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Viertes Kapitel.
Die Ringelnatter

Die Schule ging ihren regelmäßigen Gang. Gearbeitet mußte tüchtig werden in der Schule von Fräulein von Zimmern, denn es wurden hohe Ansprüche an die Oberklasse gemacht; aber das hübsche Schulzimmer übte eine große Anziehungskraft, und es war ein eifriges Treiben an dem langen, grünen Tisch. Um zehn Uhr, wenn eine Glocke das Zeichen gab, daß die Jugend ein freies Viertelstündchen im Hof zubringen durfte, hatten die »Großen« allein das Recht, im Haus zu bleiben, und ungestört von der großen Menge der jüngeren Schülerinnen machten sie Spiele auf dem langen Gang des oberen Stockwerks oder setzten sich gruppenweise zusammen auf den Treppenstufen und plauderten. Meistens ging es lustig zu, manchmal gab es auch Ärgernis: wenn Elise Schönlein, die nicht sehr stark war im Lernen, die Pause benützen wollte, um sich gute Gedanken für den Aufsatz oder sonstige Arbeiten geben zu lassen, und wenn Ottilie, die ihr solche Hilfe nicht gönnte, sie irre führte oder sie verhöhnte.

Heute waren die Mädchen mit ihren Gedanken noch bei der Literaturstunde und Hermine schlug vor, sie wollten sich einander Stellen aus Dichterwerken aufgeben und erraten, aus welchem Stück sie seien. Das Spiel war bald im Gang. Aber auch eine andere Klasse war heute, unbefugter Weise, nicht ins Freie hinausgegangen, es war die dritte, in der die kleine Ruth war, und zu der auch Mathilde Braun gehörte. Die Kinder hatten eben Naturgeschichte gehabt, und ihr Lehrer hatte etwas Seltenes mitgebracht: eine lebende Ringelnatter. Sie lag in einem großen Glasbehälter, dessen Boden mit Sand bestreut war. Das Glas war oben mit einem tüllartigen Stoff zugebunden. Der Lehrer hatte den Kindern die Natter gezeigt und ihnen vieles über ihre Eigenart mitgeteilt. Nach der Stunde hatte er den Behälter auf einen Seitentisch gestellt, bis er ihn abholen lassen würde. Als der Lehrer fort war, wollten die Kinder die Natter noch besehen und drängten sich alle um den Tisch. Da nun eins dem andern den Anblick versperrte, erklärte eine wilde kleine Hummel: »Ich weiß den besten Platz!« Sie erkletterte den Tisch und setzte sich neben den Glaskasten. Sie beschaute ihn noch eine Weile, das Tier lag aber wie leblos in seinem Kasten, und so wurde es den Kindern endlich langweilig, auch erinnerten sie sich, daß sie eigentlich ins Freie gehen sollten. So entfernte sich eine nach der andern.

»Hilf mir auch herunter, daß der Tisch nicht knappt«, rief die Kleine, die droben saß, Mathilde Braun zu. Der Tisch knappte aber doch, trotz der Hilfe, er neigte sich, Kind und Glasbehälter kamen gleichzeitig auf dem Boden an. Das Glas zerbrach, und die Natter, die so leblos geschienen hatte, ringelte sich mit äußerster Geschwindigkeit durchs ganze Zimmer hindurch bis in die hinterste Ecke, wo ein Schirmständer stand. Hinter diesem verschwand sie. Die Kinder erhoben in ihrem Schrecken ein furchtbares Geschrei, so daß im Nu auch Schülerinnen anderer Klassen herbeiliefen, und das Zimmer wäre gleich überfüllt gewesen, wenn sich nicht viele gescheut hätten, einzutreten, als sie hörten, daß die Natter frei sei. Es war ein unerhörtes Durcheinander, ein Schreien, Weinen, Erzählen, das aber plötzlich verstummte, als Fräulein von Zimmern erschien.

Sie fragte nicht, »was ist geschehen,« denn sie kannte die junge Welt und wußte, daß dann zwanzig Stimmen zugleich antworten würden und sie nachher nicht klüger als vorher wäre. Sie rief den Kindern zu: »Wer mir genau erzählen kann, was geschehen ist, soll den Finger aufheben.«

Mathilde Braun hob den Finger, und von ihr ließ sich nun Fräulein von Zimmern berichten, was geschehen war. Sie ging nach der Stelle, die ihr die Kinder bezeichneten, und sah hinter dem Schirmständer im dunklen Eck eine zusammengerollte, dunkelblaue Masse.

»Wißt ihr gewiß, daß euer Lehrer die Schlange eine Ringelnatter genannt hat?« fragte Fräulein von Zimmern. Einstimmig wurde diese Frage bejaht.

»Dann ist es ein ganz unschädliches Tier, das man ruhig mit der Hand anfassen darf,« entschied Fräulein von Zimmern.

»Ja,« bestätigten die Kinder, »wir haben es heute schreiben müssen: Die Ringelnatter ist ein gutartiges Tier, sie ist blauschwarz mit gelben oder weißen Flecken am Kopf, kann eineinhalb Meter lang werden und nährt sich von –« »Genug,« unterbrach Fräulein von Zimmern, »es handelt sich nur darum, das Tier einzufangen. Mathilde, rufe das Dienstmädchen herbei, und sage ihr, daß sie einen Deckelkorb mitbringe.«

Das Mädchen erschien mit dem Korbe, aber sie stellte sich sehr ungeschickt an, als ihr der Auftrag wurde, die Natter einzufangen. Sie erklärte sich bereit, das Tier totzuschlagen, aber nicht, es mit den Händen zu greifen. Was wollte die Vorsteherin dagegen sagen? Sie konnte von andern nicht fordern, was sie selbst sich nicht zutraute, und sie wußte sich keinen Rat. Da trat aus der ängstlich an der Türe stehenden Gruppe der Schülerinnen Mathilde Braun hervor und sagte: »Fräulein von Zimmern, ich weiß jemand, der Würmer und Salamander und Blindschleichen anfassen kann, und vielleicht auch Ringelnattern.«

»Wen meinst du?«

»Gretchen Reinwald. Im Sommer, wie wir miteinander auf dem Lande waren, hat sie immer eine Menagerie gehabt von solchen Tieren; ich glaube, sie fürchtet sich vor keinem!«

»Schnell, gehe hinauf und hole sie herunter.«

Mathilde mit großem Gefolge sprang die Treppen hinauf bis in den obersten Stock, wo die Großen ahnungslos beisammen saßen und auf die Nachricht von dem aufregenden Ereignis sofort heruntereilten, ehe sie nur recht gehört hatten, warum nach ihnen geschickt worden war.

»Gretchen,« redete Fräulein von Zimmern die Gerufene an, »es handelt sich darum, die Ringelnatter, die dort in der Ecke liegt, zu fangen und in den Korb zu bringen. Es ist ein vollkommen unschädliches, harmloses Tier, und die Scheu, die wir davor haben, ist töricht und grundlos. Traust du dir zu, die Natter zu greifen?«

Gespannt sah die ganze Versammlung auf Gretchen und erwartete die Antwort.

»Ich mag alle Tiere gern und fasse sie auch an,« sagte Gretchen, »aber ob ich sie gleich erwische, weiß ich nicht gewiß, sie sind so flink.«

»Versuch es,« sagte Fräulein von Zimmern.

In diesem Augenblick erhob sich ein klägliches Stimmchen und rief unter Schluchzen: »Warum denn gerade mein Fräulein? Es soll's jemand anders tun, nicht mein Fräulein!« Es war die kleine Ruth, die in ihrer Herzensangst ihre sonstige Schüchternheit vergessen und diese Worte laut gerufen hatte. Gretchen, ganz gerührt von diesem unwillkürlichen Ausdruck der Liebe ihrer kleinen Schülerin, ging auf sie zu, herzte sie und beruhigte sie über das gefahrlose Unternehmen. Fräulein von Zimmern aber befahl nun allen Kindern, hinauszugehen. Ungern genug gehorchten diese. Die Türe wurde geschlossen und die Vorsteherin blieb allein mit Gretchen.

»Du mußt die Schlange möglichst nahe am Kopf fassen,« sagte sie, »aber warte noch ein wenig, ich will dir einen dicken Handschuh holen, damit du besser geschützt bist.«

»O bitte, lieber nicht,« sagte Gretchen, »ich bin vielleicht geschickter ohne Handschuhe, und sie beißt mich gewiß nicht, ich tue ihr ja auch nichts.«

Gretchen ging zu dem Schirmständer, hinter dem das harmlose Tier sich ängstlich versteckt hielt, während es doch andern Angst einjagte. Sowie Gretchen die Hand darnach ausstreckte, ahnte es die Gefahr und ringelte sich rasch an dem Schirmständer in die Höhe. Dort schien es unschlüssig, wohin es sich flüchten solle; den Augenblick benützte Gretchen und griff das Tier fest mit der Hand. »So, jetzt haben wir dich,« sagte Gretchen befriedigt, »ach, wie es Angst hat, sehen Sie nur, Fräulein von Zimmern, wie es zappelt!«

»Nur rasch in den Korb damit,« rief Fräulein von Zimmern, die nicht, wie Gretchen, Lust zu haben schien, die Schlange erst noch in ihren Gemütsbewegungen zu betrachten. Gretchen mußte das Tier, das sich ihr um den Arm geschlungen hatte, erst losmachen; als sie es aber in den Korb legte, in den Sand gestreut war, verkroch es sich sofort in denselben und blieb ganz ruhig, es dünkte ihm wohl ein sicherer Schlupfwinkel. Der Deckel wurde sorgfältig geschlossen, und nun war das Werk gelungen.

»Jetzt aber schnell aus dem Hause mit dem Tier, ich will nicht länger damit zu tun haben,« rief Fräulein von Zimmern, und das Dienstmädchen, nachdem es ängstlich nachgesehen hatte, ob auch nirgends eine Öffnung sei, durch die die Schlange entwischen könnte, verstand sich dazu, den Korb in das Haus des Lehrers zu tragen, während die Kleine, die das Unheil verschuldet hatte, die Trümmer des Glaskastens mit heimnehmen mußte, um einen neuen zum Ersatz zu besorgen. Als aber alles wieder in Ordnung war und die ungebührlich lange Freiviertelstunde ihr Ende gefunden hatte, als auch das Klassenzimmer wieder von Sand und Glassplittern gesäubert war, nahm Fräulein von Zimmern die kleine Ruth mit sich heraus und besprach etwas leise mit ihr, wobei die Augen der Kleinen glänzten.

Es war wieder Ruhe im Schulhaus und alles ging seinen gewohnten Gang. Aber um zwölf Uhr, als die Arbeitslehrerin eben die Großen verlassen hatte, schlüpfte eine kleine Gestalt durch die Türe herein in die Klasse der Großen, es war Ruth. Sie überreichte Gretchen ein blühendes Rosenstöckchen und richtete unter schüchternem Erröten aus: »Das schickt Fräulein von Zimmern ihrem tapferen Gretchen zum Dank!«

Gretchen kam hocherfreut heim, eine solche Anerkennung von der Vorsteherin war ihr in all ihren Schuljahren noch nie vorgekommen.

»Es war heute überhaupt ein glücklicher Schultag,« sagte Gretchen zu den Eltern, »ich habe in der Arbeitsstunde den schrecklich langen Hohlsaum fertig gebracht, dafür hätte ich wohl eher ein Rosenstöckchen verdient, ich will doch viel lieber mit Schlangen als mit Hohlsäumen zu tun haben!«


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