Rahel Sanzara
Die glückliche Hand
Rahel Sanzara

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XII

Mariu und Lotte spielten jetzt Liebespaar wie ehemals Mutter und Sohn, aber jenes wie dieses war nicht echt, im Grunde nicht ganz wahr. Nicht der lautere Zwang der Gefühle, nicht das frei strömende Gesetz der unwiderstehlichen gegenseitigen Neigung war der Boden, auf dem sie die Bahn ihrer Liebe abschreiten konnten, und so hatten ihre Zärtlichkeiten immer mehr einen peinigenden, zuletzt fast lasterhaften Charakter angenommen – denn der Mann wandelte in einem stetig anwachsenden Gefühl der Erbitterung über seine Abhängigkeit von der Frau, diese seine Demütigung in wollüstige Brutalität um, und die Frau ließ sich brutalisieren und quälen, um ihr Unglück lustvoll zu machen. Aber in ihren leidenschaftlichsten, quälerischen Umarmungen sehnten sich beide aus der Tiefe der unerfüllten Herzen heraus nach einem reineren Glück. Die verzweifelt zitternde Frau im Arm, raffte der Mann endlich einmal alles Gute seines Wesens zusammen und raunte ihr zu: daß er von jetzt ab sie nicht mehr berühren, sondern nur arbeiten wolle und nichts als arbeiten, um sie so bald als möglich heiraten zu können, denn dann würde und müsse doch alles ganz anders und schöner zwischen ihnen werden. Nach diesem Ausspruch, der ihn und sie gleichsam zu reinigen schien, sanken sie zum erstenmal einander in inniger Rührung in die Arme, ruhten still Kopf an Kopf, und in Lottes gelöstes Schluchzen mischten sich die wohligen Tränen Marius.

Noch ein anderes Ereignis machte ihr Zusammenleben wieder besänftigter und menschlicher. Der alte Vater, plötzlich vereinsamt in dem Aufruhr der leidenschaftlichen Verstrickung des Paares, hatte begonnen, still, ohne Klagen und besondere Krankheit zu verfallen. Auf der Rückfahrt vom Grabe seines Enkels, an einem heißen Augustnachmittag, traf ihn ein Schlaganfall, und er starb die Nacht darauf in einem Krankenhaus, wohin man ihn aus der Straßenbahn transportiert hatte. In der Trauer um ihn verbanden sich Mariu und Lotte aufs neue, doch traf den Rumänen der Tod des Alten noch in anderer Weise: er hatte das Gefühl, einen Freund verraten zu haben. Er wurde still und wehmütig, bewahrte sich kleine Erinnerungszeichen an den alten Mann auf, seine Pfeife, sein Taschenmesser, mit dessen Hilfe der Alte die Bleistifte immer so fein gespitzt hatte, ferner auch das Halstuch, das Mariu ihm so oft um den faltigen, aber immer noch bräunlichen Hals in einem »feschen« Knoten geschlungen hatte.

Mariu stürzte sich nun mit aller Gewalt in seine Arbeiten. Doch war es nicht allein sein nächtlicher Zuschwur an Lotte, der seine Kräfte so stetig und erfolgreich vorwärtstrieb, sondern es war auch ein neues leidenschaftliches Interesse für die auflebenden, nationalen Bemühungen seines Vaterlandes, nach den bedrückten Kriegsjahren zu neuer Bedeutung und Blüte zu kommen, was seinen Eifer anspornen half. Ja, seine ferne Heimat wurde plötzlich seine neue Liebe, ein in Freiheit der Zukunft winkendes Ziel gegen die verwirrenden und verwirrten Fesseln der Gegenwart, und er setzte sofort rücksichtslos alle seine Kräfte dafür ein. Er hatte bisher ausschließlich und in vollster Zufriedenheit unter den einfachen Menschen seiner nächsten Umgebung gelebt, nie einen Wunsch nach anderem Umgang gehegt, nie versucht, mit der Heimat wieder in Verbindung zu treten, so sehr war Lotte ihm Heimat gewesen, Mutterland, aus dem er sich nun selbst, männlich entwachsen, vertrieben hatte. Nun ließ er keinen Weg unbeschritten, um wieder mit dem Vaterland in Berührung zu kommen. Trotz ihres anfänglich stillen Widerstandes, trotz ihres späteren Jammerns und Klagens setzte er es bei Lotte durch, seine Studien in Paris zu vollenden, wo er hoffen durfte, Anschluß an einflußreiche, zukunftsfreudige Landsleute zu finden, die dort lebten. Lottes Bitten und Beschwörungen waren umsonst, vergebens war ihr Weigern, ihm Geld zu geben, im Gegenteil, er forderte es zum erstenmal und in energischer Weise von ihr, sich mit dem Hinweis auf die versprochene Heirat rechtfertigend, für die er eine sichere Basis schaffen müsse. Als er Lottes Koffer vom Boden geholt hatte und mit dem Einpacken beginnen wollte, gab sie ihm in einer furchtbaren Szene sein Heiratsversprechen zurück um den Preis, daß er nicht fahre. Er schien gerührt, nahm sie in die Arme, beruhigte sie mit sanften, noch nie gekannten Zärtlichkeiten, die sie trostesdurstig in sich eintrank. Doch zwei Tage später, als Lotte vom Dienst nach Hause kam, war er fort, ohne Abschied, hatte keine Adresse hinterlassen.

 

Lotte glaubte sich ein für allemal von ihm verlassen. Zum zweiten Mal in ihrem Leben gab sie sich ihrem leidenschaftlichen Schmerz hemmungslos hin. Sie warf sich über Marius Bett, wollte ihre Schreie mit seinem Kissen ersticken, doch anders wie von ihrem zarten Kinde einst, brachte sie der Geruch seines Körpers, der dem Leinen entströmte, wieder auf. Sie tobte im Zimmer umher, warf alles, was des Geliebten Hand berührt hatte, zu Boden, wobei sie mit marternder Genauigkeit keinen Gegenstand ausließ– »das noch!« schrie sie, »und das noch!« – und zerschlug seinen porzellanenen Aschenbecher, riß eine Draperie über dem Schlafsofa von der Wand, eine rumänische Stickerei, die er selbst da angebracht hatte, und auf dem sorgfältig zusammengetragenen Trümmerhaufen trat sie dann umher. Sie war die ganze nächste Zeit in einem furchtbaren, unberechenbaren Zustand, und in der Klinik zwang man ihr einen dreitägigen Urlaub auf. Diese Tage verbrachte Lotte auf dem Friedhof. Erschöpft, mit der Sehnsucht nach Tod im Herzen, saß sie stundenlang abwechselnd am Rande ihrer drei Gräber, dem des Vaters, der Mutter und auch des Kindes. Doch am Grabe der Mutter verharrte sie am längsten, sich den strengen Frieden ihrer Seele herbeiwünschend. In den Nächten jedoch lief sie wieder in voller Kraft der Verzweiflung in der kleinen Wohnung umher, Mariu liebevoll beschwörend, Mariu verfluchend.

Nach nicht ganz einer Woche erhielt sie seinen ersten Brief. Aus jedem Buchstaben strömte ihr in Fülle neue Lebenslust und Seligkeit des Daseins zu. Er schrieb mit seinen drolligen orthographischen Fehlern in der deutschen Sprache, worüber sie mehr als einmal auflachen mußte – er schrieb glücklich wie ein Kind, erschien in dem Briefe frei und charmant wie zu jener Zeit, da er als Genesender an ihrem Arm durch die Gänge des Krankenhauses in Rumänien geschwankt war und ihr kindlich-zärtlich geschmeichelt hatte. In diesen glücküberstrahlten Worten teilte ihr Mariu mit, daß er die sichere Aussicht habe, ein rumänisches Stipendium zu erhalten, und erzählte ausführlich von seinen vielen neuen Freunden, mit denen er Tag und Nacht zusammen sei und in der Muttersprache reden könne. Lotte, eben des Geliebten selig nahe und sicher wie noch nie, erschrak – von neuem glaubte sie, ihn zu verlieren, wenn er ihr Geld nicht mehr brauchte. Sie antwortete ihm sofort, bot ihm dringend welches an, machte ihm klar, daß er doch kein Stipendium brauche, das er einem anderen, dessen wirklich bedürftigen Kameraden überlassen solle – und voll gieriger Sehnsucht nach dem Geliebten saß sie, um möglichst viel Geld zu verdienen, in den Nachtstunden in der stillen Wachstube der Klinik und schrieb kleine Geschichten. Sie gingen ihr jetzt wieder schnell von der Hand, ihre Phantasie war neu erweckt, alle Qualen ihrer plötzlichen Einsamkeit, alles ungestillte Verlangen befeuerten sie, wenn sie nun das Schicksal verlassener Frauen zu schildern versuchte. – In ihrem Streben nach Geld vermietete Lotte auch das Zimmer, das ihr Geliebter bisher bewohnt hatte, eine ältere Abteilungsvorsteherin von einem Warenhaus zog zu ihr. Wenn Lotte nun morgens vom Dienst nach Hause kam, mußte sie die Mieterin bedienen, die, wie sie fand, anspruchsvoller und bequemer war wie ein Mann, mußte die Wohnung aufräumen, alles herbeiholen, was sie für sich und die Hausgenossin benötigte, kam immer weniger zum Ruhen und Schlafen, hatte keinerlei Freuden, da auch Mariu selten und sehr kurz nur schrieb – aber sie besaß am Ende des Vierteljahres eine größere Summe als je und konnte sie nach Paris schicken.

Als der Geliebte ihr umgehend die Hälfte davon zurücksandte mit dem Bemerken, sie müsse jetzt auch endlich für sich etwas tun, an hübsche Kleider denken und so weiter, da er sie doch hoffentlich bald seinen Freunden und Landsleuten würde zeigen können – was alles eng zusammengedrängt auf dem Abschnitt der Postanweisung gekritzelt war –, da empfand Lotte ein reines, jugendliches, heißes Glück, das einzige wahre Liebesglück, das ihr im Leben beschieden war. Nachts, in ihren Wachstunden saß sie wieder wie als junges Mädchen da, unbeweglich, untätig, doch ganz hingegeben dem neuen, zarten Glücksempfinden. Sie vermochte in diesem Zustand nichts zu schreiben, kam dem Vertrag mit der Zeitung nicht nach und mußte gemahnt werden. Ohne wahren Auftrieb machte sie sich an diese Arbeit, dachte dabei glückselig, daß sie es vielleicht doch bald nicht mehr nötig haben würde, Geld zu verdienen, daß ein Mann für sie sorgen und ihr nichts weiter mehr zu tun übrig bleiben würde, als ihn, Mann und Kind in einem, zu lieben. Schwer stapfte sie wieder die Korridore der Klinik entlang, schwer seufzte sie wieder von Zeit zu Zeit auf, wenn sie sich seelenabwesend und mechanisch mit den Kranken beschäftigte, doch es war ihr schwer vor Glück.

Das von dem Geliebten zurückgesandte Geld trug sie in den nun wirtschaftlich wieder beruhigteren Zeiten auf die Sparkasse, zahlte es aus Bequemlichkeit auf das alte Konto Hermann Schuhmacher ein.

Wie ganz am Anfang ihrer Tätigkeit zog sie wieder täglich vor Antritt des Dienstes für ein paar Stunden Zivilkleider an. Es war die Mode der kurzen Röcke, und es tat Lotte wohl zu entdecken, daß sie zwar etwas kräftige, aber ziemlich gerade und gut geformte Beine hatte. Sie zupfte sich wieder den Scheitel locker, toupierte die Löckchen. Ihr immer noch dichtes, nußbraunes Haar zu einem Bubikopf abschneiden zu lassen, hatte sie aber doch nicht den Mut. – So ging Lotte bei ihren Besorgungen für den kleinen Haushalt wieder langsam schlendernd durch die Straßen, an den Schaufenstern der Geschäfte vorbei, müde und unausgeschlafen, von Glück und Leben träumend wie in jungfräulicher Jugend.


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