Rahel Sanzara
Die glückliche Hand
Rahel Sanzara

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

IX

Der tobende Schmerz Lottes unmittelbar nach dem Unglücksfall war für ihre Umgebung schrecklich anzusehen. Daheim, wo alles sie an das Kind erinnerte, litt sie am meisten. Sie konnte die Kleider ihres Knaben, seine Hefte und Bücher nicht aus den Händen lassen, sie küßte seine Wäschestücke, seine Strümpfe und Schuhe – das Kissen, auf dem er zuletzt geschlafen hatte, durfte nicht frisch bezogen werden, wimmernd lag sie, statt ihren Tagesschlaf zu halten, stundenlang in der einfachen Schlafstube mit dem Gesicht nach unten auf dem Bett und stopfte sich dieses Kissen in den Mund, grub ihre Zähne in die weichnachgebende, fad nach dem ausgewaschenen Leinen des Bezuges schmeckende, kaum einen Menschenduft spendende Federnmasse, als ob sie so ihren jahrelang unterdrückten Hunger nach Zärtlichkeiten stillen wollte. Aber selbst noch in der Wachstube der Klinik schlug sie ohne Beherrschung den Kopf gegen die Wand, versuchte sich die kurzgehaltenen Fingernägel mit Gewalt in die Brust einzukrallen, und kaum war ihr Jammern und Klagen zu bändigen. Die ganze Klinik erfuhr nun von ihrem Schicksal, und abwechselnd bewachten die Schwestern die Nachtwache. Unter der Wirkung von fortgesetzt gereichten Beruhigungsmitteln, die in der Hauptsache Brom enthielten, endete schließlich die Periode höchster Erregungen in tiefer Melancholie. Durch jeden Anspruch ihres Dienstes wurde Lotte gereizt, und ihre Unwilligkeit nahm beinahe einen böswilligen Charakter an, aber ein Urlaubsangebot lehnte sie in höchster Entrüstung wie eine unmögliche Zumutung ab. Nur unter eindringlichem Zureden, Schelten und drohenden Vorstellungen von Oberschwester Laura, die selbst nicht wenig durch den Tod des Kindes betroffen war, tat Lotte das Nötigste, um ihren Posten halten zu können, und auch dann ging es nur, weil man aus Rücksicht auf Schwester Laura, die sich einer großen Autorität erfreute, und aus Mitleid mit Lotte bis zum äußersten nachsichtig war.

In den Nachtstunden, in denen sie früher zwischen ihren Pflichten lauernd geträumt, später in entrückter Phantasie ihre kleinen Geschichten geschrieben hatte, schlief die mit Schlafmitteln betäubte Lotte jetzt im Sitzen, mit offenem Munde, aus dem von Zeit zu Zeit ein gurgelndes Stöhnen kam. Aber ihr gewiß furchtbarer Schmerz galt zuletzt doch nicht so sehr dem Kinde, das auf so entsetzliche Weise sein junges Leben lassen mußte, vielmehr wurde er durch die sich immer noch steigernde Vorstellung genährt, nur ihr, Lotte, sei etwas Furchtbares angetan worden. Das gab ihrer Trauer das Wütende, ihrer Melancholie das Verbissene und Böse. Sie wurde immer unzugänglicher, mit den Eltern sprach sie überhaupt kaum, machte gehässige Bemerkungen über die Mutter, die sich mit Gebeten zu trösten versuchte, Bücher stieß sie von sich, hohnlachend lehnte sie es ab, etwas niederzuschreiben, worauf Schwester Laura sie sanft hinzulenken versuchte. Zuletzt war sie ganz still und stumpf geworden, und alle, die es gut meinten mit ihr, sorgten sich um ihre Zukunft.

So war noch dreiviertel Jahr hingegangen, als der Krieg ausbrach. Wie fast alle jüngeren ausgebildeten Schwestern wurde Lotte sofort zum Roten Kreuz eingezogen und kam im Lauf der Zeit in die verschiedenen Feld- und Etappenlazarette der verschiedenen Fronten.

 

Sie stimmte in die anfängliche Kriegsbegeisterung voll und ganz ein, denn das Erregende des aus gigantischem Grauen bestehenden Erlebnisses, dem anfangs eine winzige Spur wilder Schönheit beigemischt schien, riß sie von ihrem furchtbaren, persönlichen Schicksal völlig fort. Nicht allmählich, sondern gewaltsam und wie mit einem Schlag waren alle Erinnerungen an ihr Kind ausgelöscht, blieben außerhalb des neuen, veränderten, äußeren Daseins, gingen aber auch in ihrem Inneren unter vor den überreich auf sie einstürmenden Pflichten und Eindrücken. Als sie ihrer dann doch nach und nach gewohnt worden war, konnte Lotte inmitten der sich mehr und mehr steigernden Vernichtung ihr Leben noch einmal beginnen. Das saugende, lauernde Träumen der ersten Jugendzeit erwuchs wieder in ihr und ließ sie in jenem alten, gemäßigten Eifer ihrer Tätigkeit nachgehen, bei dem sich ihre glückliche Hand stets so besonders deutlich zeigte. Gleichzeitig ließ sie sich aber auch durch die alte seelenabwesende Gleichgültigkeit wieder in sich selbst verkapseln. Gegen vieles Entsetzliche war sie dadurch gut gewappnet, entfaltete dank dessen ihre gleichmäßig und unbeirrbar wirkenden Kräfte, und ihre nachtwandlerische Sicherheit in der Pflege rettete im Laufe der Jahre mancher Mutter ihren Sohn, manchem Kind seinen Vater.

Nach dem Eintritt Rumäniens in den Krieg war Lotte dort in dem von dem deutschen Armeekommando eingerichteten Seuchenspital einer besetzten Stadt tätig, und hatte kurz vor Kriegsende einen neunzehnjährigen Rumänen in ihrer Pflege, der bis auf den Tod an Ruhr erkrankt war. Er hieß Mariu Foscani und wurde, ohne einen Schuß getan zu haben, als Kriegsgefangener interniert. Seine Mutter war Österreicherin gewesen, er sprach fließend deutsch, und hatte sich als Schreiber und Dolmetsch bei der deutschen militärischen Verwaltung nützlich zu machen verstanden.

Nun war er in seinem Fieber und seiner Hilflosigkeit zum Kind zurückverwandelt, er klagte und wimmerte auf seinem Krankenlager, auf dem er keinen Augenblick Ruhe fand, mit seiner weichen Stimme in den melodischen Lauten seiner Sprache, und Lotte vernahm zwischen den vielen ihr unverständlichen Worten immer wieder den einen langgedehnten und flehenden Ruf: »Madre – Madre!« Und plötzlich begriff sie, daß er nach seiner Mutter verlangte.

Lotte hatte den Ruf nach der Mutter in all diesen Jahren wohl oft genug vernommen, doch bedrückte er sie gerade in dieser Sprache – auch wurde er bei allem Leid doch in solchem urkindlich-egoistischen, heftigen Verlangen von dem armen Kranken ausgestoßen, mit einem gewissen, süßen Trotz im Tonfall, der, wie bei einem recht verwöhnten Kind, jeden Zweifel an der Erfüllung des Verlangens auszuschließen schien, daß dieser Ruf gleich einem Zauberstab gegen Lottes Brust schlug: ein Kind rief mit solcher Kraft der Seele nach der Mutter, daß eine Mutter zur Stelle sein mußte. Plötzlich strömte Lotte über von unermüdlicher Energie und Willenskraft, die darauf abzielten, diesen verseuchten Menschen, einen von den Ärzten fast aufgegebenen Feind unbedingt zum Leben zurückzuretten. Als sie erfuhr, daß seine Mutter vor den Kriegswirren nach ihrer Heimat, nach Wien geflohen und dort an einer Lungenentzündung gestorben war, bestärkte dies Lotte noch in ihren mütterlichen Bemühungen. Tag und Nacht war sie nun in einer Weise um den jungen Menschen besorgt, wie sie sie anderen Kranken nicht angedeihen lassen konnte. Unzählige Male wusch und reinigte sie ihn, machte zeitraubende Spülungen, legte warme Umschläge um den eingeschrumpften, bei der leisesten Berührung schmerzempfindlichen Leib, hob den Kranken in Sitzbäder, flößte ihm Medikamente ein, stellte sich in jeder freien Minute an sein Bett, streichelte ihm das verzerrte Gesicht, hielt ihm die Hand, murmelte beruhigende Worte, und brachte ihn manchmal in Schlaf, der ihm guttat, auch wenn er nur eine Viertelstunde dauerte. Obwohl Lotte sehr unter der Überanstrengung gerade der letzten besonders schweren Dienstwochen litt, war sie doch jedesmal glücklich, wenn der Tag kam, an dem sie frei hatte und vierundzwanzig Stunden abgelöst wurde. Der Kranke wiederum beklagte sich wie ein Kind, wenn er des Morgens aufwachte und sie nicht bei sich fand. Lotte lächelte glücklich, als man es ihr erzählte.

 

Als dann der endlich Genesende an Lottes Arm die ersten, schwachen Schritte wankte, hatte er sich schon, ohne daß es beiden klar war, in jeder Beziehung an sie geklammert. Er war durch den Krieg vollständig verarmt und verwaist, sein Elternhaus in der Nähe der eroberten Stadt war zerstört, die Familie zerstreut, sein Vater gefallen. Hemmungslos weinte sich der junge Mensch vor Lotte aus, klagte, daß nicht auch er zugrunde gegangen sei, denn so einsam und verlassen könne er sich kein Leben denken, auch wisse er in keiner Weise aus noch ein. Lotte mußte ihm diese Reden verweisen, er solle doch danken dafür, daß gerade ihm unter so ungeheuer vielen Kriegsopfern das Leben erhalten geblieben sei; ganz sicher sei ihm bei seiner Jugend noch vieles Schöne darin beschieden – und es werde sich schon alles finden, jetzt müsse er vor allem einmal wieder zu Kräften kommen, dann würden solche trübe Gedanken von selber vergehen! Der junge Mensch lächelte über vor Schluchzen noch bebender Brust zu diesen Trostesworten, ergriff Lottes Hand und preßte sie in einer Geste überströmenden Dankes gegen sein Herz, worüber Lotte vollends hingerissen ward. Sie trocknete sorgfältig die Tränen von seinen mandelförmigen, dunkelsamtenen Augen, deren Lider von langen, schöngeschweiften Wimpern umsäumt waren.

Während das Gesicht des Rumänen eine weiche, gelblichzarte Frauenhaut zeigte, mit einem nur hauchdünnen Bartflaum auf der Oberlippe, war sein langer, schmaler Kopf mit dichtem, glänzend blauschwarzen Haar bedeckt, das Lotte bewundern mußte. Fein und schmal waren auch die Hände dieses jungen Mannes, fast weiblich war seine schlanke und biegsame Taille über den etwas vollen Hüften.

Lotte war um fünfzehn Jahre älter als er. Ihre mittelgroße, unauffällige Gestalt war durch die harten Kriegsdienste sehr mager geworden, was ihre ein wenig dicken Gelenke noch mehr hervorhob. Ihre weiten, etwas gewöhnlichen Gesichtszüge, denen ihres Vaters so ähnlich, zeigten jetzt zwar wieder eine gewisse Beweglichkeit, vor der aber die frühere melancholische Stumpfheit noch nicht ganz verdrängt war. Hübsch und noch völlig mädchenhaft waren an ihr das nußbraune Haar – das sie noch immer in den Freistunden vom straff gezogenen Scheitel zu auftoupierten Löckchen und zum Dienst wieder vom Löckchenschmuck zum schlichten Scheitel zurückfrisierte – und ihre runden »Schwarzkirschenaugen«. Diese Augen veränderten sich leicht und spiegelten ihr inneres Leben wider: sie zeigten sich oft verschleiert, beinahe mit bleiernem Schein im stieren Blick, wenn Lotte apathisch ihren manchmal fast zu schweren Pflichten nachging – dann wieder, wenn sie ruhte oder sich »etwas ausdachte«, bekamen sie einen feuchten, dunklen Glanz, und sie hatten kleine Lichter, wenn Lotte lebhaft und erweckt war.

Diese kleinen Lichter, die jetzt oft ihre Blicke belebten, entlockten jedesmal, wenn er sie entdecken konnte, dem jungen Rumänen ein entzücktes Lächeln und ein verändertes, männlich-galantes Benehmen. Als Lotte einmal sagte, sie wäre nun mal seine Pflegemutter, widersprach er geschickt, an ihren Augen hängend: »Nein, bitte nicht Mutter, meine Schwester könnten Sie sein!«

»Nein, nein«, bestand Lotte eifrig darauf, »Ihre Mutter, Madre!« –

»O fein, so junge Mutter! Dann kann ich Ihr noch ungeborenes Kind sein!« sagte Mariu mit unschuldig-schmeichlerischem Lächeln. Dann aber bemerkte er nicht ohne Stolz, daß Lotte errötete.

Es war keine kalte Berechnung, eher das instinktiv richtige Bemühen um die Rettung seines jungen Selbst, das den Rumänen sich so voller nichtsverpflichtender, dennoch zweideutiger Vertrautheit und Zärtlichkeit gegen Lotte benehmen ließ, sich ihr mit einer charmanten, werbenden Aufdringlichkeit, in der er alle Vorzüge seines Wesens entfaltete, anhängen ließ. Lotte jedenfalls gab sich rückhaltlos dem neuen Erlebnis hin, das ihr so unerwartet entgegengekommen war.


 << zurück weiter >>