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Sechstes Kapitel.
Lehrerin und Schülerin

Die kleine Ruth war und blieb ein verschlossenes Kind. Einmal hatte sie ihre Zuneigung zu Gretchen verraten, in der Aufregung mit der Ringelnatter; aber nachher war sie wieder so zurückhaltend wie vorher.

Das war für Gretchen eine Enttäuschung. Ihr war es Bedürfnis, die Menschen, mit denen sie zu tun hatte, zu lieben und von ihnen geliebt zu werden, sich ihnen mitzuteilen und auch ihr Vertrauen zu gewinnen; aber mit Ruth stand sie fast noch so wie am ersten Tag.

Heute war die Kleine noch matter als sonst; Gretchen wußte nicht, ob sie sich unwohl fühlte oder nur schlechter Laune war. Jedenfalls kamen die Antworten so langsam, so leise und spärlich, daß die Geduld der jungen Lehrerin auf eine harte Probe gestellt wurde. Zu der Aufgabe, die ihre kleine Schülerin zu lernen hatte, gehörten zehn neue Wörter. Diese wollte Gretchen nun abfragen, und während das Kind sonst seine Aufgaben immer gewissenhaft lernte, wußte sie heute die beiden ersten nicht, nach denen Gretchen fragte.

»Hast du denn deine Wörter heute nicht gelernt?« fragte sie. Die Kleine schwieg und ließ das Köpfchen hängen. Gretchen fragte das dritte Wort ab. Ruth wußte es so wenig wie die ersten. »Hast du sie diesmal vergessen zu lernen? Oder ist dir's nicht recht wohl?« – Keine Antwort.

»Hast du sie gestern gekonnt?« Auch nicht die geringste Antwort war herauszubringen. Das Kind blieb stumm. Da wird Gretchen von der Ungeduld übermannt: »So sei doch nicht so stockig und mockig,« ruft sie zornig, und ehe sich's die Kleine versieht, hat sie eine Ohrfeige an der rechten Backe, und zwar eine tüchtige; denn was Gretchen tut, tut sie immer kräftig! Der Erfolg ist auch augenfällig: das stille Kind bricht in Tränen aus und – es blutet aus der Nase! Im Augenblick sieht das ganze Gesichtchen entstellt aus, die Tränen, die glühende Backe und das fließende Blut – Gretchen ist entsetzt über das, was sie angerichtet hat; sie will die Kleine trösten und ihr helfen – da tritt Fräulein von Zimmern ein.

»Was ist geschehen?« fragte sie erschreckt – und Gretchen antwortete tief beschämt: »Ich habe ihr eine Ohrfeige gegeben, und jetzt blutet sie.« Fräulein von Zimmern sagte ruhig, aber mit einem Ton, der Unheil verhieß: »Schicke mir das Mädchen herauf mit kaltem Wasser und du warte drunten vor meinem Zimmer auf mich.«

Als Gretchen unten stand und wartete, war ihr unsäglich beklommen zumute. Wie hatte sie so etwas tun können? Wer ihr je gesagt hätte, daß sie das arme Tröpfchen schlagen würde! Es reute sie so bitterlich; aller Zorn gegen das Kind, das sie so gereizt hatte, war verflogen; aber mit sich selbst zürnte sie, wie noch nie. Lange, lange stand sie vor der Zimmertüre und wartete in wachsender Angst; denn sie dachte sich, daß Fräulein von Zimmern das Kind doch entlassen hätte, wenn das Nasenbluten gestillt wäre? Wenn Ruth krank würde, krank durch ihre Schuld? Da hörte sie droben eine Türe gehen und vernahm Fräulein von Zimmerns Stimme. In liebevollem Ton sprach sie: »Und nun geh' recht langsam heim, mein Kind, und erhitze dich nicht.« Die Kleine kam allein, langsam und leise die Treppe herunter. Sie blutete nicht mehr und sah wieder sauber aus, nur einige verräterische Spuren waren an dem Kleid zurückgeblieben. Ganz stille wäre sie an Gretchen vorbeigegangen, aber diese konnte sie so nicht ziehen lassen. Sie umschlang sie mit beiden Armen, küßte sie auf die geschlagene Backe und flüsterte ihr zu: »Weißt du, ich habe dich doch lieb, wenn ich dir auch weh getan habe!« Ein freundlicher Blick kam aus den Kinderaugen und es hatte fast den Anschein, als wollte auch ein Wort kommen; aber in diesem Augenblick hörte Gretchen die Tritte von Fräulein von Zimmern; rasch ließ sie die Kleine los, und bald stand sie in dem Zimmerchen, der Vorsteherin gegenüber, die noch nie so ungnädig auf sie geblickt hatte wie jetzt.

»Ich will nun ganz genau hören, was vorgefallen ist,« sprach Fräulein von Zimmern, und Gretchen erzählte den Hergang getreu und aufrichtig, wie es ihre Art war. Zuletzt bat sie um Verzeihung.

»Wenn nur mit dem Verzeihen alles wieder gut gemacht wäre,« entgegnete Fräulein von Zimmern, »dies ist aber hier nicht der Fall. Man kann nicht wissen, welchen Schaden das schwache Kind durch den Blutverlust erlitten hat; es sind mir Fälle bekannt, in denen Kinder durch einen unglücklichen Schlag das Gehör verloren oder eine Gehirnerschütterung erlitten haben. Es ist deshalb eine solche Strafe in allen Schulen verboten, und daß in meiner Schule überhaupt jede körperliche Züchtigung ausgeschlossen ist, das weißt du aus langjähriger Erfahrung. Nie hat ein bei mir angestellter Lehrer gegen diesen Grundsatz gehandelt; du bist es, die zum erstenmal meine Schule durch so etwas in schlechten Ruf bringt. Und wem gegenüber? Eltern gegenüber, die mir dies Kind als ein besonders zartes Pflänzchen ans Herz gelegt haben und denen ich mein Wort gab, daß alles geschehen würde, um das verschüchterte Kind durch Liebe zu gewinnen.« Gretchen fühlte sich tief unglücklich; nicht nur dem Kind hatte sie unrecht getan, auch der Vorsteherin, die sie so hoch verehrte, hatte sie Leid zugefügt. Aber war denn das nicht zu ändern, mußte denn Fräulein von Zimmern darunter leiden?

»Wenn Ruths Eltern erfahren, daß ich ganz allein schuld bin, und wenn man ihnen verspricht, daß künftig statt meiner eine andere die Nachhilfestunden geben wird, dann können sie doch nicht mit der Schule zürnen?«

»Natürlich werde ich ihnen mitteilen, wie sich die Sache zugetragen hat, und daß du ferner ihr Kind nicht mehr lehren wirst – denn dieses Recht hast du verwirkt. Aber so, wie ich die Leute kenne, werden sie in ihrer Entrüstung sofort das Kind aus der Schule nehmen.«

»O, ich will zu Ruths Mutter hingehen und mich entschuldigen!« rief Gretchen.

»Kennst du sie?«

»Nein, aber ich weiß, wo sie wohnt, ich gehe gleich heute abend noch hin, sogleich; ich sage, daß noch gar nie irgend ein Kind geschlagen worden ist in unserer Schule, und daß ich ganz allein die Schuld habe.«

»Die Schuld trifft mich doch mit, denn die Vorsteherin ist verantwortlich für die Lehrkräfte, die sie verwendet; ich hätte auch nie gedacht, daß du mit deinem liebevollen Herzen einem Kind wehe tun könntest, aber ich hätte es wissen sollen, denn du bist ungeduldig; ich hatte schon früher Gelegenheit, das zu bemerken.«

»Fräulein von Zimmern, bitte, lassen Sie mich zu Ruth gehen; ich kann es nicht ertragen, daß durch mich etwas auf die Schule kommt! Ich muß es wieder gut machen.«

»So versuche es; aber gehe zuerst zu deinen Eltern und sage es ihnen. Ich möchte dich ohne ihr Wissen nicht in ein fremdes Haus schicken.«

»O, die Eltern würden sofort sagen, ich solle mich entschuldigen; ich kann gut ohne ihr Wissen gehen. Aber freilich –« Gretchen stockte und errötete.

»Was ist's?«

»Mit den Schulhandschuhen kann ich nicht Besuch machen, sie sind zerrissen,« sagte Gretchen etwas verlegen.

»Das sollte nie sein, Gretchen; fünf ausgebesserte Finger an jedem Handschuh, wenn du willst, aber keinen zerrissenen.«

»Ich renne zu Hermine hinauf und lasse mir ihre Handschuhe leihen; die wohnt ja in der Nähe.«

»Nein, Kind, du gehst heim, wie ich gesagt habe; das Widersprechen ist eine unfeine Gewohnheit, die ich dir schon öfters getadelt habe. Und nun geh' zu deinen Eltern und laß dir von ihnen raten.«

Gretchen reichte Fräulein von Zimmern die Hand und sagte bewegt: »Bitte, verzeihen Sie mir doch, es ist mir ja so leid.«

»Das weiß ich, und ich verzeihe dir, mein Kind. Du hast einen sauren Gang vor dir, das wollen wir als Sühne betrachten.«

Gretchen eilte heim. »Ist die Mutter zu Hause und kein Besuch bei ihr?« fragte sie Franziska, die ihr die Türe öffnete.

»Sie ist zu Hause und ich darf auch keinen Besuch einlassen, weil Frau Reinwald heftiges Kopfweh hat.«

Dies war für Gretchen eine unwillkommene Mitteilung. Sie mochte die Mutter, wenn sie leidend war, nicht aufregen; aber dann blieb ihr nichts anderes übrig, als mit dem Vater zu sprechen.

Sie überlegte. Viel lieber hätte sie mit der Mutter gesprochen, aber nein, das ging nicht an; also nur keine Zeit verlieren. Sie überwand die Scheu und trat bei ihrem Vater ein. »Darf ich dich stören, Vater, ich habe eine schlimme Geschichte angestellt und ich möchte sie der Mutter ersparen, so lange sie Kopfweh hat.«

Herr Reinwald legte die Feder aus der Hand. »Was ist's?« fragte er.

Gretchen erzählte alles, der kleinen Ruth Benehmen, ihr eigenes, Fräulein von Zimmerns schreckliche Äußerungen über die möglichen schlimmen Folgen einer Ohrfeige und ihre Befürchtungen für den Ruf der Schule; zuletzt den Entschluß, Abbitte bei Ruths Eltern zu tun.

»Das letztere ist jedenfalls das beste, was in dieser Sache geschehen kann, und für meine ungestüme Tochter eine heilsame Buße,« sagte Herr Reinwald; »ich denke übrigens, daß damit die Sache auch beigelegt sein wird, Fräulein von Zimmern sieht wohl zu schwarz.«

»Meinst du? O Vater, so schrecklich mir's ist, daß ich als Lehrerin so abgesetzt werde, und daß auf die Schule ein schlechtes Licht fällt, so ist es mir doch noch viel, viel ärger, wenn ich denke, daß die Kleine vielleicht einen dauernden Schaden erlitten hat, taub wird, oder so etwas!«

»Nun, nun, so schlimm ist die Sache nicht! Die Fälle sind doch gottlob selten! Die Kinder sind im allgemeinen so eingerichtet, daß ihnen eine Ohrfeige mehr gut tut als schadet.« Diese Worte beruhigten Gretchen etwas.

Herr Reinwald sah auf seine Uhr. »Wenn du jetzt gleich gehst, wirst du die Mutter des Kindes vermutlich allein treffen. Der Vater ist nämlich bis sechs Uhr auf seiner Kanzlei, und ich denke mir, es ist dir lieber, wenn du nur mit der Mutter zu tun hast.«

»Kennst du denn die Eltern, Vater?« fragte Gretchen erstaunt.

»Nicht persönlich, ich habe nur von ihnen reden hören. Er ist erst dieses Jahr als Forstrat hiehergekommen, muß ein sehr tüchtiger Beamter sein, aber ein wenig heftig. Besser ist's, du sprichst bloß mit der Frau. Er wird von der Angelegenheit wohl noch gar nichts wissen; kommt er dann heute abend zu seiner Familie, so wird die Frau dich wohl entschuldigen.«

Gretchen war gerührt, daß der Vater ihr die Sache so erleichtern wollte. Sie küßte ihn und dankte ihm. Als Herr Reinwald allein war, schritt er in seinem Zimmer auf und ab: »Daß ihr auch gerade mit dem Kind dieser Leute so etwas vorkommen muß! Der Forstrat, der Hitzkopf, wird nicht übel aufbrausen! Aber Gretchen ist auch ein Hitzkopf! Wie konnte es ihr nur so gleich in die Hand fahren, daß sie dem Kinde einen solchen Treff gibt! Schön ist's aber, daß sie so tapfer geht, Abbitte zu tun; ich möchte es ihr gönnen, daß der Alte nicht da wäre!«

»Franziska,« sagte Gretchen, während sie gute Handschuhe anzog, »wenn die Mutter nach mir fragt, so sagen Sie ihr, ich müsse geschwind noch zu der kleinen Ruth gehen.«

»Ja, ich muß aber später auch noch fort, den großen Pack dort auf die Post schleppen!«

»O Franziska, ich wollte lieber zehn solche Päcke forttragen, als den Gang machen, den ich machen muß!« rief Gretchen im Fortgehen, und Franziska sah verwundert ihrem jungen Fräulein nach.

Gretchen hatte einen weiten Weg zu machen bis zu dem Hause des Forstrats, und sie eilte so sehr sie konnte, denn um sechs Uhr wollte sie wieder auf dem Heimweg sein. Als sie ihr Ziel erreicht hatte und in das fremde Haus eintrat, klopfte ihr doch das Herz, und leise huschte sie an der Türe des ersten Stockwerkes vorbei, die die Aufschrift trug: »Kanzlei«. Sie folgte der gemalten Hand, die nach der oberen Treppe zur Wohnung des Forstrats wies. Einen Augenblick hielt sie inne, ehe sie auf die Klingel drückte. »In einer Viertelstunde ist's überstanden,« sagte sie sich, und nun drückte sie herzhaft auf den Knopf. Einen Augenblick später stand sie im Besuchzimmer und stellte sich der Frau Forstrat vor.

Diese war eine auffallende Erscheinung, eine große, hagere Gestalt mit blassem, krankhaftem Gesicht, in das schwarze Haare ungeordnet hereinfielen. Die dunklen Augen blickten unstät, die Hände waren fortwährend in zitternder Bewegung. Gretchen war sehr betroffen über diese ungewohnte Erscheinung, sie faßte sich aber und begann die kleine Rede, die sie sich unterwegs überlegt hatte. »Frau Forstrat,« sagte sie, »ich möchte Sie um Verzeihung bitten, daß ich heute Ihre Ruth so unfreundlich behandelt habe, und Fräulein von Zimmern läßt Ihnen sagen, daß so etwas nie mehr vorkommen wird, und daß Ruth künftig nicht mehr von mir, sondern von einem anderen Mädchen Stunden bekommen wird.«

»Ach Fräulein, das war heute nachmittag eine Aufregung!« begann die Frau Forstrat. »Wie das Kind heimkommt und ich die Blutflecken sehe und auch merke, daß die Kleine verstört ist, frage ich sie aus. Sie hat's nicht sagen wollen, ich habe alles erraten müssen; endlich, wie ich's heraus habe, nehme ich sie an der Hand und ziehe sie mir nach, hinunter in die Kanzlei, und sage zu meinem Mann: ›Da siehst du, wie man unser Kind behandelt; blutig geschlagen haben sie das arme Ding in der Schule, weil's ein paar Wörtchen nicht gekonnt hat! Da sieh, wie sie verschwollene Augen hat vor Weinen!‹ Nun hätten Sie aber meinen Mann sehen sollen in seinem Zorn! Nur die drei Worte hat er hervorgestoßen: ›Wer hat's getan?‹ aber so laut, daß die Kleine gleich wieder angefangen hat zu weinen vor Angst. ›Die französische Lehrerin,‹ sagte ich, und ich wollte noch mehr sagen, aber er hat uns hinausgetrieben, wir konnten nicht schnell genug aus der Türe kommen. Der Kleinen aber hat er noch zugerufen: ›Du mußt nie mehr in die Schule zu Fräulein von Zimmern.‹«

»Ich glaube,« sagte Gretchen, »daß sich's Herr Forstrat nach Ihrer Beschreibung viel schlimmer vorstellt, als es in Wirklichkeit war –«

»Ja, nicht wahr? Das glaube ich auch. Er sollte das Kind auch nicht gleich aus der Schule nehmen, es gibt ja hier doch keine bessere.«

»O bitte, Frau Forstrat, legen Sie doch ein gutes Wort ein bei Ihrem Mann.«

»Ich? Was meinen Sie, da darf ich nicht dreinreden, er hat auch gewiß schon an Fräulein von Zimmern geschrieben, das dürfen Sie glauben. Er hat das Kind gar lieb, wenn er es auch oft erschreckt durch seine Heftigkeit, und er verzeiht's nicht, wenn man dem Kind etwas tut.«

Eine große Wanduhr schlug im Nebenzimmer sechs Uhr. Gretchen erschrak. Jeden Augenblick konnte der Forstrat kommen. Sie erhob sich mit dem traurigen Gefühl, gar nichts erreicht zu haben. »Ich muß jetzt gehen,« sagte sie. »Wollen Sie mir verzeihen und mich bei Herrn Forstrat entschuldigen?«

»Ich kann von dieser Sache nicht mehr reden,« antwortete die Frau Forstrat, »und Ihnen möchte ich raten, daß Sie fortgehen, ehe mein Mann von der Kanzlei heraufkommt.«

Da sagte Gretchen kein Wort mehr, verbeugte sich und ging. Als sich die Treppentüre hinter ihr geschlossen hatte, fühlte sie sich viel unglücklicher als eine Viertelstunde vorher. Sie hatte gar nichts ausgerichtet bei dieser Frau, und so, wie diese ihrem Mann die Sache dargestellt hatte, mußte er natürlich aufgebracht sein gegen die Schule. Er würde sein Kind herausnehmen, und so würde Fräulein von Zimmern Ärger und Schande haben durch ihre Schuld.

Bekümmert ging Gretchen die Treppe hinunter. Als sie an der Kanzlei im ersten Stock vorbeikam, ging eben die Türe auf und zwei junge Leute, die wohl als Schreiber beschäftigt waren, kamen heraus und gingen die Treppe hinunter. Durch den Türspalt hatte sie einen großen, stattlichen Herrn gesehen – das mußte der Forstrat sein, der nur noch allein in seiner Kanzlei war. Gretchen ging die Treppe hinunter, aber nur zwei Stufen, dann blieb sie stehen, denn auf einmal wurde es ihr klar: »Ich muß zu dem Mann hinein, ich kann's nicht ertragen, daß er so falsch denkt über Fräulein von Zimmern. Wenn er auch zornig ist über mich, was macht's? Höchstens bekomme ich auch eine Ohrfeige, wie seine Ruth von mir, dann sind wir quitt!« Ohne weiter zu überlegen, kehrte Gretchen um, klopfte an der Kanzleitüre und trat ein. Das erste, was sie bemerkte, war, daß der Forstrat doch nicht allein war; ein junger Bursch stand schreibend an einem Pult. Das war Gretchen eine unangenehme Entdeckung, aber jetzt konnte sie nicht mehr zurück. Sie ging auf den Herrn zu, der sich nach ihr umwandte, und sagte deutlich, aber mit einer Stimme, die doch leise bebte: »Ich möchte Sie um Verzeihung bitten, weil ich heute in der Schule gegen die kleine Ruth so unfreundlich war.«

Bild: Cora Lauzil

Der Mann hatte kaum diese Worte gehört, als sich seine Stirn in finstere Falten zog. Er wandte sich zu dem jungen Schreiber. »Machen Sie Schluß!« rief er. Der legte sofort seine Feder weg, ging aber nicht auf die Türe zu, sondern nach einem andern Pult, auf dem einige geschlossene Briefe lagen. Ungeduldig fuhr ihn der alte Herr an: »Wird's bald?«

»Soll ich nicht die Briefe –«

Da unterbrach ihn der Forstrat und donnerte ihn an: »Nichts sollen Sie, fort sollen Sie, Schluß!« Der junge Mann riß seinen Mantel vom Nagel, gönnte sich aber nicht mehr die Zeit, ihn anzuziehen, sondern drückte sich eilends zur Türe hinaus.

Inzwischen hatte Gretchen sich überlegt, was sie sagen wollte: nur vor allem das, was zu Fräulein von Zimmerns Rechtfertigung nötig war; wenn sie nur das sagen konnte, ehe vielleicht ihr, wie dem unschuldigen Schreiber, die Türe gewiesen wurde! Herzhaft redete sie den Forstrat an: »Ich gehe gleich wieder, aber ich muß Ihnen sagen, daß Fräulein von Zimmern ganz und gar nichts für das kann, was heute vorgefallen ist. Sie hat mir gleich gesagt, wie arg es ihr sei, und daß ich künftig die Stunden nicht mehr geben darf.«

»So?« rief der Forstrat, »wenn Fräulein von Zimmern so etwas ›arg‹ ist, warum stellt sie dann solche Mädchen als Lehrerinnen an, wie Sie, die selbst noch halbe Kinder sind? Ist das auch in der Ordnung und erlaubt?«

Er trat dicht vor Gretchen hin und rief immer lauter: »Wie alt sind Sie eigentlich? Haben Sie überhaupt schon Ihr Examen bestanden? Können Sie sich vor einer Klasse Respekt verschaffen? Haben Sie das Recht, zu lehren? Das ist die heillose Sucht der jungen Mädchen heutzutage, daß sie Geld verdienen wollen, wenn sie kaum aus der Schule entlassen sind! Wenn dann so einer jungen Lehrerin die Sache zu schwierig wird, dann reißt ihr die Geduld und die Kinder werden blutig geschlagen, wie das meinige heute. Das könnte Fräulein von Zimmern wissen, sagen Sie ihr das!« Ungestüm lief der erregte Mann im Zimmer auf und ab, während er so seinem Zorn Luft machte.

Gretchen war ganz bestürzt über all die Vorwürfe, aber sie faßte sich schnell und sagte: »Ich habe das Kind nicht blutig geschlagen, ich habe ihm in der Ungeduld, weil es durchaus nicht Ja und nicht Nein geantwortet hat, einen einzigen Schlag auf die Backe gegeben und dann hat die Kleine Nasenbluten bekommen. Fragen Sie nur Ruth, sie wird Ihnen sagen, daß es so war.«

Der Forstrat hatte bei den letzten Worten seinen Marsch eingestellt und machte Halt vor Gretchen. »Nasenbluten, sagen Sie? War's so? Ja? Dann hat man mir ganz falsch erzählt!«

»Ja, und es ist auch falsch, wenn Sie meinen, ich sei eine Lehrerin und werde bezahlt. Ich gehe doch selbst noch in die Schule, in die Oberklasse; ich gab nur Ruth die Nachhilfestunden, und von jetzt an darf ich das auch nicht mehr.«

»Sind Sie denn nicht die französische Lehrerin, Fräulein Bertrand?«

»Nein, o nein,« rief Gretchen, »Fräulein Bertrand ist eine rechte Lehrerin, ganz, ganz anders als ich! Ich bin bloß Gretchen Reinwald.«

»Sie sind Gretchen Reinwald?« rief der Forstrat mit ganz verändertem, heiterem Ton. »Dann sind Sie das Mädchen, das umsonst meiner Kleinen seit einem Vierteljahr nachhilft? Dann sind Sie die Heldin, die die Schlangen fängt, von der meine Kleine alle Tage so schwärmt? Die sind Sie?« – Gretchen lachte.

»Alle Wetter, das ist was ganz anderes! Dann tut es mir leid, daß ich Sie so hart angelassen habe,« sagte der Forstrat und schüttelte Gretchen herzlich die Hand. »Ihnen verzeihe ich gerne, wenn Sie einmal ungeduldig geworden sind! Wegen einer Unfreundlichkeit werde ich doch nicht die viele Freundlichkeit vergessen, die Sie meinem Kinde schon erwiesen haben! Sie hängt mit ihrem ganzen Herzen an Ihnen, sie hat es Ihnen gewiß schon oft gesagt.«

»O nein, Herr Forstrat, sie sagt eben gar so wenig, und das hat mich heute auch so in Verzweiflung gebracht; sie war so stumm, kein Wort konnte ich aus ihr herausbringen.«

»Ja, ja,« sagte der Forstrat zustimmend, »so ist unsere Kleine, herzensgut, aber ängstlich. Das können Sie natürlich nicht begreifen, aber Sie sind auch bei anderen Eltern aufgewachsen.«

»Kennen Sie meine Eltern?«

»Nein, aber ich weiß es doch. Wer so herzhaft zu einem fremden Mann aufs Zimmer kommt, und sagt: Ich hab's getan und bitte um Verzeihung, der ist anders geleitet worden als mein armes, schüchternes Dinglein! Es ist vieles bei uns nicht so, wie es sein sollte – doch ich kann darüber mit Ihnen noch nicht sprechen. Sie sind noch zu jung, aber,« fügte er sehr freundlich hinzu, »doch schon so groß, daß ich Sie zu Ihrem Schaden für Ruths Klassenlehrerin gehalten habe.«

»Darf ich Fräulein von Zimmern sagen, daß Sie nicht böse auf sie sind, weil sie doch so gar nichts dafür kann?«

»Tausend noch einmal, das ist jetzt eine dumme Geschichte!« rief der Forstrat. »An Fräulein von Zimmern habe ich gleich im ersten Zorn geschrieben, und der Brief ist schon fort!«

»Vielleicht liegt er doch noch dort?« fragte Gretchen und deutete auf den Pult, denn sie hatte wohl bemerkt, daß der junge Schreiber vor seinem Weggehen die Postsachen mitnehmen wollte, wozu ihm der Forstrat nicht Zeit gelassen hatte.

»Wirklich, ja, da sind sie,« rief er vergnügt, »da will ich nur den gleich beiseite schaffen,« und Gretchen sah mit innigem Vergnügen, wie ein an Fräulein von Zimmern gerichtetes Schreiben zerrissen und in den Ofen geworfen wurde. Sie sah mit strahlendem Gesicht zu, und der Forstrat, als er sich unvermutet nach ihr umwandte und ihr vergnügtes Gesicht sah, lachte und rief: »Das freut jetzt das Gretchen Reinwald, nicht wahr? Nun ist die Sache wieder gut!«

»Ja, wenn es nur ganz gewiß der Kleinen nicht geschadet hat,« sagte Gretchen, »Fräulein von Zimmern hat mir so angst gemacht!«

»Darüber machen Sie sich keine Sorgen; Nasenbluten bekommt meine kleine Ruth oft und Ohrfeigen manchmal. Nein, darüber brauchen Sie sich nicht zu beunruhigen.«

Gretchen ging, vom Forstrat aufs freundlichste verabschiedet. Als sie vor der Kanzleitüre war, kam eben die Frau Forstrat die Treppe herunter. Sobald sie bemerkte, daß Gretchen aus der Kanzlei kam, rief sie in förmlicher Bestürzung: »Um aller Heiligen willen, Fräulein, wo kommen denn Sie her?« Und mit heller, fröhlicher Stimme ertönte die Antwort: »Vom Herrn Forstrat!« Und nicht wie eine Lehrerin, sondern recht wie ein Schulkind, das nach langem Zwang der Freiheit wieder zueilt, sprang Gretchen die Treppe hinunter und fröhlichen Laufes heim, heim zu den lieben, treubesorgten Eltern.


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