Rahel Sanzara
Die glückliche Hand
Rahel Sanzara

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XV

Lotte lebte noch ein volles Jahr ohne Sorgen und in einem Frieden mit ihrem Kind, der nur durch die schwierigen Scheidungsverhandlungen gestört wurde, welche die Kompetenzstreitigkeiten zwischen den Behörden beider Länder mit sich brachten, obwohl beide Eheleute nun von sich aus alles taten, um die Sache so einfach als möglich zu gestalten. Lotte hatte auf Bitten Marius die Scheidung selbst beantragt, und Mariu hatte die Erklärung abgegeben: obwohl die Ehe vor den Gesetzen seines Landes nicht gültig sei, da sie nicht nach dessen religiösen Ritus vollzogen worden wäre, wolle er die Schuld auf sich nehmen, auf das Kind verzichten, und Frau und Kind unterhalten. Trotz all diesem kamen dauernd neue Aktenstücke an Lotte, Fragebogen und Vernehmungen, und sie mußte auf Marius Drängen die Angelegenheit einem teuren, aber in solchen Fällen sehr versierten Anwalt übergeben, der endlich auch einen Termin erreichte.

Es war der übliche Versöhnungstermin, an dem sich die beiden Menschen noch einmal und zum letztenmal für immer wiedersahen. Lotte war sehr gealtert. Das durch die Scheidung verbitterte Glück über ihr Kind drückte sich kaum auf ihrem müden, fahlen Gesicht aus. Mariu dagegen, gepflegt und in vornehme Eleganz gekleidet, erschien glatt und unberührt. Seine mandelförmigen, dunkelsamtenen, etwas frauenhaften Augen mit den langen, schöngeschweiften Wimpern, sein dichtes, straffes, tiefschwarzes Haar gaben ihm immer noch den Reiz exotischer Schönheit, doch war an der ganzen wohlgewachsenen Gestalt erkennbar, daß sie Fett anzusetzen drohte – die Wangen hingen schon ein wenig schwer, die Augen zeigten wohl noch den Ausdruck eines schönen Tieres, das kein Leid kannte, aber um den vollen, edelgeschwungenen Mund lag ein kalter, grausamer Zug, das Zeichen eines allzu unerbittlich dem Glück nachjagenden Menschen.

Beide Gatten sahen sich nur so von ungefähr an. Um der Enttäuschung willen, die sie sich gegenseitig bereitet hatten, schämte sich einer des anderen. Die Entfremdung zwischen ihnen wucherte gerade in diesen Minuten so ungeheuer auf, daß sie alles gemeinsam schöne und traurig Erlebte verdüsterte und erstickte. Nachdem beide ihr Nein erklärt hatten und die übrige Formalität erledigt war, trat der Mann – »unverschämt«, wie Lotte es empfand, daß er es wagte, noch zu ihr und in solcher glatten Liebenswürdigkeit zu sprechen – zu der Frau hin, und sagte mit seiner weichen, etwas verschleierten Stimme, daß er leider sofort wieder zur Bahn müsse, er habe nur knappesten Urlaub erhalten, und es tue ihm natürlich schrecklich leid, das Kind nicht sehen zu können, ob es ihm gutginge, und ob sie, Lotte, noch zufrieden sei mit dem Sanatorium.

Lotte, alles das als Hohn empfindend, wandte ihm vor den anwesenden Anwälten brüsk den Rücken, ohne zu antworten. Mariu, rot bis in die Stirn, zischte wütend vor sich hin: »dumme deutsche Gans« – während Lotte ihn noch lange in Gedanken einen »falschen Windhund vom Balkan« schimpfte, und vor allem die Wiedererlangung ihrer ursprünglichen Staatsangehörigkeit für sich und ihr Kind erstrebte. Aber in dieser unmenschlichen Betrachtungsweise, in der sie einander nur noch geringschätzig als Vertreter fremder Nationen ansahen, wurde die Kluft zwischen diesen beiden Menschen unüberbrückbar, ihre gemeinsame Vergangenheit entwertet und ausgelöscht. Über diesen Abgrund, den ein inneres Verleugnen von so vielen Lebensjahren stets bedeutet, konnten sie beide nur schwer und unvollkommen ein neues Leben aufbauen. Und so kehrte Mariu zu seiner Arbeit und zu seiner jungen, schönen Braut zurück, Lotte zu ihrem Kind.

Lotte beschäftigte sich Tag und Nacht mit dem Knaben. Neben seiner Pflege und Wartung nähte, strickte, häkelte sie für ihn. Sie kaufte einen Photoapparat und nahm ihn in allen Posen auf. Sie überschüttete ihn so lange mit Zärtlichkeiten, bis er sich weinend und kreischend dagegen wehrte. Nahm sie einmal ein Buch zur Hand, ließ sie es nach kurzer Zeit wieder fallen, um von neuem unermüdlich ihr Kind zu betrachten. Keine Romanhandlung konnte so geschickt und spannend geknüpft, keine Schilderung so glänzend und mitreißend sein, als daß sie sie abhalten konnte, lieber Geheimnis und Glück in dem Anblick ihres Kindes zu lesen. Seine Gewichtszunahme, den Zustand seiner Verdauung, seiner Stimmung – wie lange gegreint und in welcher Art, ob traurig-schluchzend, oder mehr kraftvoll-kreischend, oder verzagt-wimmernd, ob noch quakend wie ein kleines Froschungeheuer aus dem Urteich, ob schon klagend wie ein »süßer kleiner Seelenmensch« – die Dauer seines Schlafes, Art und Zahl seiner Bewegungen gewissenhaft zu notieren und mit Ausrufen ihres Entzückens zu umschmücken, das war Lottes schriftstellerische Tätigkeit in dieser Zeit. Für die Leidenden, mit denen sie zusammenwohnte, hatte sie keinerlei Interesse, im Gegenteil, sie wich ihnen aus, wo sie konnte, das Sanatoriumsleben widerstand ihr mit der Zeit und sie blieb nur des Kindes wegen da wohnen, damit es gute Luft und Ruhe habe.

Das Kind gab ungewöhnlich früh Anzeichen einer ebenso ungewöhnlichen Intelligenz, wie aber auch eines herrschsüchtigen Charakters. Der Knabe verstand frühzeitig, seine Mutter zu beschäftigen und in Atem zu halten. Wohl hundertmal nacheinander warf er ein Spielzeug aus dem Bettchen, schrie und krähte, bis es die Mutter ihm aufhob, und kaum hatte er es in den Fingerchen, als er es wieder fortwarf. – Lotte bückte sich geduldig, das Blut schoß ihr in den Kopf, das Herz klopfte ihr, aber sie lachte. Und als sie, einmal doch zu ermüdet von diesem Treiben, das Spielzeug mit einem Band am Bettchen festknüpfte, stutzte der halbjährige Knabe, als der Krach, mit dem sonst das Klapperzeug auf den Boden auffiel, nicht zu hören war, er beugte sich über den Rand des Bettchens, sah das Spielzeug am Bande baumeln und brach über diese Täuschung in ein wütendes, ohrenzerreißendes Geschrei aus.

Lotte, überglücklich und stolz auf die Klugheit und Willensstärke ihres kleinen Knaben, trank unter Küssen die Zornestränen von seinem Gesichtchen, knüpfte das Spielzeug wieder los, und bückte sich von neuem unzählige Male.

Das Kind hatte den Namen Carol bekommen, zu der Zeit, da von der Ehescheidung noch nicht die Rede gewesen war; nun nannte es die Mutter Karlchen.

Umgang mit Menschen hatte Lotte keinen, suchte auch keinen. Es genügte ihr, wenn sie vor den alten, bekannten Schwestern ein wenig die Dame spielen konnte. Sie ließ sie an ihren freien Tagen mit einem Mietauto von der Klinik oder den Schwesternheimen abholen und gab kleine Kaffeegesellschaften, die bei guter Jahreszeit auf dem Balkon ihres schönen, großen Zimmers stattfanden. Immerhin war sie noch »Frau Doktor« und mit ihrem Kinde versorgt, und nur der sie manchmal flüchtig durchzuckende Gedanke: »eigentlich müßte ich noch mehr Kinder haben – eine Tochter zu haben, wäre schön –«, hinderte sie, ihr Leben nun doch als erfüllt anzusehen.


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