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Fünftes Kapitel.
Die Base

Herr Reinwald kam von einer Fahrt heim. Er hatte in einer Ortschaft der Umgegend geschäftlich zu tun gehabt und der Kutscher Bauer, Lenes Mann, hatte ihn dorthin gefahren. Frau Reinwald saß allein im Zimmer, als ihr Mann zurückkehrte. Er setzte sich zu ihr. »Ich habe heute die Gelegenheit benützt und mit dem Kutscher Bauer gesprochen,« erzählte er. »Es tut einem leid, wenn man hört, daß zwei so tüchtige Leute, wie Lene und ihr Mann, wenn sie gesunde Kinder haben und guten Verdienst, doch nicht glücklich zusammen hausen. Ich habe ihm ans Herz gelegt, daß er ordentlich zu seiner Frau halten soll, wie sich's gehört, und sie unterstützen gegenüber der alten Verwandten und den Kindern. Nun wäre es aber sehr gut, wenn du bald einmal Lene besuchen und nachsehen könntest, wo sie es etwa fehlen läßt. Auf deinen Rat gibt sie viel.«

»Ich hatte es schon lange vor,« entgegnete Frau Reinwald, »nun will ich es aber keine Stunde mehr hinausschieben. Ich richte mich sogleich.«

Lene hatte eine rührende Freude, als Frau Reinwald unerwartet zu ihr kam; aber man sah, daß ihr das Herz schwer war, denn die Tränen traten ihr in die Augen, und es dauerte keine zwei Minuten, so hatte sie das Gespräch auf die »Bas« gebracht. Sie fing an, der alten Frau allerlei Schlimmes nachzusagen, aber plötzlich unterbrach sie sich und lenkte ein: »Ich weiß ja, daß Sie's nicht leiden können, wenn man Böses über die Leute redet, und ich will's auch nicht weiter tun.«

»Doch, Lene, tu du das heute nur. Schütte den ganzen Groll, der sich bei dir gegen diese Frau angehäuft hat, gegen mich aus; dir tut es gut, und ich möchte klar sehen in dieser Sache.«

Auf diese Aufforderung hin ging's der Base schlecht; denn Lene ließ kein gutes Haar an ihr. Was sie aber am meisten betonte, war, daß die Base ihr selbst so viel Böses nachsage und die Kinder dadurch aufhetze.

»Hast du denn schon versucht, die Base zu beschwichtigen und zu versöhnen?« fragte Frau Reinwald.

»Da ist doch alle Mühe vergebens, sie ist mir neidisch und mißgünstig, weil ich sie von ihrem Platz in diesem Hause verdrängt habe. Da läßt sich nichts machen, das muß man eben tragen.«

»Lene, ich meine doch, man sollte einmal ein verständiges und freundliches Wort mit dieser armen Frau reden.«

»Ich tu's nicht; wenn ich zu ihr käme, sie wäre imstande und würfe mich die Treppe hinunter.«

»Wo wohnt sie denn?«

»Da, im Nebenhaus hat sie ein Dachstübchen gemietet, da kann sie heruntersehen in unseren Hof und die Buben zu sich rufen, so oft sie will.«

»Sie selbst kommt nicht zu euch ins Haus?«

»Nein, sie ist, glaube ich, gichtleidend und kann die Treppen nicht leicht steigen.«

»So, sie ist leidend? Dann will ich ihr einen Krankenbesuch machen.«

Lene stutzte, es schien ihr nur halb recht zu sein.

»Lene,« sprach nun mit allem Ernst Frau Reinwald, »du weißt, ich bin dafür, daß man alles Schwere mit Ergebung trägt, aber erst wenn man getan hat was irgend möglich ist, um sich's zu erleichtern, und ich möchte doch wissen, ob da gar nichts zu machen ist. So, wie es jetzt ist, bist du nicht glücklich; aber das Glück fällt einem nicht so in den Schoß, man muß sich darum rühren. Ich will einmal hören, ob dir wirklich die Türe gewiesen wird, wenn du da hinüberkommst, und ob ihr zwei nicht Frieden schließen könnt.«

Lene entgegnete nichts mehr, und Frau Reinwald ging ins Nachbarhaus hinauf bis in den obersten Stock und klopfte an dem Stübchen, das nach dem Nachbarhof hinausging. Sie klopfte zwei-, dreimal, ohne Antwort zu erhalten, und öffnete schließlich die Türe. Am Fenster weit hinausgelehnt stand die alte Frau. Sie hatte das Klopfen nicht gehört. Jetzt aber spürte sie die Zugluft, wandte sich um und ging etwas hinkend ihrem Besuch entgegen. Sie begrüßte Frau Reinwald mit Namen, denn sie kannte sie vom Sehen. Frau Reinwald setzte sich zu ihr und erkundigte sich freundlich nach dem Gichtleiden der alten Frau. Sie hatte damit das Richtige getroffen; denn es tat der Frau sichtlich wohl, einem teilnehmenden Herzen ihre Schmerzen zu klagen. Frau Reinwald überlegte sich eben im stillen, wie sie nun das Gespräch auf Lene bringen könne, da gab ihr die Alte selbst die Gelegenheit. »Beim Stehen und Gehen tut mir's weh, aber auch das Sitzen ist nichts für meine alten Knochen. Die Holzstühle sind hart und kalt und tun einem besonders weh, wenn man einen Lehnstuhl gewöhnt war wie ich; es war freilich nur ein alter, aber so warm und so weich.«

»Warum haben Sie den nicht mehr?«

»Er gehört nicht mir, er gehört dem Kutscher; der setzt sich ja nie hinein und braucht ihn nicht, er gäbe ihn mir für die paar Jahre, die ich noch lebe, aber sie nicht!«

»Hat sie Ihnen die Bitte abgeschlagen?«

»Ich bitte nichts von ihr, das ist eine stolze Person, die sich für etwas Besseres hält – aber ich will nichts gegen sie sagen, ich weiß ja, Frau Reinwald halten große Stücke auf die Lene.«

»Sagen Sie nur gegen die Lene alles, was Sie auf dem Herzen haben, es tut Ihnen wohl, wenn Sie sich einmal offen aussprechen, und ich weiß wohl, daß Lene auch ihre Fehler hat.«

Wie vorhin der Base, so ging's nun Lene schlecht, auch an ihr wurde kein gutes Haar gelassen; was ihr aber mit der größten Erbitterung vorgeworfen wurde, das war, daß sie geizig und hochmütig sei.

Frau Reinwald hatte ganz ruhig den Strom der Mitteilungen über sich ergehen lassen. Nun hielt die Frau erschöpft inne und sah gespannt auf ihre stille Zuhörerin. Sie erwartete wohl, daß nun Lene entschuldigt und ihr selbst Vorwürfe gemacht würden, denn sie hatte doch Lene gegenüber kein ganz gutes Gewissen. Aber es kam nichts von all dem.

Frau Reinwald sagte freundlich: »Die Hauptsache ist jetzt, daß Sie Ihren warmen Stuhl bekommen. Wenn ihn Lene selbst herüber bringt, ist's Ihnen dann recht?«

»Die? Die trägt so einer armen, alten Person wie ich keinen Stuhl nach.«

»Und wenn sie's tut, geben Sie ihr dann ein gutes Wort?«

»Die tut's nicht.«

»Und Sie wollen kein gutes Wort geben, das merke ich schon,« sagte Frau Reinwald, »aber Sie sind doch alt und krank und möchten gewiß Frieden machen mit Gott und den Menschen, oder nicht?«

Die Alte blieb die Antwort schuldig.

Frau Reinwald faßte sie an der Hand und sagte bittend und dringend: »Geben Sie der Lene ein gutes Wort, wenn sie den Stuhl bringt?«

»So bin ich nicht, daß ich das nicht täte.«

»Das ist recht,« sagte Frau Reinwald, »ich muß jetzt heim, aber ich komme bald wieder; ich habe eine wollene Decke, die recht weich und warm ist, die bringe ich Ihnen mit, oder schicke sie durch meine Tochter her.«

Frau Reinwald ging und kehrte noch einmal bei Lene ein.

»Was hat die Bas alles über mich gesagt?« fragte Lene, »die wird bös über mich losgezogen haben.«

»Sie hat Gichtschmerzen, Lene, das weißt du; sie hätte so gern euren alten Lehnstuhl, an den sie gewöhnt war. Wenn du ihr ihn bringen würdest; ihr braucht ihn ja nicht. Die paar Jahre, die sie noch lebt, könnt ihr ihn der Frau wohl leihen. Sie hat gemeint, du würdest das nicht tun; aber ich meine, du tust es.«

»Sie hat's gerade nicht um mich verdient.«

»Nein, aber wenn du's bedenkst, Lene, so wirst du sagen müssen: die alte Frau ist zu bedauern. Ganz allein, Tag und Nacht Schmerzen, keine Bequemlichkeit, keine Freude – der Lehnstuhl wäre eine Freude, eine große; an dem Tag dürftest du die Buben ruhig zu ihr lassen, da würde sie nichts Böses über dich sagen. Sie könnten dir den Stuhl tragen helfen; sie sollen sehen, daß du ihrer Bas gern eine Wohltat erweist. Es würde auch deinen Mann freuen, oder nicht?«

»Ihn schon.«

»Und die Kinder?«

»Die Kinder freilich.«

»Und die Base, und mich – ist's noch nicht genug, Lene? Gelt, du gehst und schaffst den Stuhl hinauf und sagst ein freundliches Wort dabei?«

»Ich bin's schon so gewöhnt durch die vielen Jahre, Ihnen zu folgen; ich weiß schon, daß ich's tun muß. Den ganzen Tag geht's mir so, daß ich denken muß: Machst du das so oder so, wie würde deine Frau raten? Und so wie Sie sagen würden, muß ich dann tun.«

»Und ich weiß, daß dich's diesmal wenigstens nicht reuen wird. Aber vergiß das freundliche Wort nicht, das gehört dazu! Leb' wohl, Lene, komm bald einmal zu mir!«

Gretchen erwartete die Mutter mit Ungeduld und war voll Teilnahme für ihren Bericht. »Wenn ich Zeit habe, bringe ich gleich morgen die Decke zur Base,« sagte sie voll Eifer; »ich muß wissen, ob Lene den Stuhl hinübergetragen hat.«

Am nächsten Tag fand Gretchen aber nicht die Zeit, und das war gut; denn Lene übereilte die Sache nicht. Am ersten Abend, als sie mit ihrer Tagesarbeit fertig war, dachte sie: »Jetzt könnte ich wohl den Stuhl hinübertragen, aber so arg eilt das nicht!« Und dabei blieb's. Am nächsten Tag hatte sie zu waschen, und die Arbeit dauerte bis spät am Abend, da kam sie wieder nicht dazu. Am dritten Tag, als sie eben ihre Wäsche im Hof aufhängte, hörte sie die Buben unter der offenen Stalltüre miteinander reden. Sie verstand nur die wenigen Worte: »Sie sagt, sie habe schreien müssen vor Schmerz.« Schnell wandte sich Lene zu den Buben: »Wer hat geschrien vor Schmerz? Die Bas?«

»Ja, sie sagt's.«

Jetzt raffte sich Lene aber auf. »Wir bringen ihr den Lehnstuhl, daß sie weicher sitzt! Kommt, ihr könnt mir helfen tragen.«

Die Buben sahen der Mutter mit unverhohlenem Erstaunen ins Gesicht; aber als sie sahen, daß es ernst war, packten sie voll Vergnügen an. Mit einiger Mühe gelangte der schwerfällige Stuhl ins Nebenhaus, und dort bis in den obersten Stock. Der Jüngste sprang voraus und rief: »Bas, die Mutter kommt, und wir bringen dir den Lehnstuhl.« Da standen sich die beiden Frauen gegenüber, Lene grüßte und schob den Stuhl in eine passende Ecke. Der Gegengruß der Base lautete: »Das hättet ihr wohl bleiben lassen können, ich sterb' ja doch bald; die letzte Nacht habe ich schon gemeint, es geh' zu End.«

Darauf entgegnete Lene: »Habt Ihr denn so arge Schmerzen?«

»Es wird wohl sein, aber um mich kümmert sich kein Mensch, niemand schaut nach mir.«

Da platzte der älteste Bub heraus: »Bas, sind wir jetzt nicht gekommen? Wenn's Euch so nicht recht ist, dann können wir den Stuhl gleich wieder mitnehmen und können fortbleiben. Meint Ihr denn, das sei so ein Pläsier, so einen Klotz von einem Stuhl da raufzuschleppen? Das hätt' ich doch nicht geglaubt, daß Ihr einem dafür kein gutes Wort vergönnt!«

Und wie ein Echo fielen die zwei Brüder ein: »kein gutes Wort vergönnt!«

Da stand die Base verwirrt. »Kein gutes Wort!« Und sie hatte doch Frau Reinwald versprochen, ein gutes Wort zu geben! Sie sah auf Lene; man merkte, daß sie mit sich selbst kämpfte. Jetzt aber wandte sie sich den Buben zu und rief heftig: »Meint ihr, Buben, ihr dürft mir auch noch Grobheiten machen? Macht, daß ihr weiter kommt, ich brauch' euch nicht!«

»Von Euch geht man gern fort,« rief in großer Entrüstung der Älteste, und die Kleinen: »Ja, da geht man gern!« Und bald waren sie alle drei zur Türe hinaus und zur Treppe hinunter gepoltert. Lene aber zögerte. Sie hatte auch »das gute Wort« noch nicht angebracht, und vorher durfte sie nicht gehen.

»Bas,« sagte sie, »ich hab' nicht gewußt, daß Ihr so arg leiden müßt, sonst hätte ich schon öfter nach Euch gesehen.« Da brach die Alte in ein bitterliches Weinen aus, und unter Schluchzen kam es heraus: »O, ich kann's gar nicht aussagen, wie mich die Schmerzen quälen, und dazu die Einsamkeit.«

Da faßte Lene ihre Hände, die von der Gicht ganz krumm gezogen waren, und strich sie ganz sanft. Das tat der alten Frau wohl, aber sie schluchzte noch immer. »Jetzt versucht's einmal mit Eurem alten Lehnstuhl, ob's in dem nicht besser wird,« bat Lene. Und die Alte, die bisher auf ihrem hölzernen Stuhl gesessen war, erhob sich schwerfällig und humpelte mühsam durchs Zimmer. Als sie sich aber in den Stuhl niedergelassen hatte, kam ein Ausdruck des Behagens über ihr schmerzverzogenes Gesicht; sie lehnte sich zurück und sagte: »Ach, das tut wohl.« Lene war befriedigt.

»Jetzt wünsch' ich Euch gute Besserung, und wenn's Euch recht ist, komm ich morgen wieder und bring' Euch Gichtwatt mit, das nimmt die Schmerzen; mein Vater selig hat's auch so gehabt wie Ihr, ich weiß schon, was da gut tut.«

»Mir ist's ein Ding, wenn Ihr wieder kommen wollt,« antwortete die Base, und diesen Satz betrachtete sie als das »gute Wort«, das sie geben mußte; mehr konnte man von ihr, bei so viel Schmerzen, nach ihrer Meinung, nicht verlangen. – Lene ging leichteren Herzens, als sie gekommen war. »Wie bin ich doch so viel besser daran als der arme, verlassene Tropf da droben!« dachte sie bei sich.

Unten an der Treppe warteten die drei Verjagten auf sie. Das hatte Lene nicht erwartet, es freute sie. Die Jungen hatten die Base noch nie so schlimm gesehen, und die Mutter war ihnen daneben so gut vorgekommen! Zum erstenmal schlugen sie sich auf die Seite der Mutter. Lene fühlte es, ihr Herz wurde so fröhlich, wie schon lange nicht mehr, und munter sagte sie zu ihren dreien: »Kommt, wir machen recht schnell und tun hurtig alle Arbeit, dann reicht's heute abend noch zu einer schönen Geschichte!« Und ganz jugendlich sprang die Mutter mit ihren drei Wilden durch den Hof.

Als Gretchen nach einigen Tagen die Base aufsuchte, saß die alte Frau behaglich im Lehnstuhl, ließ sich von ihr die warme Decke überbreiten und erzählte eine Viertelstunde lang von der Gicht. Gretchen hätte viel lieber von Lene gehört, um zu erfahren, ob ihr die Base jetzt nicht mehr zürne. Als die alte Frau aber gar nicht auf dies Gespräch zu bringen war, fragte sie geradeaus: »Nicht wahr, der Lehnstuhl tut Ihnen wohl? und Lene ist doch gut, daß sie ihn gebracht hat?«

Aber die unverbesserliche Alte entgegnete: »Der alte Stuhl war ihr wohl nicht mehr schön genug, den hat sie gern los gehabt.«

Im nächsten Augenblick war Gretchen schon die Treppe hinunter – der Abschied mußte kurz gewesen sein.


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