Rahel Sanzara
Die glückliche Hand
Rahel Sanzara

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XVIII

Der Knabe trennte sich nur ungern wieder von des Vaters elegantem Haushalt, den hübschen Schwestern, und vor allem von dem Auto, welches sein Vater besaß. Ein Besuch im kommenden Jahr wurde verabredet. Mariu litt in den ersten Wochen ernstlich unter dieser Trennung, er erwog ernsthafte Mittel und Wege, den Sohn für sich zu beanspruchen, ihn in seinem und für sein Land zu erziehen, und es gab dieserhalb das erste Zerwürfnis in seiner bis dahin ungetrübt harmonischen Ehe. Die Frau drohte, zu ihren Eltern zurückzukehren, wenn so etwas überhaupt nur in Betracht gezogen würde, denn ihre eifersüchtige Liebe konnte noch nicht einmal den Gedanken ertragen, daß das Kind der »anderen« in ihrem Hause leben sollte, auch empfand sie den Wunsch des Gatten als eine Zurücksetzung ihrer Töchter, welche die väterliche Liebe bisher voll und ganz allein besaßen. Unter allem natürlich bohrte der Schmerz, daß sie selbst dem Gatten keine Söhne geschenkt hatte. Daß ihrerseits sich auch Lotte nie zu einem solchen Opfer entschließen würde, bedachte niemand.

Der Knabe dagegen erzählte, wieder daheim, in einer völligen Umkehr seiner Stimmung, auf Lottes gierig-eindringliche Fragen nur unwillig von seinen Erlebnissen, meinte geringschätzig, sein Vater sei eigentlich zu dick und zu blaß, könne nicht einmal den Handstand machen, die Frau sei eine Modepuppe und rieche dauernd entsetzlich nach Parfüm, das Auto sei schon ziemlich alt, man habe jetzt doch nur noch Kabrioletts und »le toit découvrable«, Vorderantrieb und Schwingachse, und Motoren in Gummi gelagert sei überhaupt die Zukunft. Die Schwestern seien ja sehr nette Mädels, doch schon mächtig aufs Poussieren aus, keine richtigen Kameraden, im Französischen sei er schon viel weiter wie sie, und Englisch hätten sie überhaupt nicht in der Mädchenschule dort. Und die Stadt sei ja sehr ulkig, aber in Berlin sei eben doch alles viel größer, sauberer und »richtiger«. Sie aber, Lotte, sei direkt nobel gegen den knickrigen Vater, der ihm nur eine alte Uhr mit Schlüssel zum Aufziehen geschenkt habe, wo er doch schon eine moderne Armbanduhr mit Leuchtziffern und 24-Stunden-Zahlen besitze. So etwas wie Lotte, praktisch und tüchtig, gäbe es überhaupt nicht noch einmal, und er könne schon verstehen, daß sie zu dem phlegmatischen Lateiner nicht gepaßt habe.

Über solche Worte staunte Lotte nur immer wieder von neuem. Aber nicht nur, daß sie sich vor ihnen wie ein dummes Ding vorkam, sie schmeichelten ihr noch und mußten Glück sein für ihr Mutterherz. Sie war mit ihrem Kinde nie in die innige Berührung gekommen, nach der es sie verlangte, sie erreichte nicht das glückliche, vertraute Füreinandersein, das sie ersehnte. Der Knabe ging seine eigenen Wege, sie sah ihn selten genug, trotzdem sie, um »ein paar Stunden mit ihm zu haben«, oft genug ihren Tagesschlaf verkürzte. Trotz aller Versprechungen, einmal für sie da zu sein, mit ihr zusammen gemütlich Kaffee zu trinken, für den sie Kuchen mitgebracht hatte, war meist die Wohnung leer, wenn Lotte sich aus ihrem Schlaf und Bette riß, und der Kuchen war verzehrt oder mitgenommen. Vorwürfen gegenüber hatte der Knabe immer sehr plausible Einwände, er hatte stets »etwas Wichtiges« vor. Zu Strafen fand Lotte keinen eigentlichen Anlaß, und jedesmal, ehe ihre Kränkung über sein Wesen auf den Tiefpunkt gelangt war, überraschte er sie plötzlich, indem er sie aus dem Schlaf aufweckte, mit einer vorzüglichen, von ihm selbst bereiteten Schokolade oder mit einer anderen Leckerei, der Tisch in der Küche war zierlich gedeckt, und seine Geschicklichkeit und muntere Liebenswürdigkeit erinnerten sie an den jungen Mariu. – Ein andermal freilich bereitete er ihr wieder eine andere Überraschung: als sie eines Morgens todmüde nach Hause kam, fand sie die kleine Wohnung von wohl zwanzig Jungen seines Alters »besetzt« und ziemlich übel zugerichtet vor, die auf Betten, Sofa und Teppichen genächtigt hatten und für die sie auf Verlangen ihres Sohnes ein »Lagerfrühstück« bereiten mußte, sonst sei er auf ewig blamiert. –

Er hielt es nicht für nötig, sie in seine Pläne und Vorhaben einzuweihen, nie wußte sie, wo er sich außerhalb seiner Schulzeit aufhielt, und ihre besorgten Fragen beantwortete er mit kecken Scherzen, »verulkte« sie. Erst hinterher, als es Verrätereien und Schlägereien unter den Knaben gegeben hatte und man ihr einmal ihren Jungen mit einer klaffenden Kopfwunde anbrachte, erfuhr sie, daß er sich bald der, bald jener politischen Jugendorganisation angeschlossen hatte. Unter ihren pflegenden Händen, unter ihrer schmerzstillenden Behandlung gestand er ihr, daß er bis jetzt dafür gewesen sei, überall mal mitzumachen, aber es sei eigentlich überall derselbe Mist, bloß eine Uniform müsse er auch haben.

Immer klarer prägte es sich in dem Charakter des Knaben aus, daß er befähigt war, aus Welt und Leben so viel als möglich herauszuziehen, ohne das Bedürfnis zu haben, etwas von sich aus hineinzugeben. Stellte sich jedoch einmal eine solche unabwendbare Forderung an ihn oder versagte sich ihm etwas, dann wurde seine anmaßende Lebenssicherheit von Lebensangst umschattet, und mehr als einmal sah Lotte ihren Sohn, der ihr eine glänzende Zukunft zu bereiten versprach, elend zusammengebrochen, sah alle seine Freuden entzaubert. Dann waren Auto, Motorboot, Rennrekorde blödes Zeug, die ganze Welt eitel Schrecken, sie sah ihn zittern vor dem nächsten Tag. Sie mußte zum Beispiel auch mit Schmeicheleien und Komplimenten seine verletzte Eitelkeit befriedigen, sein vollständig zusammengebrochenes Selbstbewußtsein wieder aufrichten, als er einmal im Fußballspiel an einen als schlecht unter den Jungen verschrienen Stürmer sein Tor verlor. »Nein, du bist doch der flinkeste und sportbegabteste Bursche, den es gibt, denke doch an deine vielen Siege! Und einmal verlieren, das passiert jedem, den größten Weltmeistern!« so tröstete Lotte. Ein andermal mußte sie dafür zu dem Lehrer laufen, von dem sich der Knabe ungerecht behandelt fühlte, weil in einer Schulausstellung nicht von ihm die meisten Zeichnungen ausgestellt waren, denn seine Zeichnungen waren doch sogar schon veröffentlicht worden! Das betete Lotte vor dem Lehrer nach. Sie mußte die Versöhnung bewerkstelligen, wenn der Junge sich mit den Mitschülern verzankt hatte. Sie befreite ihn von den entsetzlichen Qualen, als er eines Tages, nachdem er erfahren hatte, daß seine Herbstzensur wahrscheinlich nicht so gut wie die vergangene ausfallen würde, die kleine Hausapotheke erbrochen und von dort irgendeines der weißen Pulver eingenommen hatte, das ihm Übelkeit bereitete. Er glaubte, wirklich sterben zu müssen, und klammerte sich an seine Mutter, der er in diesem Augenblick alle Macht über Leben und Tod einräumte.

War er aber wieder »obenauf«, dann war die Mutter einfach wieder Lotte, der man keine Rechenschaft zu geben brauchte, die man »ein bißchen plem-plem« nannte, wenn sie einem das herrliche Schwimmen verbieten wollte, das man eines Tages ganz von selber konnte, der man ihre kleinen Geschichten aufputzen half, und die »ein hochanständiger Kerl« war.

 

Außer dem einen großen Schrecken, den ihr der Knabe mit der Hausapotheke eingejagt hatte, machte er Lotte keinen eigentlichen Kummer. Im Gegenteil glaubte sie oft genug Grund zu haben, auf ihren Jungen stolz zu sein, und das mußte sie für seine mangelnde Kindesliebe, für ihre unbetätigt gebliebene Mutterzärtlichkeit entschädigen. In den immer wieder auftretenden, wirtschaftlich schweren Zeiten und Krisenjahren, in denen alle ihre Berufsgenossinnen um die sauer verdienten Spargroschen bangten, scherzte Lotte, der Versprechungen ihres Sohnes gedenkend, sie habe wenigstens in eine lebendige Sparbüchse gespart, sie werde es mit Zinsen zurückbekommen. – Indessen wurde auch ihr Krankendienst infolge sparsamerer Verwaltung der Klinik immer schwerer. Lotte mußte nun das ganze dreistöckige Haus bewachen, viele Male in jeder Nacht treppauf, treppab durch die nur notdürftig erhellten Gänge wandern, mit einem ziemlich großen, kästchenartigen Batterielämpchen sich den Boden für ihre Schritte beleuchtend. Ihr Haar färbte sie nicht mehr nach, es verlor seine elastische Kraft, und einige graue Strähnen hingen stets neben ihrer Schwesternhaube herab. Ihr rundes, weitzügiges Gesicht fiel sacht ein, ohne jedoch scharf zu werden, ihre früher gewölbte Brust senkte sich nun dem Leib entgegen, der Rücken neigte sich nach vorn. Nur die runden dunklen Augen zeugten von einer noch immer sich erneuernden Lebenskraft. »Wie ein Waldschrat mit dem Grubenlicht geistere sie in der nächtlichen Klinik einher«, wurde scherzend von Lottes alternder Erscheinung gesagt. In der Wachstube aber saß sie, gehetzt zwischen den knappen Arbeitspausen, von der Begierde, wieder einen der zahlreichen Wünsche ihres Sohnes erfüllen zu können, und quälte sich ab, kleine Geschichten zu schreiben, »Geld heranzuschaffen«. Nur selten gelang ihr etwas so gut, daß es sofort genommen wurde, die Konkurrenz war größer geworden als die Nachfrage auf diesem Gebiet. So half sich Lotte wieder durch Vermieten weiter, was ihren harten Arbeitstag noch mehr belastete.

Was war nun die Erquickung dieser Seele, die Freude dieses Lebens?

Am liebsten hielt Lotte nachts in der Stille der Wachstube, solange sie nicht gerufen wurde, die Feder untätig in der Hand. Und dann sah sie in dem zartgoldenen Dämmer der von der kleinen Lampe angeschimmerten gelben Wände wie in einer matten Glorie ihren Sohn vor sich: sie sah, deutlicher in der Erscheinung als in der Wirklichkeit, er war ziemlich groß für sein Alter, sie sah seinen geschmeidigen, gymnastisch durchgebildeten Körper mit der von Sonne und Wasser gebräunten Haut, seine großen graublauen Augen, welche die Farbe wohl von den ihren, aber den schönen Schnitt und die langen, gebogenen Wimpern von seines Vaters mandelförmigen Augen hatten, sie sah seinen vollen Kindermund, der dem des Vaters sehr ähnlich zu werden versprach, sein dunkelglänzendes, kräftiges Haar, auch dies seinem Vater ähnlich – und nur durch die offenen Züge, die an ihren alten guten Vater gemahnten, und an den etwas großen Ohren erkannte Lotte eine Ähnlichkeit mit sich selbst, und sie verspürte gleich einem Schauer ganz im Innern, gleichsam im Schoß ihrer Seele ein sanftes, trauervolles Erinnern an ihr erstes Kind. – Dann aber sah sie ihren Sohn lachen, sein schönes, nach dem Zahnwechsel regelmäßig besetztes Gebiß blitzte in ihrer Vorstellung auf, und oft ließ sie dann die Feder fallen, lehnte sich in den Sessel zurück.

Blendend in seiner lebenshungrigen Wirklichkeit stand ihr Sohn vor ihr – er war keine umdichtete, verfälschte Traumgestalt wie ihr armes erstes Kind, er war kein schwerkrankes Geschöpf an der verwirrenden Grenze zwischen Jüngling und Mann, wie es Mariu, ihr zweites Kind, gewesen war, nein, sie fühlte seine Lebensgier an ihr saugen, auf unerschöpfliche Kräfte von ihr lauern, und es war ihr, als ob das gierige Lauern der ersten Jugendzeit sich aus ihrer Brust gelöst hätte, Gestalt gewonnen und sie in diesem Kinde von neuem bedränge. – In diesen Sekunden verspürte sie den tiefsten Zweck, die letzte Erfüllung ihres Daseins in seliger Befriedigung: ihr Leben zu verströmen in das Leben des Jungen.

 

In einer Zeitepoche lebend, in der alle Frauen jünger aussahen, als sie an Jahren zählten, mehr Geschwister als Mütter ihrer Kinder zu sein schienen und es seelisch oft auch waren, war Lotte gealtert über ihre Jahre hinaus, war sie nun, der drei Kinder so ungleichen Schicksals geschenkt worden waren, Ahne mehr denn Mutter.

In den Wachstunden vor sich hindösend, auf Klingelrufe schwer in die Krankenzimmer schlurfend, tief vor sich hinseufzend, mit seelenabwesenden Griffen ihrer unverändert »glücklichen Hand« den an sie gestellten Forderungen nachkommend – ein einsamer Mensch zuletzt, allmählich stumpf und verbraucht, nichtachtend körperlicher Leiden, die sich nach und nach einstellten, um Erholungsbeiträge und Altersrenten kämpfend, hielt dennoch sie allein den Lebensfaden ihres frühzeitig klugen, geschickten und begabten Kindes, des danklosen Erben, und sie spann ihn weiter durch die Zeiten des Elends und der Not, nährte ihn mit kärglich-hartem Arbeitslohn, auf daß er wiederernähre ihren Sohn, dem sie immer wieder letzter, einziger Halt war, und es ihm sein wird bis zu ihrem letzten Atemzug – bis zum letzten Schlag eines Herzens, das mehr dem Leben gab als das Leben ihm, und welches ohne Glauben, ohne Zweifel, das schwere Glück der Liebe kannte.


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