Rahel Sanzara
Die glückliche Hand
Rahel Sanzara

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

V

So ging für Lotte also nach außen hin alles recht gut und mit Glück aus. Sie wurde wieder blühend, fröhlich war sie, wie nie zuvor, und hatte jetzt eine andere Art, zu arbeiten, an sich. Sie bewies eine neue, regere Teilnahme an den Kranken, die zwar nie zu weit ging, aber sich doch bei den Patienten angenehm bemerkbar machte: nach einiger Zeit schwärmten alle davon, wie wohltuend, übersichtlich und eifrig Schwester Lottes Fürsorge war, mit welch ganz besonderem, sanftem Geschick sie hebe oder verbinde, die Körper abwasche, die vom langen Liegen tauben Glieder massiere und einreibe, und wie verständnisvoll sie den Frauen die Haare kämme, sie schön machen helfe, wenn die Besuchsstunden herankamen. Sie war auch zugänglicher für diese und jene besondere Bitte, ließ Besuch etwas länger als die vorgeschriebene Zeit in den Krankenzimmern, übernahm hie und da einen beruhigenden telefonischen Anruf, während sie es früher immer kühl und korrekt abgelehnt hatte, Auskünfte an die Angehörigen der Kranken zu erteilen, und an den Arzt verwies. So entwickelte Lotte neue Fähigkeiten, ihre Bewegungen wurden flinker, ihre Aufmerksamkeit umfassender, ihre Arbeitslust immer reger, während sie doch früher kaum hinsah, wenn sie einen Kranken unter den Händen gehabt hatte. Außerhalb der Krankenzimmer konnte Lotte dabei ertappt werden, wie sie sich bemühte, mit ihrer kleinen heiseren Singstimme zu singen, sie hatte sich auch ein lautes, etwas kreischendes Lachen angewöhnt, mit dem sie bei jeder nur möglichen Gelegenheit offen herausplatzte. Zum Lesen hatte sie jetzt weder Zeit noch Lust. In der Nacht schlief sie tief und fest, ihr Kind neben sich. – In der Klinik verwöhnte man sie mit Geschenken, die sie auch in Form von Geld erhielt, und sie konnte, außer dem reichlichen Kostgeld, das sie der Mutter zahlte, auch noch sparen.

Daß die Mutter allerdings hauptsächlich deshalb, weil der Mann es von vorneherein so bestimmt hatte, das Kind aufgenommen und es nicht in eine Pflegestelle gegeben hatte, glaubte ihr Lotte hoch anrechnen zu müssen. Und es war auch der alternden, in ihrer Umgebung als »affig« und hochmütig verschrienen Frau nicht leicht, sich in dem Stadtviertel, das eine dichtbevölkerte Kleinstadt für sich war, vor den Hausmitbewohnern, den Bekannten auf der Straße und in den Geschäften mit dem Kind sehen zu lassen, das für sie nach wie vor ein Zeichen der Schande und Enttäuschung bedeutete. Sie tat es dennoch, einen Ausdruck finsteren Trotzes über die Grameszeichen auf ihrem Gesicht breitend – aber sie brachte nur scheinbar damit ein großes Opfer. Ihre bisher starre, einseitig festgelegte, doch eben nicht geklärte Seelenverfassung war in einen zwiespältigen Zustand geraten, in den sich höherstrebende Regungen mit niederen mischten: so wollte sie Demut üben und sich nun auch ihr Kreuz so schwer als möglich machen, zugleich aber zielte sie instinktiv darauf hin, sich für die Demütigung und für die Enttäuschung, welche ihr das einzige Kind, das sie für »etwas Besseres« hatte aufziehen wollen, angetan hatte, zu rächen und die Tochter um ihr einziges Glück zu bringen.

Die alte Frau riß mit einer gewissenhaft kalten Art die Pflege und Wartung des Kindes ganz an sich. Gleich in den ersten Wochen hatte sie die Entwöhnung des Kleinen von der Brust der Mutter durchgesetzt, damit Lotte »nicht im Beruf gehindert sei«. Obgleich es ja wirklich für Lotte eine große Hetzerei und Unbequemlichkeit bedeutete und auch Geldkosten verursachte, wenn sie in ihrer Mittagsfreizeit sich ein Taxi nahm und schnell nach Hause fuhr, um das Kind zu nähren (dasselbe tat sie auch oft abends, um nur zeitiger zu dem kleinen, hungrigen Wesen zu kommen, das trotz seiner Zusatznahrung stets sehr auf sie zu warten schien) – so war die aufgedrungene Entwöhnung an Lotte, die mit Leib noch mehr als mit Seele Mutter war, die erste Sünde, die man an ihr beging, und eine größere noch als an dem Kind. Der gewaltsam zugeschüttete Quell von dem, was ihr Wesen am leichtesten spendete, war der erste Beginn der Freudlosigkeit, in der die junge Mutter verwaisen sollte. Denn weiterhin war es stets so, daß, kam sie in ihren freien Stunden und Tagen nach Hause, angefüllt bis zum Bersten von Gier nach ihrem Kind, die Großmutter mit ihm an die Luft gegangen war, oder das Kind schlafen sollte – oder es durfte mit seinem schwachen Magen nicht »so herumgezerrt werden«, wie die Mutter es nannte, wenn Lotte ihren kleinen Knaben liebkoste.

»Habe ich nun schon die Schande und die Arbeit mit dem Kinde auf mich genommen, so lasse es gefälligst auch in Ruhe! Ich weiß wohl am besten, was ihm gut ist, wenn ich auch nicht auf Kosten meiner Eltern eine teure Ausbildung erhalten habe – dafür habe ich aber schließlich schon ein Kind aufgezogen, wenn ich auch nicht wissen konnte, was zum Schluß daraus geworden ist –«

Auf solche Reden, die oft und variiert wiederholt wurden, lief Lotte, zu einem gescholtenen Backfisch entrechtet, jedesmal schluchzend aus dem Zimmer. – Einmal, an einem Sonntagvormittag, an dem Lotte frei hatte und an dem sie es wagte, das Kind der alten Frau aus dem Arm zu nehmen, um den Genuß zu haben, es selbst einmal wieder zu baden, schüttete die Mutter den von ihr vorbereiteten Zuber voll Wasser der Tochter über die Füße, stieß sie in den Korridor, öffnete die Wohnungstür und sagte mit entsetzlicher Entschlossenheit in der Stimme, Lotte solle ein für allemal parieren oder aus der Wohnung gehen mitsamt dem Balg.

Lotte, ihr Kind an sich fühlend, war aufgestachelt bis zum äußersten. »Gerne!« rief sie hell und beinahe lachend, »ich gehe gerne – dann habe ich wenigstens mein Kind!«

Aber schon schob sich der Vater in den Korridor, schloß ruhig wieder die Tür und sagte: »Lotte, du mußt vernünftig sein! Wie willst du denn sonst leben mit dem Kind? Willst du es zu fremden Leuten geben?«

Das mußte Lotte treffen. Sie erinnerte sich der alten Bäuerin, die ihr Kind im Schmutz hatte verkommen lassen. Indessen sprach der Vater weiter:

»Bist undankbar, Lotte! Hast eine Mutter, die das Kind pflegt, hast Eltern, die dir helfen, und benimmst dich so! – Komm, gib den kleinen Hermann.« – Und er nahm Lotte das Kind aus den Armen, trug es in die Küche zurück, wo seine Frau das ausgegossene Badewasser schon aufgewischt und frisches Wasser in die kleine Holzwanne gefüllt hatte. Ihres Sieges gewiß, war sie längst ruhig und unbewegt, sie nahm das Kind in Empfang und badete es.

 

Lotte mußte also »ein für allemal« nachgeben.

»Du hast dich nur darum zu kümmern, Geld zu verdienen«, sagte die Mutter ein anderes Mal, »weiter hat eine Mutter nichts zu tun, die keinen Vater für ihr Kind weiß.«

So kam das erste Zähnchen, ohne daß Lotte die Freude haben konnte, daß sie es war, die es entdeckte – es kam der erste Schritt, ohne daß sie es war, die ihn leitete, es kamen die ersten Worte, ohne daß sie es war, die sie dem kleinen Mund vorbildete, alles verlorene Seligkeiten für sie.

Das Blühende und Fröhliche erlosch nach und nach wieder in Lotte, ihre Bewegungen bei der Arbeit wurden lässig, allein von der früheren, mechanischen Sicherheit diktiert, ihre Blicke glitten wieder abwesend über die Kranken hin, auf ihrem unauffälligen, weder ausgesprochen hübschen noch häßlichen Gesicht drohte die alte Stumpfheit wiederzukehren. Langsam und schwer stapfte sie jetzt die Korridore der Klinik entlang. Ohne daß es ihr bewußt ward, seufzte sie fast unaufhörlich vor sich hin. So kam es, daß nun, nachdem schon längst ihr Wesen nicht mehr gerühmt wurde, eine Patientin sich sogar bei der Oberschwester darüber beschwerte, daß Lotte bei ihrem andauernden, schweren Seufzen ihr während des Umbettens »eiskalt in den Nacken gehaucht habe«, was doch wohl unhygienisch und daher bei einer ausgebildeten Pflegerin unverständlich wäre – außerdem sei es aber auch »so unheimlich gewesen«. Worauf Oberschwester Laura die Kranke milde zurechtzuweisen suchte, auch eine Krankenschwester sei ein Mensch, und es müsse ihr bei ihrem harten Beruf zumindest erlaubt sein, einmal schwer zu seufzen, das könne man wohl überhaupt keinem Menschen so recht verbieten, und daß es außerdem im Nacken und nicht etwa im Atmungsbereich direkt des Patienten geschehen wäre, sei auch die Hygiene nicht so arg verletzt worden, und »unheimlich« brauche ihr, der lieben Patientin, erst recht nicht zu sein, sie sei doch auf dem direkten Wege der Genesung. Es war aber eine unheilbare Kranke, und Oberschwester Laura mußte Lotte bitten, in Zukunft vorsichtiger zu sein. Lotte aber, die in ihrer niedergedrückten Stimmung gerade die straffe und abwechslungsreiche Tätigkeit der Tagespflege zu quälen begann, bat bei dieser Gelegenheit, erschrocken über den kleinen Verweis, daß man sie wieder zum Nachtdienst verwenden möge. Nachdem Schwester Laura noch gütig versicherte, daß dieser zarte Hinweis nicht etwa einen Tadel an Lottes bisheriger Tätigkeit bedeuten sollte, erfüllte sie ihr gern die Bitte. Bald saß Lotte wieder in dem kleinen, blaudämmerigen Wachzimmer, döste schwer und traurig vor sich hin, ward verzweifelt über sich selbst, daß sie nun wieder, ihrer Verzagtheit nachgebend, sich selber um ihr letztes bißchen Glück gebracht hatte, nämlich nachts neben ihrem kleinen Knaben schlafen zu können – und einmal, als eine Verordnung für einen besonders schweren Fall die Oberschwester noch spät abends zu ihr trieb, fand sie ihre »nette Schwester Lotte« sitzen, die Hände im Schoß gefaltet, auf die von dem geradeaus gehaltenen Gesicht schnell und dicht Tränen niedertropften.

Lotte hatte immer leicht Sympathien gefunden, aber die sonst ziemlich unzugängliche und im Gegensatz zu Lotte mit Hingabe nur ihrem Beruf lebende, ältere und gewichtige Schwester Laura fragte jetzt in geradezu überströmender Herzlichkeit nach dem Grund ihres Kummers. Lotte, von der gütigen Teilnahme aufgerührt, warf sich – erschreckend im Ausbruch ihres sonst so passiven Wesens – mit dem Oberkörper über den kleinen Tisch und jammerte und schluchzte so laut, daß Schwester Laura vor allem erst einmal schnell die Tür des kleinen Raumes schloß. Lotte, zu ungeschickt, ihren wahren Kummer ausdrücken zu können, wiederholte nur immer wieder unter schreiendem Schluchzen und das Gegenteil von dem beteuernd, was sie bedrückte, nämlich, daß ihr Kind ihr so gut wie nicht mehr gehörte: »Ich habe ja ein Kind, ich habe ja ein Kind« –

Bis jetzt war das in der Klinik Geheimnis gewesen, und Oberschwester Laura, für die Tugend und Keuschheit kein leerer Begriff, sondern Charakterproben für die Frau waren, prallte denn auch im ersten Augenblick nicht wenig zurück. Doch merkwürdigerweise verlor Lotte nicht für eine Sekunde in ihren Augen, im Gegenteil verspürte diese alternde, unberührte Frau in einer umfassenderen Zuneigung zu der Schwester deutlicher als je Lottes weibliche Unschuld und Hilfsbedürftigkeit in diesem Augenblick. Sie versuchte fürs erste mit allen Mitteln die Weinende zu beruhigen, übernahm einen Gang in ein Krankenzimmer für sie, kam dann mit zwei Tassen frisch zubereiteten Kaffees in die kleine halbdunkle Stube zurück, und nun wisperten und raunten die beiden Frauen hin und her. Von der Sensation angeregt, stellte Schwester Laura Frage auf Frage: wann? wo passiert? ein Knabe? wie alt denn schon? wie schwer? wie groß? bekommt er schon Gemüsebreichen? auch Kalk und Lebertran für Knochen und Zähnchen? wie hieß er? und damals sei um Gottes willen alles glattgegangen? – Und Lotte antwortete, wie das Kind ganz der Großmutter gehöre, wie es gut gediehen wäre, so lange sie es genährt hätte, doch jetzt nun beinahe wie ein richtiges Großstadtkleines bißchen blaß aussehe, und zuletzt und ausführlich erzählte sie von ihren großen Lebensaugenblicken, von der Geburt im Kornfeld, und wie der Mond geschienen habe im ersten abnehmenden Viertel.

»Und niemanden zum Heiraten?« unterbrach Schwester Laura entsetzt.

Lotte schüttelte verneinend den Kopf.

»Diese Schufte!« schloß die Oberschwester, die, wenn auch nicht aus eigener Erfahrung und Kenntnis, absolute Männerfeindin war, außer sie hatte die Vertreter dieses Geschlechtes krank vor sich liegen, denn dann waren es für sie nur die »richtigen Kinder«. – »Den Körper eines Mädchens gebrauchen und es dann einfach sitzen lassen, für nichts sorgen –«, brummte sie in bezug auf Lotte mit wutgesättigtem Baß, denn nur so konnte sie sich die Situation vorstellen. – Lotte, geistesabwesend in ihrem Schmerz, seufzte dazu: »Ja – ja –« und begann noch umständlich zu schildern, wie schrecklich und liederlich die alte Bäuerin ihren Kleinen hatte verkommen lassen, worüber auch Schwester Laura entsetzt die Hände zusammenschlug und meinte, das sei ja direkt eine Engelmacherin gewesen und wert, daß man sie anzeige, worüber nun wieder Lotte von neuem in Erschrecken fiel. Und so verbrachten die Frauen miteinander noch manche Nachtstunde.

Lotte war mit ihrem Geständnis also nicht an die Unrechte gekommen, sie behielt ihren Dienst als Nachtwache bei, die Oberschwester hütete das Geheimnis wohl, mehr noch, sie steckte ihr, wo sie konnte, Schokolade, feines Obst zu, das sie geschenkt bekam, manchmal auch bunte, leere Schachteln, die sie sich von den Patienten für Lottes Kind erbat. Da sie im letzten Augenblick immer wieder nicht dazu kam, so sehr sie es sich vornahm, einen Besuch bei Lotte und ihrer Mutter zu machen, so erbat sie sich zu Weihnachten wenigstens ein Bild von dem Knaben und gab Lotte das Geld für den Photographen. Lotte durfte aber nicht selbst mit dem Kind zur Aufnahme gehen, sondern die Mutter verlangte, das für sie zu tun.


 << zurück weiter >>