Rahel Sanzara
Die glückliche Hand
Rahel Sanzara

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XI

Mit naivem Egoismus nahm Mariu die ganze Fürsorge Lottes hin. Das Verhältnis des Paares zueinander war nun längst voller engster Bindungen, was Zeit und Lebensführung anbelangte. Lotte war für niemand da, als nur für ihn, und er durfte für niemand da sein, als für sie, obwohl keine Liebesbeziehung zwischen ihnen bestand. Er war an sie gebunden durch seine abhängige Lage, die er aber auch nicht zu ändern strebte, indem er etwa fördernde Verbindungen in der Heimat wieder anzuknüpfen suchte, und er unterwarf sich mit einer glücklichen Nachgiebigkeit der gewissen Tyrannei, die Lotte auf ihn ausübte. So war sie zum Beispiel empört, als er zum erstenmal von seinem selbstverdienten Geld in die Oper gegangen war und noch dazu allein, sie wollte ihm dies Vergnügen spenden und mit ihr sollte er es genießen, und zum wenigsten verlangte sie von ihrem alten Vater, daß der Mariu begleiten solle das nächste Mal, als wäre der Student ein unmündiges Mädchen. Sie schrieb ihm auch vor, welche Verkehrsmittel er benutzen solle, und hatte es sich in den Kopf gesetzt, daß er nicht mit der Untergrundbahn fahren dürfe, welche sie selbst verabscheute und unheimlich fand, für Mariu aber auch besonders wegen erhöhter Bazillengefahr für gesundheitsschädlich hielt und für unmoralisch außerdem, weil sie der vorgefaßten Meinung war, die Halbweltdamen führen darin zum Abenteuer aus. Als es weiter einmal zufällig zur Sprache kam, daß Mariu eine Kinovorstellung besucht hatte, war sie so entsetzt darüber, hielt ihm, als sei es eine gräßliche Untat, so eindringlich vor, wie er neben anderen Menschen im dunklen Raume sitzend, etwas genossen, was sie stets abgestoßen hatte, daß Mariu ihr treuherzig zuschwor, es nie wieder zu tun. Dagegen machte es Lotte nur stolz, als ihr Schützling in einer Familie, in welcher er dem Sohn bei der Vorbereitung zum Abitur half, gesellschaftlichen Anschluß fand, zu Autoausflügen eingeladen wurde, obwohl er viel von der jungen, hübschen und koketten Tochter des Hauses erzählte. Sein Leben lag ziemlich offen vor ihr da, doch sie erlaubte ihm nicht einmal, nach Vorgängen im Krankenhaus oder nach ihren schriftstellerischen Arbeiten zu fragen, viel weniger noch, sie zu lesen, wenn er auch die Briefe zur Post bringen durfte. Auch über ihre Vergangenheit schwieg sie ihm gegenüber völlig, und auch er frug da in instinktiver Vorsicht nach nichts. Und doch, so ungleich es erschien, erwies sich diese Art des Zusammenlebens als natürliche Voraussetzung für alle die harmonischen Jahre, welche die drei Menschen miteinander verbrachten, und diese Harmonie wurde aufs tiefste gestört, als das Verhalten des Paares zueinander sich änderte.

 

Der alte Vater konnte es nicht lassen, obwohl Lotte es ihm streng verboten hatte, heimlich dem jungen Freunde immer wieder stundenlang von seinem Enkel Hermann zu erzählen. Mariu mußte ihm in die Hand versprechen, sich vor Lotte nichts merken zu lassen, und dieses Bündnis hatte die Freundschaft der beiden Männer noch fester gemacht. Einmal, an einem schönen Frühsommertag, überredete der Alte den jungen Freund, mit ihm, während Lotte schlief, zu dem in ein Gärtchen verwandelten Grabe zu kommen. Dort schilderte er ihm zum erstenmal genau und ausführlich, im Genusse einer lieben Erinnerung schwelgend, jenen Augenblick, da Lotte, vor vielen Jahren, als ganz junges Ding mit dem Säugling heimgekommen war, wie sie durch die Türe getreten sei, wie sie sich an ihn, den Vater, angeschmiegt und ihm zugeflüstert habe: »Das ist mein kleiner Hermann«, wie voller Liebe sie das gesagt, und wie sie das Kind dann in der ersten Zeit genährt und gepflegt habe, und wie sie ganz allein, ohne Mann, zurechtgekommen sei. – »Ein Prachtmädel, meine Lotte«, schloß der Vater, mit vor Alter tränenden Augen blinkernd.

Mariu, der bisher die vielen Erzählungen des Alten mit gleichmütiger Geduld, ja mit einer gewissen egoistischen Interesselosigkeit an Lottes Schicksal angehört hatte, wurde an diesem Tag und von diesem Bericht merkwürdig getroffen. Er wußte nicht, daß es Eifersucht auf dieses kleine, an der Mutterbrust liegende Kind aus der Schilderung des alten Vaters war, die in ihm zum ersten Mal und nun in dieser blütenschimmernden Sonnenstunde, mitten zwischen den Kreuzen des Gottesackers allzu lebendig die visionäre Vorstellung von Lotte in ihrer weiblichen Verkörperung hervorrief: ihr manchmal so überraschend belebtes, dunkelschimmerndes Auge leuchtete ihn voll neuer Bedeutung an, er sah ihren vollen, frischen Mund vor sich, wie er sich bei manchen Worten lebhaft und eilig bog und kräuselte – »Butterblume« hörte er sie plötzlich mit tief gurrender Stimme sagen, ein deutsches Wort, das ihm, dem Ausländer, stets so reizvoll »realistisch-poetisch« erschienen war, und welches er sich oft von ihr hatte wiederholen lassen. Nun sah er ihre Lippen springen bei dem Blumennamen, und auch ihr aufgelockertes, braunes Haar, wie es ihr gerötetes Gesicht umhing, wenn sie vom Tagesschlaf aufgestanden war, hatte er vor sich, und seinen herben Geruch, den er plötzlich, wie von der grünenden Graberde ringsum aufsteigend, witterte. Das alles umdrängte ihn mit betäubender Verlockung.

Sie hatten beide bis jetzt Mutter und Kind gespielt, wobei Lotte nach und nach in eine dem Gefühl fernere, väterliche Stellung und Überlegenheit gerückt war: sie ernährte die beiden Männer. Aber nun war dem Kind Mariu allzudeutlich klar, daß er nicht das einzige, nicht das echte Fleisch- und Blut-Kind dieser Frau war, und das beschämte ihn und stachelte ihn auf. – In zwingender Folgerung dieser neuen Empfindungsweise konnte er auch nicht mehr dem nun plötzlich anstürmenden fragenden Nachdenken an den Vater des echten Lotte-Kindes entgehen: Wer war er, der sie zu jenem weiblichen Wesen gemacht hatte, das in höchster Bestimmung seiner selbst mit einem Kind an der Brust zu den Eltern kam – wo war der, der diese Brust nährend gemacht hatte? War er ein noch immer heimlich Geliebter in Lottes Herzen? weilte er in dieser Stadt, sah sie ihn, kam sie in der Klinik mit ihm zusammen, war auch er vielleicht dort tätig – als Arzt, als irgendein Angestellter? Oder war er ein Held, ein Vaterlandsverteidiger, im Kriege gefallen, indes er selbst nur mühsam als Gefangener von einer scheußlichen Krankheit geheilt wurde? Er wollte im Grunde auf diese Fragen keine wirkliche Antwort – die Antwort auf seine Gedanken und Empfindungen war, daß er sich plötzlich Lotte gegenüber seiner Stellung als Mann bewußt geworden, und einer zweideutigen, nicht ganz unbeschämenden Stellung dazu.

Von diesem Frühsommertag, von dem Besuche an dem Grabe an war Marius Benehmen gegen Lotte verändert, befangen, und nach mancher schlaflosen Stunde in den immer wärmer werdenden Nächten, in denen er grübelte und zweifelte: sollte er diese Art zu leben aufgeben? Aber wie? Konnte er sie fortsetzen? Dann aber auch, wie? Nach allen Gedanken und Bemühungen, die weder vor- noch zurückführten in seiner Lage, fand er sich zuletzt in ein heftiges, fast wutvolles Begehren verbissen. Er wurde immer öfter gereizt und ungezogen gegen Lotte, tat jetzt trotzig gerade das, was er bisher ihr zu Liebe unterlassen hatte, stellte Wünsche an sie, die er, wenn sie sie ihm treuherzig erfüllte, danklos ablehnte: so etwas habe er nicht gemeint, sie verstehe ihn nun einmal nicht mehr, habe ihn wohl überhaupt nie verstanden! Da er vor schweren Prüfungen stand, wollte Lotte sein verändertes Wesen nicht ernst nehmen, verzieh ihm alles, war nur noch besorgter um ihn, fürchtete, daß er sich überarbeitet habe, und schlug ihm vor, an ihrem nächsten freien Tage einen größeren Ausflug mit ihr zu machen, den ganzen Tag über, »und ein Zehnmarkschein müsse unbedingt restlos dabei draufgehen«, wie sie gutmütig scherzte, um auch in dieser Hinsicht das Pomphafte des Unternehmens als Vorfreude herauszustreichen.

Auf der stundenlangen Dampferfahrt, die sich auf dem Fahrwasser des Flußkanals zwischen den verschiedenen Stadtteilen, an düster-schmutzigen Industrieanlagen und schmucken Wohnhausblöcken vorüber bis in die sich in herber Schönheit entbreitenden westlichen Seegewässer hinzog – gleich einem einzigen, langen Ausatmen aus beengter Brust in freie Luft, so schien es Lotte, und sie wollte es so recht genießen –, auf dieser ihrer Freudenfahrt zeigte sich Mariu ohne allen Grund böse und unzugänglich. Das opulente Mahl, das Lotte an Bord des Schiffes bestellte und das aus dem teuersten Gericht der Karte bestand, allerdings eine nicht leicht bekömmliche Spezialität »Aal grün mit Gurkensalat« enthielt, rührte der junge Mensch nicht an, kehrte dem Tisch halb den Rücken zu, und rauchte vor der allein essenden Lotte eine Zigarette nach der anderen. Das an diesem schönen Wochentag nicht allzureichliche Publikum beobachtete die kleine Szene, und nun geriet auch Lotte in eine fast peinvolle Stimmung hinein. Sie war deshalb erleichtert und beinahe schon wieder froh, daß er wenigstens darin mit ihr übereinstimmte, als sie nach ihrem Vorschlag an der nächsten Haltestelle, wenn auch noch weit vor dem eigentlichen Ziel, den Dampfer verließen. – Anscheinend wieder versöhnt und besänftigt, schlenderte er dann mit ihr zwischen blühendem Fliedergesträuch an einem stillen, fast unbewohnten Seeufer entlang, bis sie sich beide, betäubt von der blendenden Sonne, von der ungewohnt heißen Luft und dem Blütenduft in das noch frischgrüne Gras lagerten. Da aber begann Mariu sie unvermittelt mit heftigen und zugleich raffinierten Liebkosungen zu bedrängen. Lotte, selber noch unklar über das urplötzliche Aufschrecken in ihrem Inneren, das über sie hinweg diesen Berührungen antwortete, versuchte noch zu lachen, und schlug ihm wie einem ungezogenen Kind strafend auf die Hände. Doch fast gleichzeitig mit diesem Schlag grub er wie ein Blitz so schnell seine Zähne in das weiche Fleisch zwischen ihrer linken Brust und Schulter. Lotte schrie auf, und im Klang des Aufschreies schwang noch Zorn – doch dem ersten, abwehrenden Schmerz folgte augenblicklich eine Welle neuen Wehes, die, in noch nie empfundener Wollust verebbend, alles andere in dem überfluteten Sein der Frau auslöschte, außer der willigen, dem Manne entgegenstrebenden, begehrlichen Erwartung des erweckten Geschlechtes. – Als sie wieder zu sich gekommen und weitergingen, war es entschieden, daß der Mann Freiheit und Übermacht erlangt hatte und daß die Frau ihm hilflos verfallen war. Lotte ging in einer dumpfen Trauer dahin, während er ihr übermütig Hand und Finger preßte, mit der Rechten locker sitzende Blüten von den Zweigen schlug und laut und schmelzend vor sich hinpfiff. Lotte, die besonders dieses Pfeifen schmerzte und empörte, wagte trotzdem nicht, es ihm zu verbieten. Mit Eifer betrieb sie die Heimkehr, die schwierig zu bewerkstelligen war, da sie von ihrem Punkte aus nur schlecht Anschlüsse an den Ausflugsverkehr hatten. Verwirrt, wie sie war, bedeutete Lotte jetzt jede Stunde Beisammenseins mit Mariu eine Qual – er schien dies zu merken, hielt sich immer etwas abseits oder hinter ihr auf den Wegen, nur ab und zu ein belangloses Wort, aber in irgendwie trösten wollendem Tone sagend, dazwischen aber sein ihr unerträgliches Pfeifen fortsetzend. Da sie nun zuletzt mit dem Zug zurückfuhren, richtete er es so ein, daß sie beim Einsteigen, »wie aus Versehen«, in verschiedene Abteile kamen – doch obwohl dies ihrem inneren Wunsche, in aller bangen Verwirrung einmal mit sich allein zu sein, entsprach, vertiefte es auch sofort Lottes Traurigkeit, sie fühlte sich schmerzlich gekränkt, daß es ihn nicht trieb, bei ihr zu sein, auch wenn es sie quälte.

Das Leben zwischen den beiden hatte seine Unschuld und bald auch seine schönsten Freuden verloren. Lotte konnte nicht mehr sorgende Mutter oder aufopfernde Schwester sein, sondern sie war nun die Frau, die ihren um Jahre jüngeren Geliebten aushielt. Das ließ sich durch nichts hinwegleugnen, denn beide Teile empfanden es eben so im innersten Herzen. Der Mann fühlte sich trotz seines Sieges auf die Dauer doch wieder gedemütigt, denn er war von der Frau, die er überwältigt hatte und besaß, in jeder Weise abhängig. Er verdiente jetzt gar nichts mehr. Da er begann, sich auf seine Examina vorzubereiten, konnte er keine Nachhilfestunden mehr erteilen, und die kleinen Cognac-Geschäfte, die er unter der wohlwollenden Mithilfe und Begünstigung einer Gemüseladenbesitzerin, deren Mann Kellermeister in einem großen Hotel war, öfters gemacht hatte, endeten jäh durch einen Streit zwischen Lotte und dieser Frau. Lotte hatte den Zank aus Eifersucht entfacht und der Gemüsehändlerin gedroht, sie wegen ihrer »Schiebungen« anzuzeigen. Nun rief die gekränkte Frau, die ihr Geschäft im gleichen Hause hatte, wo sie nur konnte dem Rumänen höhnische Redensarten nach, die ihm das Blut zu Kopf steigen ließen.

Mariu rächte sich für diesen Übergriff an Lotte, indem er alle die Gewohnheiten, die das Zusammenleben der kleinen Gemeinschaft so hübsch und angenehm gestaltet hatten, wieder unterließ, und auch den alten, ihm so anhänglichen Vater in dieser Beziehung zu beeinflussen verstand. Immer unter dem Hinweis auf seine Examensarbeit tat Mariu auch nicht die kleinste Handreichung mehr, Lotte mußte von nun ab für die beiden Männer kochen, sie mußte alles selber einholen, die kleine Wohnung sauberhalten, den Jungen wie den Alten bedienen. Jetzt, da der Brand in ihr entzündet war und alles in ihr immer wieder zu den heftigen, mit Qual verstrickten Umarmungen trieb, von denen sie im tiefsten Innern wünschte, sie hätte sie nie kennengelernt – jetzt fand sie keine Ruhe, keine Erholung, keine klare Besinnung mehr. Sie wurde immer elender, zerfahrener und hilfloser. Nach kurzem Aufblühen verfiel ihr Gesicht, die einfachen Züge vertrugen das Gepräge des Leidenschaftlichen nicht und veränderten sich beinahe häßlich, ihr Mund war voller, doch dabei formlos geworden, die runden, hübschen Augen hatten ihre hellen Lichter verloren, dafür glomm ein düsteres, ein wenig unreines Feuer in ihnen, das Lotte spürte und den Blick vor ihren ärztlichen Vorgesetzten oder vor der neuen Oberschwester niederschlagen ließ. Wenn Lotte sich vor dem Spiegel ihre Schwesternhaube aufsetzte, und das harte keusche Weiß ihr aufgewühltes Gesicht umrahmte, verstärkte dieser Anblick ihre geheime, stete Verzweiflung, sie schämte sich ihres Berufes wegen, so auszusehen, und zugleich mußte sie sich auch als Frau reizlos finden gegenüber dem blühenden, um so viel jüngeren Geliebten. Obwohl so einsam in dieser schweren, seelischen Situation, war sie beinahe froh, daß ihre Vertraute von einst, Schwester Laura, nicht mehr da war und sie nach ihrem Kummer fragen konnte, denn diesen Kummer fand Lotte unwürdig, anderen mitzuteilen. Schwer quälte sie sich ab, in Nacht und Stille ihre Geschichten zu schreiben, ihre Gedanken schweiften fort, umgrübelten Marius Gestalt, Gesicht und Worte, versenkten sich in ihre peinvolle Liebe, und ihre Phantasie wurde von der Wirklichkeit ausgefüllt. Sie verfluchte das Geld, das herbeizuschaffen ihr jetzt so sauer wurde, sie stahl Einfälle und Ideen anderer, verwendete Details aus ihren eigenen früheren Erzählungen wieder, legte sich ein neues Pseudonym »Charly« zu. Das Glück blieb ihr in dieser Beziehung auch jetzt treu, sie wurde gedruckt, die Honorare liefen ein, und ein Patient, dem sie durch ihr nachtwandlerisch sicheres Eingreifen in der ersten Nacht nach der Operation das Leben gerettet hatte, machte ihr ein stattliches Geldgeschenk.


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