Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Elftes Kapitel.
Eine Einladung

In der ernsten Arbeit der nächsten Wochen war die Erinnerung an Fräulein Geldern bald zurückgetreten bei unseren Freundinnen. Ihre Mitschülerinnen waren froh darüber, daß Gretchen und Hermine wieder mehr für sie zu haben waren. Ottilie von Lilienkron neckte die beiden nicht mehr wegen ihrer Schwärmerei, und Elise Schönlein, die von den fünfzehn Schülerinnen der Oberklasse die ungeschickteste war, konnte sich wieder wie früher Hilfe erbitten bei der allzeit dienstfertigen Hermine oder guten Rat bei Gretchen, in deren Kopf alles klar lag, was sich bei Elise in trostlosem Wirrwarr befand. Der Tag kam, in dem in der Schule von Fräulein von Zimmern Probearbeiten gegeben wurden. Vom Erfolg derselben und von den Arbeiten, die im Laufe des Winters gemacht worden waren, hing die Note ab und der Platz in der Klasse. Hermine war seit Jahren die erste, während Gretchen und Ottilie öfter auf dem zweiten und dem dritten Platz gewechselt hatten. Diesmal hatte Gretchen gute Aussicht, den zweiten Platz zu behaupten, und Hermine war das wichtiger als Gretchen selbst. Während sie die Schultreppe zusammen hinaufgingen, sagte Hermine: »Gretchen, bleib mir treu! Wenn du nicht ganz schlechte Probearbeiten machst und Ottilie ganz ausgezeichnete, so kann sie gar nicht mehr über dich hinaufkommen. Gelt, du paßt recht auf?«

»Ja, ja, ja,« rief Gretchen ungeduldig, »wie oft willst du mir's noch ans Herz legen? Ich kann's gar nicht ausstehen, wenn man immer so nach den ersten Plätzen jagt. Ich wollte, ich wäre Elise Schönlein, die sitzt so fest auf ihrem fünfzehnten Platz, mit allem Leichtsinn kann sie nicht weiter hinunterkommen, so lange nicht eine sechzehnte Schülerin eintritt.«

»Aber Gretchen, wie du nur so etwas sagen magst, das kommt mir fast unrecht vor!«

»Ich meine es ja nicht so ernst; aber so ein Ehrgeiz, wie ihn Ottilie hat, der kommt mir fast unrecht vor.«

Hinter den beiden Freundinnen kam Elise Schönlein herauf. Gretchen redete sie an und wünschte ihr viel Glück für die Probearbeiten. »Heute haben wir doch noch keine?« fragte Elise. »Aber Elise,« entgegnete Hermine ganz vorwurfsvoll, »Fräulein von Zimmern hat es uns doch schon vor acht Tagen gesagt! Hast du denn gar nichts durchgegangen?« Elise blieb die Antwort schuldig.

»Und die beneidest du?« sagte Hermine leise zu Gretchen.

Droben auf dem langen Gang wandelte Ottilie auf und ab, ein Buch in der Hand. »Lernst du noch?« fragte Hermine. »Nur noch wiederholen. Gestern habe ich, obwohl es Sonntag war, den ganzen Tag gelernt, bis ich vor Kopfweh gar nicht mehr aus den Augen sehen konnte.«

»Und die beneidest du?« sagte Gretchen lachend zu Hermine.

Die Probearbeiten gingen vonstatten, schriftliche Arbeiten aus allen Fächern. Noch in derselben Woche erschien eines Nachmittags Fräulein von Zimmern in der Klasse der Großen, um das Ergebnis zu verkündigen; es setzte alle in Erstaunen, es fiel auch anders aus, als Hermine erwartet hatte: Gretchen war nicht die zweite geblieben, nein, Gretchen war die erste geworden! Die beiden Freundinnen sahen sich bei dieser Verkündigung ganz verblüfft an, und trotzdem Fräulein von Zimmern ganz in Gretchens Nähe stand und feierliche Stille in der Klasse herrschte, konnte Gretchen sich doch nicht enthalten, Hermine zuzurufen: »Siehst du's! Nun hast du's! Warum mußt du mich immer so anstacheln?«

»Bemerkungen während der Platzverteilung sind verboten,« sagte Fräulein von Zimmern zu Gretchen, »du weißt das seit vielen Jahren. Ich muß leider meiner Ersten gleich eine schlechte Note geben.« Lautlose Stille unter den Schülerinnen. Manch teilnehmender Blick fiel auf die beiden Freundinnen. Hermine war ein wenig erblaßt. »Nimm dir das nicht zu sehr zu Herzen,« sagte Fräulein von Zimmern wohlwollend zu ihr, »deine längere Krankheit mag etwas ausgemacht haben. Übrigens waren deine Arbeiten gut, nur die von Gretchen noch etwas besser.« Diese Worte taten Hermine wohl, und nachdem die beiden Freundinnen ihre Plätze gewechselt hatten, fanden sich ihre Hände unter dem Tisch zu freundschaftlichem Gruß.

Ein weiterer Trost für Hermine mochte es sein, daß neben sie, als dritte, Elsbeth May kam; denn auch Ottilie war um einen Platz zurückgekommen. »Du bist diesmal die vierte geworden,« sagte Fräulein von Zimmern zu ihr, »deine Arbeiten im letzten Halbjahr waren gut, aber die Probearbeiten sind dir teilweise mißlungen. Du sahst auch nicht gut aus, warst du unwohl?« Ottilie stürzten die Tränen aus den Augen und schluchzend rief sie: »Ich hatte so furchtbar Kopfweh, schon am Tage vorher, am Sonntag, wo ich gearbeitet hatte von früh bis spät abends.«

»Den ganzen Sonntag hast du gearbeitet, Ottilie? Hast du denn am Werktag so viel Gutes gehört und gelesen, so für deine Erbauung gesorgt, daß du es am Sonntag gar nicht mehr nötig hattest? Oder meinst du, es stehe so gut mit dir, daß du dich ganz über das Gebot der Sonntagsheiligung hinwegsetzen kannst? Ich glaube, das dürfen nur solche Gotteskinder tun, deren ganzes Leben ein Gottesdienst ist.« Ottilie weinte still vor sich hin. Noch manche Veränderung gab es am grünen Tisch, aber Elise Schönlein behielt ihren alten Platz.

Obwohl Fräulein von Zimmern durch lange Jahre die Erfahrung gemacht hatte, daß dieses Mädchen keinen besseren Platz erobern konnte, war sie doch nicht gleichgültig gegen sie. »Elise,« sagte sie, »daß du wieder die letzte bist, nehme ich dir nicht übel; denn die anderen lernen leichter als du. Daß du aber deine Probearbeiten schlechter gemacht hast als sonst, das hat mich sehr betrübt. Du sollst diese Woche jeden Abend zu mir kommen, und diese Arbeiten so oft bei mir machen, bis sie so gut werden, als ich von dir erwarten kann. Du darfst nicht eine schlechtere Schülerin werden, du kannst und mußt eine bessere werden.«

Als Gretchen an diesem Abend ihren Eltern von den Erlebnissen in der Schule erzählte, fiel es ihr auf, daß ihr Vater aufmerksamer zuhörte als sonst bei derartigen Berichten. Nachdem sie alles erzählt hatte, fragte Herr Reinwald: »Nun? Das Beste kommt doch noch? Nicht? Gibt's nicht noch eine wichtige Neuigkeit?«

»Ich weiß nichts weiter, Vater, was meinst du?«

»Ich will nichts ausplaudern, ihr werdet wohl morgen in der Schule hören, was ich zufällig schon heute erfuhr. Aber das kann ich dir sagen, du bist ein Glückskind, daß du gerade jetzt den ersten Platz bekommen hast.«

Auf diese geheimnisvolle Andeutung hin ging Gretchen am nächsten Morgen voll Erwartung in die Schule. Sie war kaum in das Schulhaus eingetreten, als ihr auch schon etwas Ungewohntes in die Augen fiel. An der Türe des Zeichensaales hing recht augenfällig eine große Tafel, auf der mit deutlicher Schrift geschrieben stand: Die Schülerinnen sämtlicher Klassen haben sich um zehn Uhr im Zeichensaal zu versammeln.

Mädchen aus allen Klassen umstanden die Tafel, und die verschiedensten Vermutungen wurden ausgesprochen. »Gewiß ist's wegen eines Schulspaziergangs,« sagte die eine, »wegen der Handarbeitsausstellung,« meinte eine andere, und eine dritte versicherte, sie wisse es ganz genau, das Hausmädchen von Fräulein von Zimmern habe sie alle verklagt, weil sie die Stiefel nicht abstreiften vor dem Schulhaus.

Von all dem glaubte Gretchen nichts, ihr Vater mußte von etwas anderem wissen. Es war auch etwas ganz anderes. Als um zehn Uhr die Schülerinnen versammelt waren – auch Lehrerinnen hatten sich eingefunden – trat Fräulein von Zimmern in den Saal. Die Neugierde der ganzen Versammlung war so groß, daß von selbst alles Geplauder verstummte und lautlose Stille eintrat. Gespannt waren die Blicke aller auf die Vorsteherin gerichtete, als diese sprach: »Ich habe gestern abend ein Schreiben bekommen aus dem Kabinett der Königin. Ihr wißt wohl alle, daß in unserem Königshaus große Freude herrscht, weil unserer Königin nach drei Prinzen eine Prinzessin geschenkt wurde. An dieser Freude sollen nun die Bewohner der Hauptstadt auch teilhaben, und darum hat Ihre Majestät die Königin beschlossen, ein Fest zu veranstalten zu Ehren der kleinen Prinzessin. Zu diesem Fest sind an sämtliche Mädchenschulen unserer Stadt Einladungen ergangen. Von jeder Klasse ist die erste Schülerin auf Donnerstag den zwanzigsten dieses Monats in das königliche Schloß eingeladen. Somit ist auch aus unserer Schule die Erste jeder Klasse geladen. Die anderen, die nicht eingeladen sind, sollen am zwanzigsten nachmittags schulfrei sein, und wenn es irgend möglich ist, soll ein Schulspaziergang mit ihnen unternommen werden. Das Schreiben ist von Ihrer Majestät der Königin eigenhändig unterschrieben.« Fräulein von Zimmern hielt es hoch, um es die Schülerinnen sehen zu lassen, dann sagte sie: »Ihr könnt nun alle den Saal verlassen, außer den Ersten der zehn Klassen, diese sollen zu mir kommen.« Nun war es mit der Stille vorbei, unter großer Unruhe leerte sich langsam der Saal.

Als Gretchen die Mitteilung vernommen hatte, war ihre erste Empfindung eine jubelnde Freude gewesen: Ja, sie war ein Glückskind! Zum erstenmal ist sie in dieser Schule die Erste, und gerade diesmal wird den Ersten eine Auszeichnung zuteil und eine solche! Eine Einladung in das Schloß, zum Prinzeßchen. Aber gleich kam eine schmerzliche Empfindung und verdrängte die Freude: Hermine ist ein Unglückskind! Wäre die Einladung auch nur ein paar Tage früher ergangen, so wäre sie unter den Geladenen gewesen! Gretchen wandte sich um, hinter ihr stand Hermine, ihre Blicke begegneten sich. Wohl war Hermine ein wenig erblaßt, und Tränen standen in ihren Augen, aber trotzdem nickte sie Gretchen freundlich zu. Ja, sie war eine selbstlose, treue Freundin, sie gönnte ihr das Glück, so durfte sich auch Gretchen freuen. Die zehn Mädchen, die in dem Saal zurückblieben, waren so verschieden in Alter und Größe wie nur möglich; aber alle waren sie gleich strahlend in freudiger Überraschung.

Als Fräulein von Zimmern allein war mit ihren Auserkorenen, teilte sie ihnen noch einiges Nähere mit. Dem Schreiben der Königin lag eine Anweisung bei, die besagte, daß die Schulvorsteher die Namen der geladenen Kinder mitteilen sollten, worauf für dieselben Einladungskarten folgen würden. Auch wegen der Kleidung war einiges bestimmt: Die Mädchen sollten in weißen Kleidern erscheinen, ohne Hüte, mit Blumenkränzchen.

Herr und Frau Reinwald hatten schon vorher von dieser Einladung gewußt und waren deshalb nicht mehr überrascht, als Gretchen ihnen dies alles mitteilte, aber um so mehr Staunen erregte ihre Botschaft bei Rudi und Betty. Eingeladen bei der Königin, das klang ja wie ein Märchen, und Gretchen stand vor den Augen der Kleinen wie eine verzauberte Prinzessin.

Frau Reinwald war bald darauf in der Bodenkammer zu sehen, wo sie Gretchens weißes Kleid hervorsuchte. Die kleine Betty war ihr gefolgt; denn alles, was mit dem Fest der Königin zusammenhing, war ihr hochwichtig. Frau Reinwald wandte das weiße Kleid hin und her und kam nicht recht zum Entschluß, ob es wohl für das Fest noch gut genug wäre. Die Kleine verfolgte alle ihre Bewegungen und las mit sorgenvollem Gesichtchen in den Mienen der Tante. Endlich griff sie mit ihren Fingerchen den feinen Stoff und sagte ernsthaft: »Tante, dein Gretchen zerreißt das Kleid, und die Königin sieht das Loch.«

»Du kleine Unglücksprophetin!« rief die Tante lächelnd. Aber die schwankende Wagschale hatte sich durch dies Kinderwort doch geneigt, Frau Reinwald legte das alte Kleid wieder an seinen Ort, nahm Betty bei der Hand und sagte: »Komm, wir gehen hinunter und kaufen ein neues Kleid, die Königin darf kein Loch sehen.« Und Betty durfte mit, als Frau Reinwald ging, um den Stoff zu kaufen und die Kleidermacherin zu bestellen.

»Mutter,« sagte Gretchen im Heimweg von diesem Ausgang, »ich muß doch geschwind zu Lene, kein Mensch freut sich so wie sie, wenn sie hört, daß ich die Erste geworden und zur Königin eingeladen bin.«

»Es ist wahr, das ist etwas für unsere Lene, gehe nur zu ihr, so etwas darf man der treuen Seele nicht vorenthalten.«

Lene war diesmal nicht allein, alle drei Buben waren daheim; schon vor der Türe hörte Gretchen sie lärmen und mußte bei sich denken: »Die Wilden sind noch immer nicht gezähmt.« Sie mochte sich nicht gerne vor so viel Zeugen ihres Glückes rühmen und fragte zunächst nur nach Lenes Ergehen. Aber Lene war damit gleich fertig, etwas anderes schien sie zu beschäftigen. »Gretchen,« sagte sie, »kannst du dir den Hofkutscher Plitt noch denken, der bei meiner Hochzeit war? Der ist ein alter Kamerad von meinem Mann und kommt oft mit ihm zusammen. Der hat uns erzählt von dem Fest, das die Königin gibt, du muht ja auch schon davon gehört haben, von eurer Schule müssen doch auch die Ersten eingeladen sein. Da gibt's eine großartige Bewirtung und Spiele und am Schluß wird die Prinzessin in ihrer goldenen Wiege gezeigt. O Gretchen, ich habe so an dich denken müssen, du bist doch meistens die Zweite und könntest längst die Erste sein, wenn du nur recht wolltest; aber schon von klein an hat's dir am rechten Ehrgeiz gefehlt und sieh, jetzt hättest du zur Königin kommen können!« Gretchen sah Lene mit strahlenden Augen an und sagte ganz einfach: »Ich bin ja die Erste.«

» Du bist die Erste? Ja, seit wann denn? Machst du keinen Spaß? Dann bist du eingeladen zum Fest, wirklich? Ja? Und da kommt sie so ruhig zur Türe herein und sagt: Grüß Gott, Lene, wie geht es dir? Buben, habt ihr's gehört? Mein Gretchen ist die Erste und ist zur Königin eingeladen!« Freilich hatten es die Buben gehört, längst waren sie nicht mehr die Wilden, ganz zahm standen sie da und horchten. Jetzt sprach der Große: »Ich hab' mir's schon ausgedacht, daß der Vater sie ins Schloß fahren muß, ich schreibe es ihm gleich in seinen Kalender, am zwanzigsten nachmittags.« »In der neuen Hochzeitskutsche,« rief der zweite, »das macht sich fein vor dem Schloß.« »Die wird der Vater nicht nehmen, für die rechnet er immer die doppelte Taxe.« »Die nimmt er, sage ich!« »Die nimmt er nicht.« Die Brüder gerieten in Streit. »Seid still, ihr Buben, und verderbt mir meine Freud' nicht,« rief Lene und nun erzählte sie ganz ausführlich alles, was der Hofkutscher Plitt gesagt hatte, erkundigte sich nach Gretchens Festkleid und war glücklich, als sie hörte, daß schon die Schneiderin bestellt sei, um ein ganz neues Kleid zu machen.

Gretchen ging sehr vergnügt heim, Lenes große Freude hatte ihr eigene Freude noch erhöht.

*

Es war fünf Tage vor dem Fest. Frau Reinwald richtete alles zu, was für die Kleidermacherin nötig war, die am nächsten Tag erwartet wurde. Gretchen sollte noch einige Besorgungen machen, die sie in die Nähe von Hermine führten, und sie wollte sie bitten, mit ihr zu gehen, wie das die Freundinnen im Brauch hatten. Sie traf Hermine nicht zu Hause, aber da diese jeden Augenblick heimkommen konnte, wollte Gretchen auf sie warten. Sie ging in das Wohnzimmer, wo Frau Braun und drei von Herminens Geschwistern sich aufhielten. Frau Braun begrüßte sie freundlich wie immer, hingegen nahm es sich wenig freundlich aus, daß Herminens dreizehnjähriger Bruder bei ihrem Eintritt vom Tisch aufstand und ohne Gruß das Zimmer verließ. Gretchen, die sich in diesem Familienkreis ganz daheim fühlte, fragte unbefangen: »Was hat denn Richard, warum läuft er hinaus, wenn ich komme?« »Ich weiß nicht, was ihm einfällt,« sagte Frau Braun und wollte das Gespräch auf etwas anderes bringen. Aber Otto, der jüngere Bruder, sagte: »Ich weiß wohl, was Richard hat, er ist bös auf Gretchen wegen der Einladung der Königin.« »Ist es ihm so leid, daß Hermine nicht hinkommt?« fragte Gretchen. »Ja, aber es ist kindisch und töricht von ihm, deshalb auf dich zu zürnen, du bist ja die ganz unschuldige Ursache. Man muß ihn damit entschuldigen, daß es ihm am meisten leid tut von uns allen.« »Papa tut's doch noch mehr leid,« entgegnete Otto.

»Aber Hermine selbst hat es doch so leicht verschmerzt,« sagte Gretchen.

»Meinst du, Kind?« fragte Frau Braun in schmerzlichem Ton. »Da irrst du dich. Hermine hat dich so lieb, daß sie sich vor dir beherrscht, weil sie dir die Freude nicht verderben will. So etwas verschmerzt sich überhaupt nie. Noch als altes Mütterlein wirst du dich deines Glückes rühmen und von dem Fest erzählen, das du mitmachen durftest, und sie wird in ihren alten Tagen noch von diesem Mißgeschick reden. Es ist ja auch bitter für sie, und daß es ihr Vater so schwer nimmt, macht es allerdings noch besonders schwer für uns alle.«

»Ja, und daß Richard immer behauptet, es sei ungerecht, weil Hermine bloß durch ihr Kranksein zurückgekommen sei, und weil Fräulein von Zimmern heuer die Probearbeiten früher machen ließ als sonst, gerade wie wenn sie gewollt hätte, daß es so kommt.«

»Das ist aber nicht wahr,« rief die kleine Mathilde, »wir haben die Arbeiten früher machen müssen, weil zwei Lehrer fortkommen.«

Gretchen hatte genug gehört. »Hermine bleibt mir doch zu lange aus, ich will jetzt gehen,« sagte sie.

»Es ist mir nicht recht,« sagte Frau Braun, »daß alles vor dir gesprochen wurde, es wird auch Hermine sehr leid sein. Nimm dir's nicht zu Herzen, du kannst ja gar nichts dafür. Wenn ich dich vorher nicht mehr sehe, so wünsche ich dir recht viel Vergnügen zu dem Fest, komm nur bald danach und erzähle uns.«

Die kleine Mathilde geleitete Gretchen hinaus, sie war sehr anhänglich an sie. »Mathilde,« sagte Gretchen zu ihr, »sage mir die Wahrheit, ist Hermine sehr traurig?« Die Kleine nickte nur mit ernsthaftem Gesichtchen.

Gretchen ging. Wo war auf einmal all ihre Freude hin? Ganz in Gedanken verloren wanderte sie durch die Straßen und machte ihre Besorgungen. Die Seide, die Atlasbändchen, die sie auswählen sollte, waren ihr so gleichgültig. Vor einer Stunde noch hatte sie sich gefreut, daß endlich ihr Festkleid gemacht werden sollte, jetzt mochte sie gar nicht daran denken. Eine ganze Familie war traurig geworden durch sie und nicht nur traurig für kurze Zeit, nein, Frau Braun sagte ja, Hermine würde noch als altes Mütterchen darum trauern. Das kam ihr gar schrecklich vor! Wie hatten ein paar Worte doch ihre ganze, große Freude zerstört! Am liebsten hätte sie jetzt noch zugunsten von Hermine auf ihre Einladung verzichtet, aber es ging ja nicht mehr. Der Vater würde sagen, das seien törichte und übertriebene Freundschaftsgefühle, die Mutter würde ihr vorstellen, daß alles schon eingekauft und für morgen die Näherin bestellt sei.

Wie zur Bestätigung dieser Gedanken trat ihr daheim Franziska mit den Worten entgegen: »Der Schuhmacher hat die Stiefelchen geschickt, sie sind hochfein, im Zimmer stehen sie.« Nein, es war zu spät, um zu verzichten. Sie wollte die Eltern gar nicht um die Erlaubnis bitten, ihre Mutter würde es nur betrüben, wenn sie hörte, was Brauns gesagt hatten. Sie wollte nicht auch der Mutter noch die Freude verderben, diesen Kummer wollte sie vor ihr verbergen.

Der Kinder Geplauder brachte sie über die nächste Stunde weg, aber nun mußten die Kleinen zu Bett, und dann kam der Vater zum Abendessen, sonst eine gemütliche Stunde, auf die sie sich aber heute fürchtete, denn es mußte die Rede auf das Fest kommen, und sie sollte davon sprechen wie früher und dachte doch ganz anders darüber.

Das Essen ging vorüber, Gretchen fühlte sich immer mehr bedrückt, sie war so gar nicht gewohnt, vor den Eltern ihre Empfindungen zu verschweigen. Eine Weile nach dem Essen zog Herr Reinwald seine Taschenuhr und sagte: »Ich habe heute noch einen Ausgang vor, auf neun Uhr habe ich mich mit einigen Herren zu einer Besprechung verabredet, Herr Braun ist auch dabei.«

»Herr Braun!« rief Gretchen, und auf einmal wurde der gute Vorsatz, zu schweigen, umgestoßen. »O Vater, Herr Braun ist so unglücklich, daß Hermine nicht zum Fest darf, und Frau Braun auch und alle Kinder, und sie meinen, Hermine würde es als altes Mütterchen noch nicht verschmerzt haben. Hätte ich das doch früher gewußt, dann hätte ich gesagt, sie soll statt meiner gehen, es wäre mir ja viel, viel lieber, denn ich kann mich gar nicht mehr darauf freuen, aber gelt, jetzt ist es viel zu spät?« Mit ängstlicher Spannung sah Gretchen auf den Vater. Und dieser?

Ganz ruhig wandte er sich zu seiner Frau und sagte: »Siehst du, es kommt ihr noch in der elften Stunde! Sie wäre ja nicht dein Kind, wenn sie nicht so dächte!« Und dann wandte er sich wieder zu Gretchen und sprach: »Du hast ganz recht, laß du nur Hermine Braun als Erste gelten.« Gretchen war über alle Maßen von dieser Antwort überrascht. Frau Reinwald sah es ihr an. »Du bist ganz erstaunt, nicht wahr. Der Vater und ich haben uns schon lange gewundert, daß du nicht daran denkst, zugunsten von Hermine zu verzichten; aber wir wollten dich nicht bestimmen, so ein Verzicht muß ganz freiwillig sein.«

»Ich habe ja bis heute nachmittag gar keine Ahnung davon gehabt, daß Brauns es so schwer nehmen, haben sie es denn euch gesagt?«

»Nein, aber wir kennen ja die Familie und wissen, daß ihnen so etwas viel wichtiger ist als uns.«

»O, wie bin ich froh,« jubelte Gretchen, »ich hätte gar nicht gedacht, daß ihr es jetzt noch erlaubt.«

»Geschickter wäre es allerdings gewesen, wenn sich dein Edelmut etwas früher gemeldet hätte,« sagte Herr Reinwald, »wie wollt ihr das nun einrichten mit eurer Schneiderin?«

»Brauns müßten eben den Kleiderstoff mitsamt der Schneiderin gleich morgen übernehmen, sie täten es natürlich auch gerne, wenn sie es nur schon wüßten.«

»Also dann mache dich rasch fertig, Gretchen,« sagte Herr Reinwald, »ich begleite dich hin, und du bringst dort die ganze Sache in Ordnung. Geht das?«

»Das geht, aber wer begleitet sie heim?«

»O, da sorge dich nicht, Mutter, da begleiten mich alle sechs Kinder heim, wenn ich will; oder ich schlafe bei Hermine, das wäre noch lustiger; o, laß mich dort schlafen, Mutter, bitte, sage ja, zum Ersatz, weil ich nicht zum Fest darf!«

Fünf Minuten später war Gretchen mit ihrem Nachtzeug unter dem Arm unterwegs. »Was soll ich machen, wenn sie es nicht annehmen wollen?« fragte Gretchen ihren Vater.

»Sie machen dir vermutlich keine großen Schwierigkeiten.«

»Die andern nicht, aber Hermine vielleicht.«

»Der sagst du, ihr müßtet euren Vätern gehorchen, und diese würden es heute abend so miteinander verabreden. Ich treffe Herrn Braun und werde ihm im Heimweg ein paar Worte über die Sache sagen.«

Gretchens erste Frage im Haus Braun war: »Ist Hermine noch auf?« und dann: »Ist Herr Braun schon ausgegangen?« und als das beides bejaht war, ging sie sehr befriedigt auf das Wohnzimmer zu. Hermine kam ihr unter der Türe entgegen: »Ich habe doch gleich deine Stimme erkannt,« sagte sie, »aber niemand wollte glauben, daß du so spät noch kommst.«

Gretchen trat ein. Die jüngsten Kinder waren schon zu Bett gebracht, die älteren und Frau Braun saßen gemütlich an dem großen, runden Tisch, und alle sahen sehr erstaunt auf den späten Gast. Richard wagte nicht, sich zum zweitenmal so unhöflich zu zeigen, doch sah er gleich wieder in sein Buch. »Was bringt dich denn so spät noch zu uns?« fragte Frau Braun, und alle warteten neugierig auf Gretchens Antwort. Wie sollte diese nun die Angelegenheit einleiten? Es war eigentlich eine unangenehme Sache. »Wie komisch, daß du so dastehst und nicht sagst, was du willst,« sagte Hermine.

Da lachte Gretchen, und die Kinder lachten mit; das Eis war gebrochen, Gretchen faßte Hermine, schüttelte sie und rief: »Kannst du's denn gar nicht erraten, weshalb ich komme? Du darfst zum Fest statt meiner! Ja, staune nur, es ist ganz gewiß; dein Vater und meiner, die machen es jetzt gerade miteinander aus, und wir beide müssen gehorsam sein, verstehst du? Ist dir's jetzt recht, daß ich so spät noch komme?« Hermine war diesmal nicht erblaßt, nein, dunkelrot wurde sie in freudiger Erregung, und alle Kinder drängten sich um die beiden Freundinnen.

Richard war der erste, der Worte fand: »Bravo, Gretchen, du sollst hochleben!« und Otto stimmte mit ein. Aber Hermine hatte sich jetzt gefaßt und sagte: »Seid doch still, das kann ich doch gar nicht annehmen!« Richard fiel ihr eifrig ins Wort: »Hermine, nur keine Umstände gemacht, es ist einfach dein gutes Recht, daß du zum Fest kommst, und du nimmst es an.« Frau Braun, die bei der Aufregung der Kinder noch gar nicht zu Wort gekommen war, entgegnete Richard sehr bestimmt: »Nein, ihr Recht ist's nicht, das Recht ist auf Gretchens Seite. Aber wir wollen jetzt nicht vom Recht reden, sondern von Freundschaft, und die Freundschaft kann man annehmen und kann sie auch vergelten durch ein ganzes Leben hindurch.« Bewegt zog sie Gretchen an sich und küßte sie. Auch Mathilde drängte sich zu ihr und sagte bittend: »Du bist doch nicht so traurig darüber, wie Hermine war?« Und Gretchen lachte sie freundlich an und sagte: »Sehe ich traurig aus?«

Frau Braun stellte noch manche Frage, aber sie machte sich keine Bedenken, das Opfer anzunehmen. Die ganze Familie war zu sehr unter dem Eindruck gestanden, daß durch einen glücklichen Zufall Gretchen genießen sollte, was Hermine durch jahrelange Arbeit verdient hätte.

Nun richtete Gretchen aus, was ihr Frau Reinwald wegen der Kleidermacherin und des Kleiderstoffs aufgetragen hatte, und während sie mit Frau Braun das alles besprach, stand Hermine wie in einem schönen Traum verloren neben ihr und hielt ihre Hand fest.

»Hast du denn dort etwa schon den Kleiderstoff mitgebracht?« fragte Frau Braun, auf Gretchens Päckchen deutend.

»Ach nein, das ist etwas ganz anderes, das ist meine Entschädigung dafür, daß ich nicht zum Fest darf.«

»Dann ist's gewiß etwas sehr Schönes? Dürfen wir es ansehen?« Gretchen lachte. »Ich will es lieber zuerst mit Hermine allein auspacken.« »So komm mit,« sagte Hermine und ging mit der Freundin hinaus ins Nebenzimmer. Sie sah zuerst ganz verständnislos auf das schlichte Nachtjäckchen, das aus dem Paket herauskam. Dann begriff sie und kehrte jubelnd zur Mutter zurück: »Gretchen darf bei uns übernachten, gelt, Mutter, sie darf?« Natürlich durfte sie! Noch ganz andere Dinge hätte sie heute von dieser Familie verlangen dürfen. Jedes der Kinder bot sein Bett an, alle Hände erklärten sich bereit, das Nötige für den unerwarteten Gast zu richten. Mathilde, die gewöhnlich bei Hermine schlief, durfte ihren Platz dem Gast einräumen, und nach einem herzlichen »Gute Nacht«, das ihr von allen Seiten geboten wurde, blieb Gretchen allein mit ihrer Freundin. Nun gab es ein langes, trauliches Plaudern. Hermine wollte alles wissen und erfuhr auch alles. Es fiel ihr nicht leicht, das Opfer von der Freundin anzunehmen, und so wollte sie genau erfahren, wie groß das Opfer für Gretchen war. »Eigentlich sind mir nur zwei Dinge wirklich leid,« antwortete Gretchen auf Herminens Fragen; »das eine, daß ich die kleine Prinzessin nicht zu sehen bekomme, und dann das andere, daß unsere Lene so bös auf mich sein wird. Daran mag ich gar nicht denken. Aber es ist ja auch nicht nötig, daß ich daran denke; ich will jetzt immer daran denken, wie du als altes Mütterchen bei deinen Urenkeln sitzt und ihnen von dem Fest erzählst.« »Von dir erzähle ich ihnen noch viel mehr,« sagte Hermine. Da klopfte Frau Braun an die Türe und rief: »Hört einmal, es ist bald elf Uhr. Von euren Urenkeln könntet ihr auch morgen noch sprechen, das eilt wohl nicht so sehr.«

Noch ein herzlicher Gute-Nachtkuß wurde gegeben und die beiden Freundinnen schliefen ein.

Am nächsten Tage klopfte Gretchen bei Fräulein von Zimmern an, denn ihr mußte doch die Verabredung mitgeteilt werden. Unterwegs hatte sie sich überlegt, wie sie die Sache kurz, ohne überflüssige Füllwörter, mitteilen wollte.

»Fräulein von Zimmern,«sagte sie, »mit Zustimmung unserer Eltern soll Hermine statt meiner zu dem Fest der Königin gehen. Erlauben Sie, daß ich meine Einladungskarte an Hermine abtrete?«

Fräulein von Zimmern überlegte eine Weile, dann sprach sie: »Eine Einladung, die von der Königin ausgeht, lehnt man nicht ab. Ich erhielt die Karten für die Ersten; du bist eingeladen, nicht Hermine.« Gretchen erschrak. Die Möglichkeit, daß Fräulein von Zimmern nicht einwilligen könnte, war ihr gar nicht in den Sinn gekommen; welch schreckliche Enttäuschung wäre das nun für Brauns! »Es war freundlich von dir gemeint, liebes Kind,« fuhr Fräulein von Zimmern fort, »und ich begreife, daß du der Freundin zuliebe verzichten möchtest, aber es wäre nicht richtig gehandelt. Hattest du mir sonst noch etwas zu sagen?« Gretchen war ganz bestürzt, das klang schon wie Entlassung! O, sie mußte erst noch viel sagen!

»Ich war gestern bei Brauns, sie waren alle so unglücklich, der Vater, die Mutter und sogar die Brüder. Sie nehmen es so schwer und meinen, Hermine könnte es ihr ganzes Leben lang nicht verschmerzen. Und so ist's bei meinen Eltern gar nicht, sie haben mir's augenblicklich erlaubt, daß ich mit Hermine tausche, ich könnte auch gar nicht vergnügt sein bei dem Fest; und wenn mich Hermine nicht immer so getrieben hätte, daß ich mehr lernen soll, so wäre ich gar nicht die Erste geworden.« Gretchen sprach immer rascher und eifriger, denn sie fürchtete, jeden Augenblick hinausgeschickt zu werden. »Ich habe auch so unerhörtes Glück gehabt bei den Probearbeiten. In der Geographie, bei den Nebenflüssen der Donau, hatte ich die Enns vergessen zu schreiben. Da höre ich, wie hinter mir eine andere fragt: ›Schreibt man die Enns mit zwei ›n‹?‹ Natürlich habe ich dann die Enns noch hineingeflickt.« – »Geflickt!!?«

»Geschrieben,« verbesserte Gretchen. »Wenn die Probearbeiten so spät gewesen wären wie sonst immer, dann wäre Hermine gewiß wieder die Erste geworden; seit sie gesund ist, holt sie ja alles Versäumte nach, und jetzt ist schon die Schneiderin bei Brauns und hat den Stoff verschnitten, für mich wäre Herminens Kleid viel zu kurz – o Fräulein von Zimmern! ...« Gretchen hielt ganz außer Atem mit diesen flehenden Worten inne.

»Das geht etwas bunt durcheinander bei dir, Gretchen! Die Enns und das kurze Kleid, aber ich habe dich doch verstanden. Ich werde es mir überlegen. Wenn ich es mit gutem Gewissen kann, dann werde ich deinen Wunsch erfüllen, aber auch nur dann. Heute nachmittag sollst du Antwort haben.«

Gretchen war nur halb beruhigt. Fräulein von Zimmern hatte die Erlaubnis von ihrem Gewissen abhängig gemacht; ach, das Gewissen von Fräulein von Zimmern war gar nicht zu berechnen!

In der Freiviertelstunde nahm Gretchen Hermine beiseite und erzählte ihr von der Unterredung. Arm in Arm wandelten die beiden miteinander, die gemeinsame Furcht und Hoffnung bewegte sie, noch nie hatten sie sich so lieb gehabt wie heute.

Und noch ein anderes Pärchen wandelte, mit derselben Angelegenheit beschäftigt, draußen im Schulhof auf und ab. Es war Mathilde Braun und Ruth. Sie waren sonst gute Freundinnen, aber jetzt hatten sie entgegengesetzte Ansichten. Mathilde war für ihre Schwester, Ruth für Gretchen, und die beiden stritten sich darüber, wer das beste Recht auf die Einladung zum Fest hätte. Wenn Ruth mit der Verteidigung Gretchens nicht mehr recht nachkam – denn sie war nicht so redegewandt wie Mathilde – dann seufzte sie nur und wiederholte immer wieder: »Ich hätte Fräulein Gretchen das schönste Rosenkränzchen zum Festschmuck bringen dürfen, Papa hatte es schon erlaubt« und Mathilde begriff dann, daß Ruth für Gretchen stimmen mußte.

Auch Fräulein von Zimmern bewegte die Angelegenheit nicht allein in ihrem Herzen. Sie suchte ihren treuen Berater, Pfarrer Kern, auf und berichtete ihm. »Es ist eine schwierige Frage,« schloß sie, »ob ich berechtigt bin, eine andere als die Erste zum Fest zuzulassen. Was sagen Sie dazu?«

»Was ich immer sage: Der Geist macht lebendig, der Buchstabe tötet. Im Geist der Königin ist es, eine Freudenfeier zu schaffen, ihr Glück andern mitzuteilen. In irgend einen Buchstaben mußte sie diesen Geist fassen. Liegt nun der Fall so wie bei unserer zehnten Klasse, so käme statt Freude und Glück nur Kummer und Unzufriedenheit heraus, wenn wir auf dem Buchstaben beharren wollten und sagen: die Erste ist geladen. Wäre das im Geiste der Königin gehandelt?«

Die Karte, die zur Beteiligung am Fest berechtigte, ging mit Zustimmung Fräulein von Zimmerns in Herminens Hände über, Gretchen hatte ihr Recht verloren.

Es war ihr auf dem Heimweg von der Schule doch eigentümlich zumute. Jetzt, da alles entschieden war, wurde sie sich erst bewußt, wie sie selbst sich seit vierzehn Tagen gefreut, auf dies Ereignis hin gelebt hatte und die Tage gezählt bis zu dem Vergnügen, das für sie in Nichts zerronnen war.

Und nun, da unser Gretchen in dieser trüben Stimmung heimkommt, wird sie von Franziska mit den Worten empfangen: »Lene ist da!« Franziska hatte freilich keine Ahnung, was sie damit sagte. Kaum hatte Gretchen diese Worte gehört, so machte sie »Kehrt« und stürmte die Treppe wieder hinunter. Franziska war ganz verblüfft über die Wirkung ihrer Worte. Sie trat ans Treppengeländer und rief der Fliehenden nach: »Fräulein Gretchen, Sie haben mich gewiß falsch verstanden, Ihre Lene ist's.« »Ich weiß schon, ich komme nicht eher wieder, als bis sie fort ist!« »Aber wenn ich ihr das sage!« »Sagen Sie's nur, sie begreift's. Ich gehe zu Hermine.« – Lene war gekommen, um sich Gretchens Festkleid anzusehen. Ihre Enttäuschung, als sie alles erfuhr, ging Frau Reinwald zu Herzen; sie nahm es der treuen Seele nicht übel, daß sie in ihrer Erregung manches nicht ganz höfliche Wort und manches unverständige hervorsprudelte. Von all den guten Gründen, die Frau Reinwald anführte, wollte Lene auch nicht einen gelten lassen; erst als Frau Reinwald sagte: »Lene, so ist eben unser Gretchen, so hast du sie immer lieb gehabt und so mußt du sie auch ferner lieb behalten,« da wurde Lene still, wischte sich eine Träne aus den Augen und sagte: »Ich möchte sie ja nicht anders haben!«


 << zurück weiter >>