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Neuntes Kapitel.
Schwierigkeiten

Gretchen hatte scherzhaft an Hermine geschrieben, sie habe angefangen, Spanisch zu lernen, und sie wolle ihr nur mitteilen, daß man C ordova aussprechen müsse und nicht Cord ova. Sofort kam als Antwort auf ihren Brief ein von Herminens Hand überschriebenes Paketchen, und als Gretchen es sehr begierig öffnete, fiel ihr entgegen, was sie am wenigsten erwartet und gar nicht begehrt hatte: ihre englische Grammatik. Aber ein langer, liebevoller Brief der Freundin entschädigte sie für die Enttäuschung. Hermine legte Gretchen ans Herz, sie möge doch über dem Studium des Spanischen nicht die Schulfächer versäumen, sie würde sonst gewiß ihren zweiten Platz nicht behaupten können. In der Grammatik fand Gretchen alles rot angestrichen, was ihr die fürsorgliche Freundin zum Wiederholen für die nächsten Probearbeiten empfahl.

Gretchen war sehr belustigt über den Schrecken, den ihr halbstündiges Studium des Spanischen der Freundin eingeflößt hatte; sie widmete sich von nun an jeden Abend eine Zeitlang ihrer englischen Grammatik, und beruhigte Hermine bald durch ein möglichst sorgfältig geschriebenes, englisches Briefchen. Die Abendstunden waren freilich die einzig ruhigen, die Gretchen zur Verfügung hatte; denn den ganzen Tag waren die Kleinen um sie. Sie freute sich aber, so oft die Kinder gesund erwachten und sie ihre Pflegebefohlenen der Tante vom Hof aus zeigen konnte. Denn die Erkrankungen am Scharlach nahmen immer zu in der Stadt, auch Hugo war noch nicht außer Gefahr. Die Tante selbst war sehr angestrengt von der Pflege, und da es sehr viele Kranke in der Stadt gab, konnte sie nicht so oft, als es nötig gewesen wäre, Hilfe durch Diakonissinnen bekommen.

Seitdem Gretchen einmal so entschieden ihrem Vetter Oskar gegenüber aufgetreten war, hatte sie keine besonderen Schwierigkeiten mehr mit ihm gehabt, aber es kam ein Tag, an dem ein Wendepunkt in diesem Verhältnis eintrat und der kleine Schlingel über seine junge Erzieherin den Sieg davontrug.

Oskar war nicht sehr fleißig in der Schule, und es war notwendig, seine Schulaufgaben daheim zu überwachen. Als sich nun Gretchen einige Male darum bekümmert hatte, merkte sie, daß Oskar ihre Hilfe durchaus nicht wünschte, sondern ihr lieber mit seinen Schulsachen aus dem Wege ging, wie einer, der kein gutes Gewissen hat. Heute, als sie rasch an den Tisch trat, an dem er saß, bemerkte sie, wie er hastig etwas zu verdecken suchte. Vor ihm lag ein Rechenheft, aber halb verdeckt durch Bücher lag neben demselben noch ein anderes Heft, und auf dessen Decke stand der Name eines Mitschülers. Bald hatte Gretchen herausgefunden, daß Oskar die Rechnungen, die er für den nächsten Tag machen sollte, von dem Heft eines Schulkameraden abschrieb. Oskar, der sonst so trotzige, kleine Bursche, fing nun an, ganz rührend zu bitten, Gretchen möge es seinem Vater nicht verraten und versprach ihr, nie mehr abzuschreiben. Sie beruhigte sich dabei; denn es war ihr lieb, wenn sie den Onkel nicht mit Klagen über die Kinder beschweren mußte. Sie war auch überzeugt, daß Oskar sein Versprechen halten würde.

Am nächsten Tag aber fiel es ihr auf, daß er seine Schultasche nicht ins Zimmer hereinbrachte, auch lag sie an keinem der Plätze, wo er sie sonst gelegentlich ablegte. Sie wollte ihn nicht fragen; denn sie hätte ihr Mißtrauen gar nicht zeigen mögen. Später führte ein Zufall sie in das Zimmer, in dem Oskar schlief, und da sah sie seine Schultasche hinter dem Bett verborgen liegen, und wie am Tage vorher, waren wieder zwei Rechenhefte darin. In dem Augenblick, als sie die Tasche in der Hand hielt, kam Oskar in das Zimmer, und stand sichtlich betroffen, als er Gretchen an seinem Versteck sah.

»Oskar,« fragte sie, »hast du doch wieder abschreiben wollen?«

Trotzig antwortete der Junge: »Ja, aber es geht dich nichts an, du hast dich nicht um meine Sachen zu kümmern!« – »Aber Oskar, was hast du mir gestern versprochen? Nun muß ich's deinem Vater sagen!«

»Wenn du's dem Vater sagst, dann springe ich zum Fenster hinaus!« rief ganz außer sich der Junge, und im Nu schwang er sich auf den Sims des offenen Fensters, trat auf den äußersten Rand desselben, bereit hinauszuspringen. Gretchen war keine ängstliche Natur, sie ließ sich nicht leicht einschüchtern, aber bei diesem Anblick wich ihr alles Blut aus den Wangen.

»Oskar, Oskar,« rief sie flehend, »komm herunter, ich bitte dich!« Er aber schwang die Arme, wie um den Sprung zu wagen, es war ein schrecklicher Anblick. Gretchen war ans Fenster gesprungen, aber sie wußte wohl, daß sie ihn nicht festhalten konnte. »Oskar, tue das deinen Eltern nicht an, komm herein, o komm, ich bitte dich!«

»Sagst du dem Vater nichts?« rief Oskar.

»Nein, komm nur, komm!«

»Und der Mutter, und Rieke, und den Kleinen?«

»Nein, nein, komm doch herein, ich kann's nicht mehr sehen!«

»Erst versprich mir's ganz fest!« Und Gretchen versprach's; denn dem unbändigen Knaben war alles zuzutrauen. Jetzt endlich verließ er seinen gefährlichen Posten, nahm seine Schultasche und ging aus dem Zimmer. Als Gretchen, noch ganz erschüttert von der Aufregung, ihm kurz darauf folgte, fand sie ihn ganz ruhig am Tisch sitzend und von dem Heft abschreibend, das zu verdecken er nicht mehr für nötig hielt. Sie war entrüstet, daß sie das mit ansehen und dulden sollte, aber sie fühlte sich gebunden durch das Versprechen, das Oskar ihr abgenötigt hatte, und ihre Macht über ihn war verloren.

Von diesem Erlebnis an begann Gretchen sich im stillen heimzusehnen und die Tage zu zählen bis zum Weihnachtsfest. Es waren nicht mehr viele. Schon hatte die Kinderfrau, die für diese Zeit bestellt war, ihren Koffer geschickt, den Gretchen als willkommenes Unterpfand ihrer baldigen Ablösung oft mit verborgener Freude betrachtete. In der Zeit, die sie noch vor sich hatte, wollte sie ihr Möglichstes tun für ihre Pflegebefohlenen. Sie half Rieke so gut sie nur konnte bei den Vorbereitungen aufs Fest, die freilich aufs allernötigste beschränkt werden mußten. Sie setzte sich im Wohnzimmer hinter den Ofenschirm, nähte Kleidchen für Bettys Puppen und sang dabei unverdrossen mit den Kleinen Weihnachtslieder. Vom Hof zum Kammerfenster hinauf und herunter gab es manche Beratung zwischen Tante und Nichte; denn so sehr erstere durch die Krankheit ihres Ältesten in Anspruch genommen war, so wollte sie doch nicht, daß die Kinder ganz um die Weihnachstfeier kämen.

Auf einen Samstag fiel der heilige Abend, am Freitagmorgen sollte die Kinderfrau kommen, und am selben Nachmittag wollte Gretchen abreisen. Nun war es Donnerstag. »Nur noch ein Tag,« sagte sich Gretchen, und packte schon einiges in ihr Handköfferchen, weil sie es gar nicht mehr recht erwarten konnte. »Nur noch ein Tag,« wiederholte sie sich, »und den will ich noch recht ausnützen.« Sie überlegte sich alles, was etwa noch zu tun war; Rieke hatte den Christbaum besorgt. Gretchen holte noch Nüsse, Äpfel und Zuckerstückchen, und legte alles ordentlich zusammen, daß es ihr Onkel nur auf den Baum zu hängen brauchte. Am Abend, als sie die Kleinen zu Bett legte, war es ihr halb freudig und halb wehmütig, als sie sich sagte: »zum letztenmal!« denn die Kinder waren rührend anhänglich an sie geworden.

Am Freitagmorgen, nach dem Frühstück, als Herr van der Bolten eben ausgegangen war und Oskar sich in die Schule richtete, fiel es Gretchen auf, daß sein Frühstücksbrot noch unberührt war. »Nimm dein Brot mit, wenn du es jetzt nicht essen willst,« sagte Gretchen.

»Ich mag nichts, es tut mir beim Schlucken weh,« war die Antwort. Gretchen sah ihn an; er hatte nicht das frische, lebhafte Aussehen, das man an ihm gewöhnt war. Gretchens erster Gedanke war: »er wird krank, er bekommt Scharlach!« Es war naßkaltes Wetter, sie wollte ihn nicht in die Schule lassen, wollte den Arzt abfassen, wenn er hinaufginge zu Hugo. Aber Oskar hatte keine Lust, daheim zu bleiben, und Rieke, die zu Rate gezogen wurde, fand nichts Auffallendes an ihm. Sie hatte auch nicht Zeit, ihn jetzt in der Schule zu entschuldigen, und erklärte Gretchens Sorge für übertrieben. So überstimmt, ließ Gretchen Oskar zur Schule gehen.

Aber kaum war er fort, so bereute sie es. Ihr hatte die Tante die Kinder ans Herz gelegt, nicht Rieke; sie durfte nicht gegen ihr besseres Wissen handeln, lieber sollten Oskar und Rieke auf sie zürnen und sie wegen ihrer Ängstlichkeit verlachen. Flink sprang sie die Treppe hinunter, sie wollte ihn einholen auf der Straße, er konnte noch nicht weit sein. Nein, weit war er allerdings nicht! Da saß er auf der untersten Stufe der Treppe. »Oskar, was ist dir?« fragte Gretchen.

»Ich weiß nicht, es ist mir schwindelig geworden, aber jetzt ist es mir schon wieder besser,« sagte er und schickte sich an, fortzugehen.

»Du bist ja ganz blaß,« sagte Gretchen und faßte ihn mütterlich an der Hand. »Komm du nur wieder mit mir herauf, gib mir deine schwere Schultasche, ich trage sie dir.« Und Oskar widerstrebte nicht mehr, er ließ sich ganz willig hinaufführen. Droben wurden vor allem Rudi und Betty aus dem Wege geschafft und Oskar ins Bett gelegt, so sehr auch Rieke diese Maßregeln als unnötig mißbilligte. Eine Stunde später kam der Arzt und zwei Stunden später brachte man dem armen, geplagten Mütterlein zu ihrem ersten Scharlachkranken noch einen zweiten! Herr van der Bolten trug ihn die Treppe hinauf – zum erstenmal kam er bei dieser Veranlassung wieder zu seiner Frau und zu Hugo. Während ihm Gretchen mit Tränen der Teilnahme nachsah, kam die Treppe herauf ein Dienstmann. Er brachte einen Zettel und auf diesem stand, daß die Kinderfrau in dieser Nacht an einer Lungenentzündung erkrankt sei und in den nächsten Wochen nicht kommen könne! In sprachloser Bestürzung stand Gretchen vor der Türe und starrte auf das Papier. Dann ging sie zu Rieke; sie hatte ja sonst niemand, mit dem sie die Hiobspost besprechen konnte.

»So ist's recht!« rief in aufloderndem Zorn die Köchin. »Das gibt ein Weihnachtsfest! Jetzt darf ich auch noch zu allem hin die Kindsmagd sein und kann keinen Schritt zum Haus hinaus in den Feiertagen! Es kommt immer besser!«

»Rieke, wir müssen jemand finden, der statt der Kinderfrau kommt; wissen Sie gar niemand? Ich mag die Tante gar nicht fragen, die dauert mich so!«

»Es hat auch keinen Wert, sie zu fragen; vor Neujahr bekommt man niemand, jetzt vollends nicht, wo so viele Kranke in der Stadt sind. Unsere Näherin ist krank, die Wäscherin hat kranke Kinder; es ist schon so, an mir bleibt alles hängen.«

Ein weinendes Kinderstimmchen drang an Gretchens Ohr; rasch ging sie ins Zimmer. Betty saß ganz allein mit der Puppe im Arm im Eckchen und weinte.

»Was gibt's, kleine Maus, warum weinst du?« fragte Gretchen.

»Ich bin so ganz allein,« klagte schluchzend die Kleine.

»Wo ist denn dein Rudi?«

»Der ist krank und liegt im Bett!«

»Auch der?« rief Gretchen und eilte entsetzt an Rudis Bettchen. Er war bis über den Kopf zugedeckt. Sachte zog Gretchen die Decke weg. Da kam ein Gesichtchen zum Vorschein, so frisch und lustig, wie man sich's nur wünschen konnte, und unter lautem Lachen rief der kleine Schelm: »Ich spiele ja nur Scharlach!« Nachdem Gretchen den kleinen Schlingel aus dem Bett getrieben hatte, erzählte sie den Kindern, daß die Kinderfrau krank sei und nicht kommen könne. Bei Betty flossen die kaum versiegten Tränen wieder.

»Bist du dumm,« fuhr Rudi sie an, »wein doch nicht; wenn die Frau nicht kommt, dann bleibt doch Gretchen bei uns!« Da leuchtete es hell auf in dem kleinen Gesicht, aber Gretchen wollte nicht falsche Hoffnungen erwecken und entgegnete sehr bestimmt: »Nein, nein, ich muß heute nachmittag abreisen; denn bei uns ist morgen die Bescherung und das Christkind hat alle meine Sachen zu meinen Eltern gebracht.«

Jetzt wurde auch Rudis Gesicht betrübt. »Wer ist dann bei uns und richtet unsere Bescherung her?« Kleinlaut antwortete Gretchen: »Papa tut es mit Rieke.« Aber Rudi entgegnete: »Papa ist jetzt droben bei Mama und Rieke ist immer in der Küche; ich glaube, daß wir gar kein Weihnachten haben.«

»O, kein Weihnachten,« wiederholte Betty schluchzend.

Wie sollte Gretchen sie trösten? Sollte sie denn bleiben? Wieder auspacken, während sie sich so unsäglich auf ihr Heimkommen heute abend gefreut hatte und auf das Weihnachtsfest bei den Eltern? Sie hörte nicht mehr auf der Kinder Geplauder, sie trat ans Fenster und sah sehnsüchtig hinaus ins Freie. »Was soll ich tun? Ich weiß nicht. Wenn doch die Mutter mir raten könnte! Sie hat gesagt, wir hätten immer eine Richtschnur und wüßten, was wir tun müßten. Gott lieben, und den Nächsten wie sich selbst. Ja, wenn ich die Kinder so lieb hätte wie mich selbst, dann wüßte ich schon, was ich täte, denn sie sind zwei und ich bin eins; ich müßte ihnen zuliebe bleiben. – Dann käme auch noch Rieke in Betracht, weil sie in den Feiertagen nicht Kindsmagd sein möchte. Auch Onkel und Tante wären froh, wenn sie wüßten, daß ich bei den Kindern bleibe. Die alle miteinander sollte ich doch so lieb haben wie mich allein? Ich fürchte, ich muß hier bleiben! Das ist die Richtschnur, die du gemeint hast, Mutter; ja, ich weiß, ich muß bleiben, wenn niemand anders an meine Stelle kommen kann!« Gretchen ging noch einmal in die Küche. »Rieke,« fragte sie, »ist Ihnen gar niemand eingefallen, der zu den Kindern kommen könnte, wenn ich gehe?«

»Vor Neujahr kommt niemand!«

»Dann, denke ich, will ich bei meinen Eltern anfragen, ob ich bleiben darf bis Neujahr.«

»Ja, Fräulein Gretchen, das müssen Sie schon tun,« sagte Rieke eifrig, »man kann die Kinder doch nicht immer allein lassen, und ich habe wirklich keine Zeit, Kindsmagd zu machen. Für Sie ist's doch eins, bleiben Sie nur da!«

Gretchen dünkte es, als ob Rieke wohl das Opfer höher anschlagen dürfte, das sie brachte; aber es geschah ja nicht, um Lob und Dank zu ernten, sondern um Liebe zu erweisen. »Wenn ich bleiben will, muß ich gleich telegraphieren und daheim anfragen, ob es den Eltern recht ist, denn sie erwarten mich ja heute abend.«

»Soll ich aufs Postamt und das Telegramm besorgen?« fragte Rieke, die doch sonst um keinen Preis vom Kochen wegging, nun auf einmal sehr diensteifrig.

»Bleiben Sie nur in der Küche und sehen Sie manchmal nach den Kleinen, ich finde schon den Weg zur Post,« antwortete Gretchen. Mit schwerem Herzen setzte sie auf einem Papier das Telegramm an ihre Eltern auf: »Soll ich hier bleiben? Oskar krank, Kinderfrau kann nicht kommen.« Auf dem Weg zum Postamt dachte sich Gretchen aus, wie herrlich es wäre, wenn nun die Eltern zurücktelegraphieren würden: »Nein, komme sofort!« und es schien ihr gar nicht so unwahrscheinlich, daß solch ein Bescheid kommen würde, denn ihre Eltern mußten ja wissen, wie sehnlich sie wünschte, Weihnachten daheim zu feiern. Mit Gretchens Nächstenliebe war es noch nicht ganz so bestellt, wie es sein sollte, sonst hätte sie eine andere Antwort von den Eltern gewünscht. Sie fühlte das selbst, und als sie auf die Post kam, änderte sie mit großer Selbstüberwindung den Wortlaut des Telegramms. Es hieß nun nicht mehr: » Soll ich,« sondern: » Darf ich hier bleiben?« und sie wußte, daß nun das »Ja« viel wahrscheinlicher war.

Das Telegramm war abgefertigt, Gretchen machte sich auf den Rückweg. Sie war kaum einige Schritte weit gegangen, als sie zwischen den Menschen, die vor ihr hergingen, einen gelben Samthut auftauchen sah. Sofort erkannte sie unter demselben ihre Reisegefährtin wieder, die kleine, dicke Dame, die ihr Spanisch gelehrt hatte. Gretchen hatte manchmal an diese eigentümliche Reisebekanntschaft gedacht, und nun beschleunigte sie ihre Schritte, um die Fremde einzuholen. Als sie dicht hinter derselben war, sagte sie halblaut vor sich hin: »Nicht Cord ova, sondern C ordova.« Wie wenn sie bei Namen gerufen wäre, so rasch wandte sich die Dame um und ging sofort mit freundlichem Gruß auf Gretchens Scherz ein. Fräulein Trölopp sah heute auch nicht viel anmutiger aus als auf der Reise, und ihre Kleidung war fast noch auffallender als damals. Sie erkundigte sich aber sehr teilnehmend nach dem Ergehen ihrer jungen Reisegefährtin, und da sie ein weites Stück den gleichen Weg hatten und es Gretchen wohl tat, von dem zu sprechen, was ihr Herz bewegte, so erzählte sie ganz ausführlich, weshalb sie hier sei, was sie bei ihren Verwandten erlebt habe und zuletzt die Ereignisse des heutigen Tages. Fräulein Trölopp warf manche Frage dazwischen, sie wollte alles ganz genau wissen.

»Aber liebes Kind,« sagte sie nun, »das ist alles ganz verkehrt gemacht worden, und ich begreife Ihren Onkel nicht. Wie kann denn Ihre Tante oben in dem Fremdenzimmer, getrennt von der Küche und allen Bequemlichkeiten, zwei Kranke pflegen? Wie soll denn das arme Frauchen das aushalten? Und wozu nützt diese Art Absperrung? Der Verkehr zwischen oben und unten ist doch nicht vollständig abgeschnitten, das Dienstmädchen trägt alles herauf und hinunter, die Kleinen können jeden Tag angesteckt werden; es ist alles ganz verkehrt!«

Gretchen war sehr erstaunt über diese Rede. Sie konnte nicht fassen, wie Fräulein Trölopp sich diese Verhältnisse so klar und richtig vorstellen konnte, wie wenn sie die ganze Hauseinrichtung und die Bewohner längst gekannt hätte. »Uns tut die Tante auch schrecklich leid,« sagte Gretchen, »aber wie hätten wir das anders einrichten können?«

»Wie? Vor allen Dingen sagen Sie mir, warum sind Sie denn nicht zu mir gekommen? Haben Sie vergessen, daß ich im ›Europäischen Hof‹ wohne?«

»Nein, aber ich wollte doch jetzt keine Singstunden oder spanische Stunden.«

»Törichtes Kind, wer spricht von Stunden? Sie wußten, daß ich frei über meine Zeit verfüge, und hätten mich zur Hilfe bitten sollen.« – »Das hätte ich nicht gewagt; ich glaubte, Sie seien Lehrerin.«

»Freilich bin ich Lehrerin, aber vor allem bin ich ein Mensch, der gern etwas Nützliches tut. Singen oder kehren, spanisch lehren oder kochen, das gilt mir ganz gleich, wenn es nur gerade im Augenblick nützlich ist.«

»Aber,« sagte Gretchen ehrlich, »wir kennen Sie ja gar nicht.«

»Das ist richtig, aber deshalb habe ich Ihnen schon in der Bahn gesagt, daß mich General X. empfiehlt. Haben Sie es Ihrem Onkel nicht erzählt?«

»Alles habe ich ihm erzählt, nur den General habe ich vergessen.«

»Dann haben Sie das Wichtigste vergessen. Wenn man, wie ich hier, ganz fremd ist, und überdies von der Natur so ausgestattet ist, daß man mehr einem Frosch als einem Menschen gleicht, dann braucht man schon die Empfehlung einer Exzellenz! Aber nun hören Sie, wie das gemacht werden muß. Sie sprechen jetzt gleich mit Ihrem Onkel, sagen ihm, daß ich morgen zu ihm komme und sein ganzes Hauswesen übernehme, und zwar muß das so eingerichtet werden: die zwei jüngsten Kinder müssen sofort aus dem Haus, die nehmen Sie mit heim zu Ihren Eltern, morgen mit dem Nachmittags-Schnellzug. Ihre Eltern sind gesund, nicht wahr?«

»Ja, aber –«

»Gut; sobald Sie mit den Kindern abgereist sind, zieht Ihre Tante herunter aus ihrer Verbannung; die zwei Kranken trage ich in Decken gehüllt herunter, das schadet ihnen nicht im geringsten. Ich helfe die Kranken pflegen und pflege zugleich das arme Frauchen; denn das kenne ich schon: die Kinder sind nach einem Vierteljahr wieder auf dem Damm, aber die Mütter, die bringt man schwer in die Höhe, wenn sie erst einmal recht drunten sind! Dem Dienstmädchen werde ich das Kochen für die Kranken abnehmen; denn es war die letzten Wochen überarbeitet, dann werden sie mürrisch und kündigen zur Unzeit; das können wir nicht brauchen. Und nun sagen Sie mir, welchen Beruf hat Ihr Onkel?«

»Er ist Künstler, Landschaftsmaler.«

»Künstler, so, nun ja. Sagen Sie ihm, daß ich keinen Anspruch auf Gehalt mache; ich bin froh, wenn ich nicht länger unnütz dasitze! So wäre die Sache besprochen, nicht wahr?«

»Ja,« sagte Gretchen, »und mir käme es herrlich vor; aber bis morgen geht es doch wohl nimmer, ich muß erst an die Eltern schreiben, ob ich die Kleinen bringen darf.«

»Schreiben? Wie umständlich! Wir fragen durch Fernsprecher oder Draht an, und bis zum Abend ist alles im reinen. Ist das Ihres Onkels Haus?« fragte Fräulein Trölopp, als Gretchen stehen blieb.

»Ja, da wohnen wir, und wollen Sie nicht lieber gleich mit heraufkommen und den Onkel selbst sprechen?«

»Bewahre, Kind, so geht das nicht; zuerst muß die Exzellenz, General X., noch wirken. Brächten Sie mich jetzt so unangemeldet vor Ihren Onkel, so würde er sagen: Was bringst du mir da für eine fremdländische Kröte ins Haus!«

»O nein!« rief Gretchen, »Sie sind so gut, das merkt man gleich.«

»Also, Kind, merken Sie wohl auf: Um zwölf Uhr trifft Ihr Onkel General X., um zwei Uhr bin ich im ›Europäischen Hof‹ zu sprechen, morgen früh um acht Uhr komme ich zu Ihnen. Auf Wiedersehen!« Der gelbe Samthut verschwand.

Gretchen war wie in einem Traum, die schönsten Hoffnungen zogen durch ihr Gemüt. Doch noch zum heiligen Abend heimkommen, die zwei herzigen Kleinen mitnehmen, die Tante aufs beste versorgt wissen, den Onkel mit »Susi« vereinigt, Rieke entlastet, alles so herrlich, daß es kaum wahr werden konnte. Wenn Onkel und Tante nur auch einwilligten, ihre abenteuerliche Reisebekanntschaft zu sich zu nehmen! Wenn diese nur nicht gar so wunderlich aussähe!

Herr van der Bolten war, seit er Oskar krank hinaufgetragen hatte, nicht wieder heruntergekommen. Er konnte sich nicht so schnell von Frau und Kind trennen. Ungeduldig erwartete ihn Gretchen, und als sie ihn endlich herunterkommen hörte, nahm sie ihn gleich mit ihren Neuigkeiten in Beschlag: zuerst die Hiobspost, daß die Kinderfrau abgesagt habe, dann ihren Entschluß, an die Eltern zu telegraphieren, die Begegnung mit Fräulein Trölopp und deren Vorschläge. Gretchen vermutete, daß Onkel und Tante sich ungern zur Aufnahme einer ihnen ganz fremden Dame entschließen würden, und so sagte sie zu deren Gunsten, was sie nur irgend konnte. Herr van der Bolten unterbrach sie in ihrem Eifer: »Was braucht es da noch viele Worte und Überlegung, wenn du meinst, daß deine Eltern unsere Kleinen aufnehmen? Dein Fräulein nehme ich natürlich mit tausend Freuden an, damit Susi wieder herunterkommen kann.«

Gretchen war freudig überrascht. »So gehst du zu General X?« fragte sie. »Wozu soll ich erst noch zu dem General gehen? Wenn mir jemand sagt: ›ich komme euch zur Hilfe, und noch dazu umsonst,‹ dann antworte ich: ›je eher, je lieber‹.« »Aber Onkel, eines muß ich dir doch sagen, Fräulein Trölopp sieht anders aus, als du sie dir vorstellst, sie ist gar nicht schön.«

»Ich muß sie ja nicht malen,« war die heitere Antwort. Gretchen war hochbeglückt, daß ihr Onkel ohne jegliche Bedenken auf den Plan einging; aber weil er sich die Sache gar nicht weiter überlegte, kam es ihr vor, als hätte sie dann die ganze Verantwortung. »Onkel,« sagte sie, »wollen wir nicht die Tante vorher fragen?«

»Ja, freilich, da hast du recht, das soll gleich geschehen.« Um zwölf Uhr war Herr van der Bolten auf dem Weg zu General X. Seine Frau hatte doch allerlei Bedenken vorgebracht gegen Gretchens Reisebekanntschaft und wollte sicher gehen. Gretchen war äußerst gespannt auf das Ergebnis der Unterredung. Herr van der Bolten blieb lang aus. Rieke brummte. Sie ahnte nicht, daß die Sache, die ihren Herrn abhielt, rechtzeitig zum Essen zu kommen, sie so nahe anging. Endlich ertönte das wohlbekannte, dreimalige Glockenzeichen. Gretchen war es ordentlich bang, da die Entscheidung nahte. Rudi und Betty sprangen ihrem Vater entgegen. »Papa, wir haben so lange gewartet und wollten nicht ohne dich essen, du kommst so spät!« »So?« sagte Herr van der Bolten und hob seine Kleinste zärtlich auf seine Arme. »Habt ihr hungern müssen? Da geht ihr lieber zu Papa Reinwald, der kommt pünktlich zum Essen, wollt ihr zu ihm, gleich morgen?« Die Kinder wußten nicht, was sie von dieser Frage halten sollten, aber Gretchen verstand. »O Onkel,« rief sie, »wird denn etwas daraus? Ich vergehe ja vor Ungeduld! Was hat denn der General gesagt?«

»Nur Gutes, Gretchen. Er meinte, wir könnten uns glücklich preisen, wenn sie zu uns käme. Die Dame hat sich in den verschiedensten Stellen in Südamerika glänzend bewährt. Sie ist in den vornehmsten Häusern mit Tausenden von Dollars bezahlt worden und hat ebenso bei den Ärmsten freiwillig ausgeholfen und die Tausende in ihren Hütten gelassen. Sie soll alles Häusliche meisterhaft verstehen und dabei großartige Anlagen des Geistes und Gemütes besitzen. Nur das Äußere muß allerdings ganz zu kurz gekommen sein, auch der Geschmack für die Kleidung. Aber was kümmert uns das?«

»Also willst du sie bitten, Onkel?«

»Natürlich, fußfällig, wenn es sein muß! Aber Gretchen, das Wichtigste ist jetzt, wie wir uns die Erlaubnis deiner Eltern verschaffen, ihnen diese kleinen Rangen zu bringen?«

»O, damit bemühe dich nicht, Onkel! Wenn du zu Fräulein Trölopp gehst, so sagt sie dir gleich, wie wir das am schnellsten fertig bringen, sie nimmt alles in die Hand!«

Noch am Mittagstisch erhielt Gretchen ein Antwort-Telegramm auf ihre Anfrage, ob sie bleiben dürfe: »Ausharren so lange als nötig!«

Rieke, die von den neuesten Plänen nichts wußte, war die einzige, die noch mit Spannung auf den Inhalt dieses Telegramms wartete. Gretchen sah ihr an, daß sie nur ungern aus dem Zimmer ging, ehe es gelesen war, deshalb sandte sie bald darnach Rudi vom Tisch weg in die Küche, wo er ganz nett seinen Auftrag ausrichtete: »Rieke, du darfst am Christfest in die Kirche und am Feiertag spazieren gehen.« Und Riekes Antwort? »Es seien noch Apfelsinen in der Speiskammer, ob sie die nicht zum Nachtisch bringen dürfe, Fräulein Gretchen habe noch nie etwas Gutes bekommen!«

Während Gretchen in dem festen Vertrauen, daß Fräulein Trölopp alles ins reine bringen werde, seelenvergnügt ihrer Abreise entgegensah, herrschte in ihrem Elternhause trübe Stimmung. »Wollen wir denn den Christbaum putzen, wenn doch unser Kind nicht zum Fest kommt?« fragte Frau Reinwald ihren Mann. »Putze ihn immerhin, vielleicht kommt sie bis Neujahr und freut sich dann noch daran.«

»Ich denke mir, daß sie am heiligen Abend recht Heimweh bekommt.«

»Ich hätte es auch gedacht, doch heißt es in ihrer Drahtnachricht: › darf ich bleiben‹, so scheint sie sich doch der Verlängerung zu freuen.«

Frau Reinwald schüttelte den Kopf. »Es heißt allerdings so, aber doch glaube ich, daß sie sich von ganzem Herzen sehnt, Weihnachten mit uns zu feiern.«

Franziska trat ins Zimmer und meldete Herrn Reinwald: »Der Hausherr läßt sagen, daß jemand am Fernsprecher nach Ihnen fragt.«

»Das wird Gretchen betreffen,« sagte Herr Reinwald zu seiner Frau und ging hinunter zum Hausherrn. Fräulein Trölopp war es, die Herrn Reinwald zu sprechen wünschte. »Ich soll im Auftrag Ihrer Verwandten fragen, ob Gretchen morgen mit Rudi und Betty zu Ihnen kommen dürfe?«

Herr Reinwald war sehr überrascht. »Gretchen hat heute morgen angefragt, ob sie länger bleiben dürfe, und wir haben uns damit einverstanden erklärt.«

»Wohl, aber inzwischen wurde es anders beschlossen. Die Kleinen müssen aus dem Haus. Können Sie dieselben aufnehmen?«

»Für wie lange?«

»Für einige Wochen.«

»Die Kleinen sind vielleicht schon angesteckt, dann bekommen wir die Bescherung ins Haus!«

»Möglich, aber nicht wahrscheinlich.«

»Bitte, wer sind Sie eigentlich?«

»Sara Trölopp, neunundvierzig Jahre alt, ledig, Ersatz für die erkrankte Kinderfrau.«

»Danke, ich werde mit meiner Frau sprechen, in drei Minuten bin ich wieder hier.« Nach kurzer Frist wurde das Gespräch wieder aufgenommen. »Meiner Frau sind die kleinen Gäste von Herzen willkommen, auch auf die Gefahr hin, daß sie hier ihren Scharlach durchmachen müssen. Sie will gern ihrer Schwester etwas abnehmen.«

»Das ist nur natürlich. Ihre Tochter wird also nachmittags drei Uhr mit den Kindern hier abreisen.« – –

Gretchen war in der glücklichsten Stimmung, und diese teilte sich auch den Kindern mit. Alle drei konnten kaum einschlafen vor Freude. Auch Rieke zeigte sich einverstanden mit den neuesten Plänen, doch sagte sie vorsichtig: »Es kommt erst noch darauf an, was das für eine Dame ist; denn es gibt solche, die sind nicht einmal so viel wert wie Fräulein Gretchen, an die man nun doch schon gewöhnt war.« Aus Riekes Mund mußte Gretchen das schon als Lobspruch betrachten.

Am nächsten Morgen erschien Fräulein Trölopp frühzeitig auf ihrem Posten. Sie schien alles von selbst zu wissen. »Wir packen zuerst der Kinder Reisegepäck,« sagte sie, »damit heute nachmittag nichts fehlt, und dann richten wir das große Zimmer als Krankenzimmer ein.« Gretchen war voll Eifer und ging Fräulein Trölopp in allem zur Hand. Als es aber galt, schwere Möbel teils anders zu stellen, teils aus dem Zimmer zu schaffen, mußte Rieke helfen. Manche Anordnung wollte Rieke nicht passen, aber Fräulein Trölopp schien ihr Widerstreben nicht zu bemerken. Allmählich machte Rieke ein ganz böses Gesicht und schien manchen Befehl, den ihr Fräulein Trölopp ganz unbekümmert erteilte, zu überhören. Plötzlich hielt Fräulein Trölopp inne, stellte sich vor Rieke und frug: »Wie alt sind Sie?« »In den Zwanzigern,« entgegnete Rieke mürrisch. »Und ich bin bald fünfzig. Sie dienen vielleicht seit zehn Jahren, und ich seit dreißig. Da ist's klar, daß ich befehle und Sie gehorchen. Sie werden auch einmal fünfzig und stehen dann über der Zwanzigjährigen, wenn Sie nämlich tüchtig sind. Ich will nun alles so einrichten, wie es für die kranken Kinder und ihre Mutter am besten ist, und ich habe da meine Erfahrungen. Wir dürfen jetzt nicht an uns denken, sondern bloß an die Familie. Wenn alles in gutem Gang ist, dann erst kommen wir an die Reihe. Wenn ich für die Kranken gesorgt habe, dann werde ich auch an Sie denken. Ich werde sorgen, daß Sie ausgehen können, werde Ihnen behilflich sein, Ihre Kleider instandzusetzen und für besondere Leistungen werde ich Ihnen ein Geschenk vermitteln. Zuerst aber müssen Sie mir ihren ganzen guten Willen, Ihre volle Kraft zur Verfügung stellen. Wir zwei müssen zusammenhalten. Unnützes werde ich nicht verlangen. Packen Sie an, das Sofa muß hinaus, Polstermöbel taugen nicht ins Krankenzimmer!« Und Rieke packte fest an, sie fügte sich dem starken Willen, sie fühlte: da gab es kein Widerstreben.

Bei dem ersten gemeinschaftlichen Mittagsmahl mit Fräulein Trölopp schien Herr van der Bolten etwas gestört. Für sein Künstlerauge war die neue Tischgenossin kein Labsal. Sie saß an dem Platz, den sonst seine feine, liebliche Gattin einnahm. Er war schweigsamer als sonst und vermied, Fräulein Trölopp anzusehen. Fühlte sie es, oder war es Zufall, daß sie zu Herrn van der Bolten sagte: »Morgen mittag wird schon Ihre Gemahlin an meinem Platz sitzen, und ich werde über Mittag bei den Kranken bleiben, damit Sie beide Ruhe haben während des Essens, es wird Ihnen gut tun.« Da leuchtete Herrn van der Boltens Gesicht hell auf, mit dankbarem Blick erwiderte er die guten Worte, bot Fräulein Trölopp die Platte und sagte: »Sorgen Sie auch für sich selbst, nicht nur für andere.«

Am heiligen Abend, als es schon dunkelte und da und dort in den Häusern die ersten Christbäume angezündet wurden, kam unser Gretchen mit ihren zwei Pflegebefohlenen fröhlich und wohlbehalten zu Hause an. Sie hatte ja schon ganz darauf verzichtet gehabt, Weihnachten daheim feiern zu dürfen, und nun sollte es zu Hause eine schönere Feier geben als je, durch die kleinen Gäste, die sie mitbrachte. Frau Reinwald, die tags vorher gar nicht an eine Bescherung denken mochte, hatte nun einen größeren Tisch zu decken als sonst, und tat es voll Vergnügen. Das kleine Pärchen fühlte sich gleich ganz wie zu Hause, Gretchen war ihnen ja vertraut und die Tante so ähnlich der Mutter, und wie hätte man Heimweh bekommen können in einem Haus, wo man gleich von dem brennenden Christbaum begrüßt wird? Ja, das war ein glücklicher Abend, und als die Kleinen zur Ruhe gebracht waren und Gretchen allein mit den Eltern blieb, durfte sie von allen ihren Erlebnissen berichten. Auch Oskar kam an die Reihe. »Mit ihm konnte ich nicht fertig werden,« schloß Gretchen, nachdem sie erzählt, wie er sie in Schrecken versetzt und zum Nachgeben gezwungen hatte mit seiner Drohung, sich durchs Fenster zu stürzen.

»Ja, einem solch leidenschaftlichen Knaben bist du noch nicht gewachsen,« sagte Frau Reinwald.

»Aber auch die eigenen Eltern können doch nichts machen, wenn ein Kind so unbändig ist!« meinte Gretchen.

»Oho, das wäre schlimm!« entgegnete ihr der Vater.

»Man kann es aber doch nicht darauf ankommen lassen, ob er wirklich zum Fenster hinausspringt oder nicht, oder hätte ich nicht nachgeben sollen?« fragte Gretchen.

»Doch, im Augenblick konntest du nicht anders handeln, und auch ich hätte ihm wohl zunächst den Willen getan, damit er seinen gefährlichen Posten verlasse. Aber dann hätte ich ihm gesagt, wie unrecht dies Ertrotzen ist, und hätte ihn dafür so durchgeprügelt, daß er es nicht zum zweitenmal versucht hätte.«

»Aber so etwas kann ein Mädchen in deinem Alter nicht tun,« fügte Frau Reinwald hinzu, »und darum ist's diesem jungen Hausmütterchen auch so wohl, daß es seine Würde ablegen und wieder selbst Kind sein darf, statt andere Kinder zu erziehen.«

Ja, Gretchen war es leicht und wohl zumute, heute und in den folgenden Tagen. Die ganze Verantwortung für die Kinder übernahm die Mutter, und für sie blieb die ungetrübte Freude an den herzigen Kleinen. Von der Tante kam fleißig Nachricht; die beiden Knaben waren ernstlich krank, aber ihre Mutter konnte wieder aufatmen, und die ganze Haushaltung ging ihren geordneten Gang. Dies hörte Gretchen immer wieder mit besonderer Befriedigung und sagte mit Stolz: »Wenn ich auch sonst nicht viel geleistet habe, so habe ich doch Fräulein Trölopp entdeckt!«


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