest Du, die letzte Stunde, die einzige noch, die willst Du uns mit Ärger vergällen? Du verlangtest wie ein Zinshahn Deine Stunde, das empörte mich um so mehr; Du sahst zum Fürchten aus, ich hatte die widernatürlichste Angst vor Dir, und dennoch, Rudolf, dennoch, ich weiß es ja heute, war diese Angst ganz in Gärung von einer Süße, von einer schaurig goldenen Ahnung, ach, von der Ahnung, Du, daß der Fremde, der Du geworden warst, nur das Bildnis war eines viel tiefer Bekannten, nein Unbekannten, noch Unbekannten – Deiner Wirklichkeit, Rudolf, die mir noch fremd war, aber die es doch immer gewesen war, die ich liebte, oder zu lieben hoffte, oder zu erfahren hoffte – ach, finde Dich selber heraus, liebster Freund! So angst aber mir war, die Süße verlangte ich auch, und wenn ich Dir Widerstand leistete bis zum letzten Nu, so war es allein zur Verlängerung dieser armen Wonne vermittels der Angst, denn Du bliebest ja fremd, ich drang nicht durch in die Wahrheit, und so ging unser Abschied auf.

Du stelltest mich vor die Wahl: entweder zu unterdrücken, was in mir rauchte und Feuer spie, oder Dich gehen zu sehn. Ich sagte: Ich kanns nicht, und dachte: er wird 44 darum noch längst nicht gehn! aber sieh an, ich kannte Dich nicht. Du wälztest Dich wie ein Mühlstein herum und warst bei der Tür. Nun hielt ich Deine Hand, die Treppe ging es hinab wie Treppen im Traum, schon waren wir vor dem Haus, schon die ersten Erdstufen hinunter, ich jammerte, ich stöhnte: So kannst Du nicht gehen wollen! Es dämmerte schon, im Dunkel unter den Bäumen waren Deine fremden grausamen todschwarzen Augen, und Du murrtest vor Dich hin: Meine Tabaksdose. – Die hol ich Dir! rief ich, und ich flog den Weg zum Hause zurück, die Dose war nirgend, weiß Gott: ich nahm eine Streichholzschachtel, ich dachte, ich müßte Etwas bringen, lief vor das Haus, Du warst fort!

Aber wie ich mich über das Geländer beugte, warst Du noch auf halber Höhe des Steilhangs zu sehn. Ich hätte mich gern über den Rand gestürzt, ich flog die Serpentinen hinunter, bis ich Dich hatte, und ich hielt Dich und – nun, was weiter? Keiner gab nach, zu Deinem Zug war es zu früh, Du wolltest die anderthalb Stunden zu Fuß machen, und ich lief neben Dir her wie mein Hund neben mir, eine halbe Stunde sprach ich auf Dich ein, da hatt ich Dich sanfter bekommen – oder – ich weiß nicht, Du sagtest später, Du habest Dich nur verstellt. Jedenfalls war Dein Zorn gewichen, Deine Augen hatten die Naturfarbe wieder, Du warst traurig. Ich sagte: Wenn Du groß bist, Rudolf, mußt Du mich auch verstehn. Du aber gabst wie ein Pharao zurück: Es ist nicht Größe, Kleinlichkeit zu verstehn, sondern das Große zu sehn, wo es ist. – In jedem 45 Buch von Dir würde ich das angestaunt haben, aber so geschliffen das Wort war, so zerschnitt es mich auch, und wo Schmerz ist, da ist die Einsicht noch ferne.

O, nun genug und genug! Wir schieden zur Hälfte versöhnt, wenn es auch zwischen uns blieb wie ein Teller mit zwei halbgegessenen Äpfeln; ich ging meines Weges zurück. – Wie fürchterlich aber das Alles war, sehe ich freilich erst heut, da wir uns so entzweien konnten in der äußersten Stunde und doch Keiner mehr wußte, was der Grund der Entzweiung gewesen war.

Und nun, mein Geliebter, mein wieder Entzürnter, nimm Du die Feder und schreibe weiter. Schreibe vom Wunder des Hundes, ja von dem lieblichen Wunder des Hundes.

Edith

 

An Edith

Ich stand und blickte Dir nach. Das verblindete Land war von gramvollen Dunkelheiten überflogen, die Gegend niedrig unter der herabrollenden Nacht, und unter den stillhaltenden Trauer-Bäumen wandelte Deine zartgelbe und weiße Helle mir unwiederbringlich davon. Ich fühlte die weiße Leichtheit Deiner Füße noch, die über einem unsichtbaren Erdboden sich mit Tritten von rätselhafter Sicherheit bewegten. Zornig war ich nicht mehr, aber überfüllt von einer traurigen Bitterkeit. Wer von Geistes Art ist, dem mischt sich die geistige Essenz in alle Freuden wie Leiden, und ich litt an mehr als an uns, ich litt ein geistiges Leiden, ich litt an der schaurigen Undauerhaftigkeit unseres Menschentums, und in dem Schnitt, der uns trennte, sah 46 ich die riesige Klinge durch die Menschheit quer wie durch eine Baumfrucht gezogen. Dann wandte ich mich, indem ich mir sagte, daß ich Dir jede Kleinlichkeit zu jeder Stunde vergeben hätte, doch mußte mir Zeit bleiben, mich zu besinnen. Weshalb ich mir die Zeit nicht nahm und besinnungslos blieb: in diesem Fehler haben wir die Tragödie aller Sterblichkeit. Denn war es – wie ich Minuten später schon wußte –, war es auch Unrecht gewesen von Dir, mir den versprochenen Abschied zu rauben, so war es auch Unrecht von mir, ihn ganz zu vernichten; ja, mehr als das: zuzulassen, daß die schön gewobene Kapsel unserer Gemeinsamkeit so elend zerriß. Und weiter noch: Wenn es von Dir falsch war, mich – in meinem Verhältnis zu meiner Frau – nicht verstehen und mir nachgeben zu können; wenn Dir das Maß der Anschauung fehlte oder Dir nicht zu erraffen war in der eiligen Stunde: warum hatte ich Deiner Wesens-Art so wenig gedacht, daß ich Dir zur Eröffnung der Abschieds-Stunde die Mitteilung machte, die erfunden war obendrein? Die Schuld lag allein bei mir. Die Zeit war zu kurz.

Größe freilich, mein armes Herz, Größe des Herzens ist: nicht zuzulassen, daß es jeder Regung des Augenblicks folgt – wie Du tatest –; sondern die Forderung der Stunde anzuerkennen und sich zu beugen – wie ich auch nicht tat.

Aber die Zeit war für mein Maß zu kurz, und so wanderte ich entstellt und verbittert in das Dunkel hinein, als ich von ungefähr einen großen Hund bemerkte, der vor mir 47 herlief, als ob er irgendwie mit mir verbunden wäre. Und während ich mir noch klarmachte, daß ich ihn nicht eigentlich jetzt erst bemerkte, sondern bisher nur durch Geistesabwesenheit verhindert war, ihn anzuerkennen: da erkannte ich Deinen Hund, und ich rief seinen Namen in so heller Freude, ja obwohl noch ganz unwissend, schon so erleuchtet, daß ich mich wie ein Sonntag im Juni fühlte. – Übrigens: er folgte zwar meinem Ruf, aber nur beiläufig, und während ich ihm zuredete heimzugehen, kehrte er vielmehr um und trabte meines Weges davon. Ich sah mich um, ich sah, daß ich schon dicht vor der Friesler-Brücke war, mehr als eine halbe Wegstunde vom Malepart, und daß der blinde Freund Dich verlassen hatte und mit mir gekommen war, ja durchaus mit mir kommen wollte, Dein Dich verlassendes Teil, das mich nicht verließ. Lux in tenebris, da gingen die Sterne mir auf – und ich sah das große, getroste, großmütige Tier, wie es das Licht einer ewigen Güte, da ich es erloschen glaubte, von Dir einfach herüber zu mir trug und kummerlos vor mir her, selber blind, in das nicht mehr feindliche Dunkel.

Ich fragte mich noch, ob ich umkehren solle, diesen Hülflosen zurückzubringen. Und wenn ich mich dann auch wegen der Weite des Weges zum Gegenteile entschloß, so bedachte ich noch nicht einmal, was das hieß; daß ich ihn am nächsten Tage würde zurückbringen müssen; daß Dein Zug erst am Abend ging; daß ein neuer Tag und ein neuer Abschied uns geschenkt worden war. Ich war genügend froh über dies schlichte Geschehnis, daß Einer wortlos 48 gekommen war, der ohne Nötigung zusammenfügte, was wir zerstückten – wodurch? einfaches Tun.

Der Hund kannte mich kaum. Wie also wußte er, daß er seine Blindheit mir so anvertrauen durfte wie Dir? Aber er war durchdrungen von dem Willen, mit mir zu gehn, denn als ich ihn von mir und heimwärts wies, stellte er sich wie unbekannt, späterhin aber, unterwegs, war er auf meinen schützenden Zuruf um kein Haarbreit minder folgsam als auf Deinen. Deiner Fuß-Spur, der wohlbekannten, nach rückwärts gezogenen, folgte er nicht, aber meine unbekannte, noch nicht vorhandne, die suchte er schon voraus.

Ich weiß nicht, ob mir jemals im Leben so einsam festtäglich zumute gewesen ist wie in dieser Wegstunde durch das tief abdämmernde Land. Bald wußte ich ja auch das zweite Geschenk des morgigen Tags, die Abschieds-Erneuerung, und daß der blinde Licht-Träger zustande brachte, was sonst niemals dem Menschen sich bietet: recht zu machen, was schon fertig in seiner Verfehltheit war; ja:

Und aus seinen Finsternissen
Tritt der Herr, soweit er kann,
Und die Fäden, die zerrissen,
Knüpft er alle wieder an.

Diesen Choral sang ich im Gehen übrigens nicht, da es mir vielmehr genügte, den Blinden zu beobachten, wie er sich seines Weges brachte. Er lief nämlich stets in der Mitte der Landstraße und stets dreißig und mehr Schritte voraus. Wodurch er diese Mitte einzuhalten verstand, wurde 49 mir beim Abbiegen in kleinere Wege kenntlich: er brauchte den Geruch wie wir unsere Augen. Denn: über einen Pfad, bei dem ich abzuzweigen vorhatte, lief er freilich hinaus; rief ich ihn an, kam er, schoß mir vorüber in den neuen Weg, den er an den Menschen-Spuren erroch, und nun, die Nase am Boden, witterte er zur linken Weg-Kante hin, zur rechten – wo die Menschen-Spuren aufhörten –, so hatte er die Mitte und hielt sie. Näherten wir uns einem Viehgatter, rief ich ihn an, so hielt er geduldig, wartete, bis ich geöffnet hatte, ließ sich am Halsband hindurchführen; ebenso über die Brücken-Planken der Gräben. Als es völlig Nacht war, sein weit voraus fliehender Schatten mir im Finstern verschwand, so brauchte es nur einen Ruf, und im Augenblick wurde er sichtbar, kam die graue Hundegestalt bis zu mir, mich immer von neuem mit Sprüngen und wedelndem Schweif zu begrüßen. Eine Strecke Weges im Habichts-Wald war der Weg vielfach vom tagelangen Regen mit sumpfigen Stellen und großen Tümpeln unterbrochen; in diese, um die herum ich mir selber den Weg durch Unterholz suchen mußte, tappte er die ersten Male blindlings hinein, stand dann ratlos, versagender Nase, bis ich ihn anrief und ihm geholfen war; weiterhin genügte zunehmende Feuchte im Weg, um ihn zum Halten zu bringen, und dann folgte er mir auf den Fersen durch das Gestrüpp.

Ach, Kind, wie einfach ist das mit dem Hund: er wünschte ein Abenteuer und nahm die Gelegenheit wahr; und ach, wie wenig einfach es war: er vertraute sich mir so wie dir. 50

Da ich nicht wußte, ob er gewohnt war, im Freien zu schlafen (oder sollten wir nicht so weit dankbar sein, Edith, daß wir dem freundlichen Nothelfer in dieser Abschrift unseres Lebens ein ausführliches Denkmal setzen?), brachte ich ihn auf den gedeckten Balkon meines Schlafzimmers, wo es ihm aber nicht gefiel. Er kratzte, kaum daß ich lag, mit solchem Getöse an der Tür, daß ich ihn einließ, seinen Sack in der Nähe meines Bettes ausbreitete und ihn sich hinlegen ließ. Er stand aber noch zwei- oder dreimal auf, ging im Zimmer umher, kam zuletzt an mein Bett und blieb dort, still, eine Weile. Endlich legte er sich seufzend, und ich schlief ein. Er weckte mich bei Sonnenaufgang durch seine nahe Erscheinung, beide Vordertatzen auf meinem Bett. Freilich: je bälder ich zu Dir kam, um so besser.

Alles Übrige weißt Du. Ich stand wieder in Deiner Tür, Du saßest beim Frühstück. Und indem wir aufeinander zu traten, sagten wir Beide: Verzeih.

Verzeih, Edith, verzeih, denn nun ist es aus. Ich habe, soweit ich konnte, das Ende hinausgeschoben, indem ich den Brief ohne erzählenden Inhalt voller Dankworte schrieb, und Dir zugeschoben, soviel noch für Dich von der Abschrift übrig war. Nun hat Alles ein Ende.

Es muß. Es geht nicht weiter. Der Oskar Wilde sagt irgendwo, daß Frauen im Schauspiel und im Leben allemal einen sechsten Akt verlangten. In der leichten Bemerkung ist eine schwere Wahrheit enthalten. Denn ihr seid endlos beschaffen und uferlos, und wir sind die Festen, oder die das Feste wollen, die Schranken und die Grenzen, die 51 Form. Wie es war, so ist es köstlich gewesen, aber: ich bin kein Franzose, und in dem Augenblick, wo Du mir sagtest, Dein Mann dürfe nie das Geringste erfahren, war ich entschlossen, niemals mit einer Maske vor ihm zu stehn. Mit meiner Frau ist es nicht anders. Und uns Beiden, ach armes Geschöpf, was hülfen uns noch Briefe, hinüber und herüber gereichte Blumen, die nur immer welker würden und immer spärlicher. Zweimal haben wir Alles besessen, ein so glühendes Leben in einer zwiefachen Wirklichkeit. Wir bildeten, ohne es zu wissen, den holdesten Lebens-Ring; die Enden wollten nicht schließen, sie bröckelten schon, fast zerfiel uns der Reifen. Aber der große verständige Nothelfer erschien; was zerfallen wollte, ergänzte er leicht, rund war der Ring. Und laß ihn uns nun, so edel und vollkommen er ist, dem Finger Gottes überstreifen, von dem er – Du glaubst es – uns zufiel, unsichtbar, daß wir ihn schüfen.

Die Augen gehen mir über, lebe wohl! Gehe mir, liebe, lichte, zarte Gestalt, geh mir nicht unversöhnt in das unendliche Dunkel hinein.

Rudolf

 

An Rudolf

Aus? Rudolf! Aus! Das sagst Du, das wagst Du, da steht es, Buchstaben, Worte, Sätze, mir flimmern die Augen, Rudolf! Glauben, das soll ich glauben, Gott im Himmel, so war denn dies meine Angst, dies ihr Grund an dem Tag, wo der leere Umschlag kam, der mich entsetzte mit seiner Leerheit? Wußte ich es denn wirklich 52 damals schon, daß es wahr war, was Du später schriebst: daß nur ein winziger Rest unseres Lebens zum Abschreiben übrig war, den Du mir zuschobst, Du immer und immerfort wissender, Alles berechnender Mensch? Nein, aber das war ja auch nicht der Grund der Ängste, daß für Dich das Ende herankam, doch nicht für mich. Und daß der inhaltlose Brief mit seinen Winken von Scheu und Schwere, daß der etwas Anderes meinte, als Du vorgabst, daß Du scheu warst vor –

Darf ich es sagen? Darf ich denn sagen, weshalb es nicht aus sein darf? Weil ich Dich liebe, Rudolf, weil ich Dich liebe! Ein Abenteuer haben wir es genannt, eine schöne Herbstfrucht in einem verlassenen Garten, und o Himmel, es ist wahr, daß es, solange es dauerte, nicht Liebe war, nicht die Liebe, die mir heute das Blut verbrennt und den Atem verschlägt, Leidenschaft nur, eine Fackel, kein Stern. Rudolf, es ist mir das Furchtbare geschehn: Du hast geendet, und ich fing erst an?

Nein, kein so hartes Auge, Geliebter, und es ist nicht wahr, was Du sagst, daß es ein Hineinsteigern und Übertreiben war, ein künstliches Ernähren der Erstlings-Glut durch unsere hineingeworfenen Briefe. Das war es nicht, denn dann hätte es erst angefangen mit unsern Briefen, aber – so wenig ich es damals wußte – in einer andern, früheren Stunde fing es an, und als Du im Zorne warst, als Du ein Mann warst, kein Liebender, als Du Dich vor meinen Augen in den Fremden verwandeltest: da, da, da fing es an, denn es war kein Fremder, der mit den toten Augen, 53 der mit dem steinernen Kinn, es war ein Geliebter. Du warst es, Du, Dein einziges Sein, Deine Wirklichkeit, Deine Wesenheit, meine Sehnsucht. Und deshalb mein Widerstand, deshalb das Gold in der Angst, deshalb meine Hartnäckigkeit in dem Trotz: mir den Zorn zu erhalten, den Fremdling, den Neuen, den Geliebten! Und deshalb, o Freund, lieber, ewiger Freund, deshalb verließ Dich mein Hund und lief über zu Dir, das Licht meiner Liebe vor Dir her zu tragen in die offene Nacht. Sag, daß es so war, daß Du wieder logst, als Du Dich bezwangst und das Ende setztest – nur in den Brief, aber nicht in Dein Herz, nur in unser Erlebnis, aber nicht in das Leben, sag es, Rudolf – o die Herzens-Angst! – sag, daß Du mich liebst, wie ich Dich! Ich will Alles tun, was Du willst, ich will meinen Mann verlassen – und die Kinder? O Gott, nein! Ich will Melechsala werden, will mich demütigen vor Deiner Frau, sie liebt Dich, sie liebt, also wird sie mich verstehn, weil ich liebte, weil ich liebe!

Geliebter, Mensch, Mann! Sind denn die Dinge aus Eisen, die ihr macht? Der Hund, sagst Du, schloß den Ring, seine Guttat verhalf dem zerbröckelnden Stoff noch zur Form: und wenn ich mich dranlege mit glühendem Mund, kann ich sie nicht noch einmal zu Schlacke verbrennen, noch einmal zu Leben schmelzen? Nimm hin, Geliebter, o nimm ihn noch einmal von mir an, den ewigen Stoff der Liebe und laß das Leben daraus das Bildnis formen, das ihm gefällt.

Du mußt mich lieben.

E. 54

 

An Freifrau Edith von Bühel in Karlsruhe

Verehrte Baronin:

Meine Münchner Freundin ist kein zuverlässiger Mensch, und wenn sie mir auch ihr Erscheinen in K. für die nächste Woche als sicher ankündigte, so weiß ich nicht, ob ich Ihnen meinen Besuch um die Zeit als ebenso gewiß in Aussicht stellen darf. Doch möchte ich Ihnen meine Freude über die Wiedersehens-Aussicht wiederholt – nach so langer Zeit – betonen; wenn auch, nach einer so kurzen Bekanntschaft wie der unsrigen, ungewiß ist, was die Zukunft bringen mag. Vertrauen wir uns ihr nur an.

Wohnen werde ich diesmal bei den Vormberger Freunden. Ich darf Sie also meinetwegen nicht zum Postamt bemühen.

Somit auf baldiges Wiedersehen und die ehrerbietigsten Grüße Ihres

Kosegarten

 

Epilog nach Gottfried Keller

  Hoffnung hintergehet zwar,
Aber nur was wankelmütig;
Hoffnung zeigt sich immerdar
Treugesinnten Herzen gütig;
Hoffnung senkt ihr Gegengift
In das Herz, nicht in die Schrift.

 


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