Rahel Sanzara
Die glückliche Hand
Rahel Sanzara

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XVII

Die Natur des Knaben schenkte ihm einen glücklichen Widerstand gegen seine Lage. Von klein auf war es ihm gelungen, sich überall lieb Kind zu machen, er hatte eine gewisse, charmante Aufdringlichkeit an sich, besaß die Gabe schneller Auffassung bei allerdings etwas oberflächlichem Interesse, und weiter eine Intelligenz, die sich frühzeitig in Aussprüchen voller Drollerei und Witz äußerte. Er war von einem raffiniert angewandten Egoismus. Von klein auf interessierte er sich fast ausschließlich für die Angelegenheiten der Erwachsenen. Nur notgedrungen spielte er mit seinem Pflegebruder, und dann ließ er den kleinen Tolpatsch seine Überlegenheit in allen Dingen so sehr spüren, daß es immer nur Kummer und Tränen für ihn bei diesen Spielen gab. – Als winziger Knirps schon machte sich Lottes Knabe unbefangen und keck mit allen Menschen seiner Wohngegend bekannt, kundschaftete die Ladentische und Vorratsräume der Geschäfte aus, stellte sich neben Zeitungsverkäufern auf und schrie mit so altklugem Gesicht und Ausdruck die Namen der Blätter und die Schlagzeilen der Artikel nach, daß alles stehenblieb, lachte, ihn anstaunte oder gar beschenkte. Er war täglicher Gast in den Garagen, wo er mit unter den Wagen herumkroch und bald jede Hantierung, die zu dem Betreiben eines Motorwagens nötig war, vom Zusehen kannte und ebenso jede Schraube des Motors selbst. Von manchem Gehilfen wohlgelitten, nahm man ihn auf Probefahrten reparierter Wagen mit, und draußen, wenn »keiner kam«, nahm ihn der kinderliebe Führer auf den Schoß, ließ ihn mit den kleinen, feinen Händchen das große Steuerrad halten und behauptete dann, Karlchen halte schon mit fünf Jahren ganz allein den Wagen fest bei dreißig Kilometer Geschwindigkeit. Zur Stärkung seines ohnehin schon anspruchsvollen Selbstvertrauens glaubte das der Knabe ohne weiteres, wollte nur die Kilometerzahl gesteigert haben, und zuletzt mußte man ihm versichern, er könne auch schon bei siebzig Kilometer den Wagen steuern. – Frühzeitig bastelte der Knabe mit größtem Geschick und Talent, reparierte Störungen in den elektrischen Leitungen und den Rundfunkanlagen. Doch interessierte ihn alles nur einmal. Konnte er etwas, verlor er sofort die Lust daran und wiederholte es freiwillig nie. – Kaum hatte er gelernt, halbwegs fließend zu lesen, als er mit verblüffendem Eifer und gewissem Verständnis die Zeitungen studierte und bald in allem Bescheid wußte, angefangen von der Politik bis zu den Schlagworten der Inserate.

In der Schule hatte sich nach kurzer Zeit seine auffällige Begabung im Aufsatzschreiben bemerkbar gemacht, und zwar eine Begabung, die gerade noch schulgerecht war, nämlich mit gewandtem Ausdruck, ohne den Ballast eigener Phantasie, aber mit einem Zug von scharfer Beobachtung und äußerer Logik das aufgegebene Thema zu behandeln. Auch rechnete er vorzüglich, amüsierte den Lehrer mit frühreifen, ironischen und witzigen Antworten in Geschichte, Naturkunde und selbst auch in Religion. Er war schneidig und gewandt in der Turn- und Spielstunde, und der Klassenlehrer ließ Lotte kommen und sagte, daß es jammerschade wäre, wenn »dieses patente Kerlchen« nicht eine höhere Schule besuchen würde. Lotte nickte nur. Sie war bereit, es zu ermöglichen. Die Pflicht, für das Kind zu sorgen, mußte ihr die viele Trennung von ihm, die fehlende Freude an dem Zusammenleben mit ihm ersetzen, und es trat in Lottes Leben wieder jene Wandlung ein, daß, je schwerer diese Pflicht wurde, um so leichter sie den Verlust an Freude aufwog.

 

Dem hübschen, zierlichen, gesunden und lebensgewandten Knaben hatte Lotte im Laufe der Zeit immer mehr befangen und fast befremdet gegenüberstehen müssen. Ihre triebhafte Mütterlichkeit konnte ihm nichts bedeuten. Von ihren Küssen und Umarmungen machte er sich in kräftiger Abwehr frei, und als er kaum laufen und sprechen konnte, empfing er sie an den Tagen, da sie ihn besuchte, mit den stereotypen Worten: »Was hast du mit für unser nettes Karlchen?« – Das sollte heißen und hieß dann später immer deutlicher: was hast du mitgebracht? Zog Lotte dann das Geschenk hervor, ohne welches sie fast nie zu kommen wagte, ergriff es das Kind ohne weiteres, lief schnell damit abseits, um es genau zu untersuchen, es mit dem, was es vielleicht bei anderen Kindern oder in einer Geschäftsauslage gesehen in scharfem Gedächtnis zu vergleichen, es zu kritisieren – »der Irma ihr Ball ist aber größer, und das ist auch kein richtiger Gasball«, oder »bei Wertheim gibt es den Zeppelin richtig aus Aluminium, warum hast du so einen aus Pappe gekauft?« – Selten war der Knabe zufrieden, und nicht immer kam er der Bitte der Mutter nach, ihr doch zu danken.

Als es nun soweit war, daß ihr Knabe in eine höhere Schule übergehen sollte, und Lotte es für dringend hielt, den wohl höheren, aber ungleichmäßigeren Verdienst in der Privatpflege gegen einen durchschnittlichen sicheren zu vertauschen, überwand sie alle Scheu und ward in der Klinik, in der sie früher gearbeitet hatte, wieder vorstellig. Man empfing sie, von deren veränderter Lebenslage man natürlich schon wußte, mit taktvoll gedämpfter Freude, gab ihr, da augenblicklich nichts frei war, vertretungsweise Beschäftigung, aber nach einem Vierteljahr konnte Lotte ihren alten Posten als Nachtwache richtig wieder beziehen. Sie, drei weitere Pflegerinnen, die noch unter Oberschwester Laura gearbeitet hatten, und einer der früheren Assistenzärzte bildeten nun die alte »Ehrengarde« im Pflegepersonal der Klinik.

 

Lotte bezog ihre kleine Wachstube nach allem, was sie erlebt, mit dem wehmütig-entspannten Gefühl wieder – geschlagen und enttäuscht zwar, aber doch daheim zu sein. Nachdem endlich über Jahr und Tag nach der Geldsendung für den Transport ihre in die Ehe eingebrachten Möbelstücke und Einrichtungsgegenstände zurückgekommen waren – welche sie ohne Schmerz oder Bitterkeit wiedersah, an deren gediegener Schönheit sie sich freute und dabei ihren eigenen guten Geschmack lobenswert fand –, richtete sie sich in der Nähe des früheren elterlichen Heimes eine kleine Wohnung ein und nahm ihren Knaben zu sich. Sie wollte das Leben ihrer besten Jahre wieder aufnehmen, wollte arbeiten und sparen. Sofort begann sie auch wieder ihre alten Versuche, durch »Schreiben nebenbei« noch Geld zu verdienen. Aber in ihr brannten keine noch so kleinen Funken der Phantasie mehr, ihre Geschichten waren hölzern, in jeder Beziehung langweilig, und kamen zurück. Die Hoffnung, die sie gerade jetzt zu hegen begonnen hatte, unter ihrem Pseudonym wieder so bekannt und gut eingeführt zu werden, um später einmal die Krankenpflege ganz aufgeben und nur als Schriftstellerin neben ihrem dann erwachsenen und gebildeten Sohn leben zu können, wurde dadurch ein für allemal zerstört. Sie weinte bitterlich vor Enttäuschung und Schmerz, und teilte ihr Mißgeschick auch dem Knaben mit, zur Entschuldigung dafür, daß sie ihm den gewünschten Tennisunterricht abschlagen mußte.

Er schmollte, ließ sich dann das Geschriebene zeigen, sagte schonungslos, es sei ledern, schlecht geschrieben und unbrauchbar, vor allem vollständig unmodern, solche privaten Gefühlsduseleien würden keinen mehr interessieren, sie müsse etwas Allgemein-Typisches schildern. Er setzte sich hin, ein Knabe von zwölf Jahren, und besserte die Arbeit seiner Mutter aus, versah sie mit Schlagwörtern, die er aus seiner reichlichen Zeitungslektüre, von Vortrags- und Versammlungsplakaten kannte, gab einige seiner witzigen Bemerkungen aus der Schule dazu und eine neue, freche Überschrift. So verändert wurde die Sache nun doch angenommen, und Lotte »arbeitete sich« mit Beistand dieses Lehrmeisters »wieder ein«. – Über Gebühr die Einfälle ihres Sohnes bewundernd, sich selbst klein und unfähig hinstellend, vor Vergnügen in ein kindisch-kreischendes Lachen ausbrechend, suchte sie sich bei dieser sonderbaren Zusammenarbeit gleichsam in eine nahe Kameradschaft mit dem Knaben einzuschmeicheln. Doch dem wich dieser geschickt aus, er entwickelte allein für seine Person einen höheren Ehrgeiz als den, mit seiner Mutter zusammen zu kämpfen und Erfolge zu haben. Ohne daß Lotte vorher etwas davon erfuhr, erschien etwas später in einer großen Zeitschrift ein nachgedruckter Schulaufsatz von dem Sohn, dessen Text er illustriert hatte. Die Zeichnungen besonders brachten in ihrer Mischung von primitivster Technik und verblüffender, einen überlegenen Witz offenbarender Charakteristik eine starke, fast unheimliche Wirkung hervor, für welche die Zeit sehr empfänglich war. Im Thema des Aufsatzes setzte sich der Knabe in frühreifer und sicherer Weise mit dem Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler auseinander – er schlug unter anderem vor, der Lehrer solle weder sich, noch den Schüler, noch den Lehrstoff, überhaupt die ganze geistige Lehrmeisterei »halb so wichtig« nehmen.

Der Knabe wurde nach dem Erscheinen dieser Arbeit gefeiert wie eine Primadonna. Er erhielt Blumen, Konfekt, Bücher und Spielsachen und galt als große Hoffnung – in welcher Weise freilich, wurde nicht genau umschrieben. Er erhielt Anträge von Filmgesellschaften und bewies in einer durchgeführten Kinderrolle eine glänzende, schauspielerische Begabung. Er hätte beizeiten anfangen können, wenn auch nicht seine Mutter zu unterstützen, so doch ihre Sorgen um seine Existenz zu verringern, obwohl Lotte gar nicht stolz und eher entsetzt war, als sie ihr Kind auf der Leinwand inmitten einer leidenschaftlichen Liebesszene erblickte, bei der er den übermütigen Störenfried spielen mußte. Sein Gesicht, das sie oft genug mit leidenschaftlichem Entzücken betrachtet hatte, schien ihr da fremd wie ein Spuk, seine Schönheit verzerrt, seine mimischen Bewegungen taten ihr wehe. Es war ihr, als hätte sie instinktiv darum von Jugend an Kinovorstellungen nicht gemocht. Sie machte sich schwere Gewissensbisse darüber, daß sie um der hohen Summe willen diese Sache zugegeben hatte. – Da jedoch das Temperament ihres Knaben ohnedies sich nach wie vor für jede Sache nur einmal interessieren ließ und es ihm zuletzt schon langweilig geworden war, sich stundenlang in den Ateliers herumzudrücken, wo er »den Betrieb nun schon so genau kannte«, hatte es immer so viel Schwierigkeiten gemacht, ihn rechtzeitig zu den Aufnahmen dazuhaben, daß zu Lottes Erleichterung ein geplanter Serienvertrag nicht zustande kam.

Lotte versuchte, andere Ideale in ihm zu erwecken: ihre so gut wie erstorbene Begabung glaubte sie ihm vererbt, »abgegeben« zu haben, nun sollte er sie erfüllen, größer und besser, als sie es je gekonnt, er sollte ein »wirklicher, ein reiner Dichter« werden – und mit erschauerndem Verständnis begann Lotte in dieser Zeit, Gedichte von Goethe zu lesen. Doch der Knabe lachte sie nur aus. Zum Dichten fehle ihm der Idealismus und das Sitzfleisch, und habe Lotte denn nicht davon gehört, daß Goethe der jetzigen Generation nichts mehr zu sagen habe? Sie lebe wohl richtig wie auf dem Mond. Da solle sie sich nur nicht wundern, wenn sie eines Tages herunterfalle, und alles wäre ganz anders geworden! Nein, da habe er vorläufig ganz andere Interessen. – Und seine Ansprüche stiegen mit seinen Erfolgen. Er ließ keine Ruhe, bis er sich von dem selbstverdienten Geld eine kleine Filmkamera anschaffen durfte, denn er wollte nun selbst Regisseur und Operateur spielen, überhaupt waren Apparate aller Art seine Leidenschaft, und er wollte zuletzt von Lotte Auskunft haben, ob man den Rest des Filmhonorars nicht so »anlegen« könne – vielleicht in einem guten Börsenpapier –, daß es später für ein Paddelboot, oder ein Motorboot, wenn nicht für ein Kleinauto reichen würde? Er wolle einmal Reisen machen und die Welt kennenlernen, auch Boxen und Fliegen wolle er lernen, in Rennen neue Rekorde aufstellen. – »Ich will mal einfach mit Spaß mächtig viel Geld verdienen!« versprach er seiner erstaunten Mutter.

 

In der neuen Schule hatten sich neue Talente erwiesen: seine ursprüngliche Begabung für fremde Sprachen. Aber auch aus diesen Fähigkeiten erwuchsen neue Forderungen an Lotte. Mit den schönen nackten Füßen auf seinem rollenden Medizinball balancierend, erklärte ihr der Knabe, der Lehrer habe ihm schon gesagt, daß er in drei Jahren zum Austausch nach London geschickt würde, später vielleicht auch nach Paris, und ob Lotte die Hälfte einer anständigen Aussteuer und des Reisegeldes »schaffen« könne, denn sein Erspartes solle doch möglichst für die Zukunft bleiben. Wenn er dann erst richtig verdiene, würde er ihr ein kleines Landhaus kaufen, fein, irgendwo im Gebirge, dort könne sie Hühner züchten oder treiben, was ihr Spaß mache. Was ihr denn nun überhaupt Spaß mache im Leben? – Als Lotte ihm auf diese Frage, zitternd vor seinen Zukunftsplänen, klarzumachen suchte, daß der einzige Spaß im Leben und ihre ganze Freude doch nur sei, mit ihm zusammenzuleben, beruhigte er sie: er komme dann schon immer mal »angebraust«, um sein »gutes Lotteken« zu besuchen.

Seit seinem achten Lebensjahr nannte der Knabe seine Mutter Lotte. Als er bei irgendeiner Gelegenheit erfuhr, daß sein Vater Mariu hieß, fand er das so auffallend, daß sein Interesse aufs höchste erregt war. Er quälte Lotte so lange, bis sie es zugab, daß er seinen Vater, »den ollen Lateiner«, wie er sagte, besuchen durfte. Er erpreßte gewissermaßen unter allen möglichen Methoden von ihr die Adresse, die sie nur schweren Herzens gab, und schrieb unbefangen, unter der Anrede »Lieber alter Herr«, daß es doch eigentlich sehr nett wäre, wenn Stamm und Ableger sich gegenseitig einmal begutachten würden, was doch nur bei der Spezies homo sapiens möglich wäre, und so schlage er ohne weitere Umstände einen Besuch seiner wissensdurstigen Persönlichkeit in den nahen Osterferien vor. Die Erlaubnis seiner Mutter habe er. – Mariu antwortete im gleichen unbefangenen, kameradschaftlichen Ton, daß er sich auf den Besuch sehr freue, für die Erlaubnis Lottes danke und nur im ungewissen darüber sei, wie die Reise zueinander bewerkstelligt werden solle. Er habe leider keine Zeit, zu dem vorgeschlagenen Termin nach Berlin zu kommen und Carol abzuholen.

»Carolus magnus, Donnerwetter, ein feiner Titel«, lachte der Knabe und fügte zu seiner Mutter hinzu: »der hat Angst, daß du mitkommst und ihm auf die Bude rückst!« – Und so schrieb er dem Vater beruhigend, daß er »seinem Sohne« nur bis an die deutsche Grenze entgegenzufahren brauche, bis dahin sei ihm auch von seiner Mutter die Alleinreise gestattet.

Lotte, in Empfindungen höchster Angst über diese Reise und die Annäherung überhaupt versetzt, konnte dennoch, wie stets, den stürmischen Bitten des Knaben nicht widerstehen. Ihr blieb nur übrig, Billett und Ausweis zu besorgen, ihren mutigen Jungen in den Zug zu bringen, fieberhaft auf die erste Nachricht von ihm zu warten und sich um seine Rückkunft zu bangen.

Mariu empfing seinen Sohn »aus erster Ehe« nach anfänglicher Besorgnis und Reue über seine impulsive Einladung zuletzt doch mit Freuden, hatte vor Stolz über dieses schöne, lebhafte und begabte Kind Tränen in den Augen. Er zeigte ihn den Seinen in Bukarest, die gute Miene zum nun einmal Unvermeidbaren machten, denn er hatte sie mit diesem Besuche überrumpelt – und Vater und Sohn verstanden einander ausgezeichnet. Als der Knabe auf die verlegen-zögernde Frage nach seiner Mutter unbefangen antwortete: »Ach, Lotte ist ein famos-anständiger Kerl!«, konnte der Vater sich kaum beruhigen vor Lachen.


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