Rahel Sanzara
Die glückliche Hand
Rahel Sanzara

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VI

Durch die Anteilnahme der Oberschwester, mit der sie nun oft und stundenlang über das Kind sprechen durfte und die ihr nach bestem Gewissen trotz Lottes Klagen über das Verhalten der Mutter doch nur wieder raten konnte, den Kleinen bei der strengen Großmutter zu lassen, wurde Lotte von ihrem gegenwärtigen Schmerz, ohne daß sie es merkte, doch nach und nach abgelenkt, und der Knabe wurde ihr allmählich gleichsam als Phantasiegestalt wiedergeschenkt. Konnte sie ihn nicht nähren, an sich halten, ihn hegen und pflegen, so konnte sie von ihm, über ihn sprechen. Wohl brachte ihr Schwester Laura von ihren wenigen und kurzen Ausgängen Stoffe und Schnitte für Wäsche und Kittelchen mit, und Lotte lernte auch mit einiger Mühe nähen und schneidern für das Kind – aber da sie doch nicht die Freuden der Gegenwart an dem Kleinen genießen durfte, beschäftigte sie sich immer mehr und ausschließlich mit seiner Zukunft, und ihre Liebe und Sorge für den Knaben nahmen notgedrungen einen etwas männlichen Charakter an. Die kalten Worte der Mutter, Lotte habe für das Kind, für das sie keinen Vater wisse, nur Geld zu verdienen, bestimmten jetzt ohne inneren Widerspruch Lottes Leben, die durch und durch Mütterliche sah sich gewissermaßen ein für allemal an die Vaterstelle verwiesen.

Eine bis dahin noch unerkannte Begabung kam ihr bei dieser gewaltsamen Umstellung ihres ganzen Wesens zu Hilfe. Früher hatte Lotte in den Nachtwachen dumpf und doch lauernd vor sich hingeträumt, in einer merkwürdigen, gestaltlosen Träumerei. Jetzt träumte sie von ihrem Knaben. Und da sie nur für seine Zukunft denken und sorgen durfte und konnte, so träumte sie ihn sich erwachsen – und da sie weiter in ihrem weiblichen Liebesbedürfnis selbst als Mutter im tiefsten Grunde unbefriedigt geblieben war, so träumte sie sich ihren kleinen Knaben über alle schmerzliche Zeit hinweg als schönen, begehrten, in hohem Stande lebenden Mann im blühendsten Lebensalter, verwandelte ihr armes Kind in einen feurigen Liebhaber, in einen Grafen, einen Fürsten. Und in diesen Verwandlungen löste sich zum Schluß das lebende Kind der Gegenwart von den erträumten Gestalten und Vorgängen ab, versank hinter ihnen, die ein eigenes Leben zu führen begannen, und eines Tages trieb es Lotte dazu, das Gedränge ihrer Bilder und Phantasien niederzuschreiben, oft mit erborgten Ausdrücken und Sätzen, die sie noch von der früheren, reichlichen Lektüre her im Gedächtnis hatte. Anfangs benutzte sie zu ihren Schreibereien die Notizblätter der Klinik, dann nahm sie es schon ernster und brachte sich von zu Haus ihr von der Schulzeit her noch halb leeres Poesiealbum mit, und ganz zuletzt kaufte sie sich Schreibhefte für ihre Niederschriften.

Die kleinen Geschichtchen, die zu ihrer eigenen Überraschung auf diese Weise entstanden, hatten eigentlich weder Hand noch Fuß, es war in ihnen trotz ausschweifender Phantasie in den Einzelheiten und vor allem in den Empfindungen doch in merkwürdiger Eintönigkeit stets immer wieder von einem hohen, schlanken, eleganten und vornehmen Herrn die Rede, der entweder plötzlich in unglücklicher Liebe zu einer fernen oder sonst irgendwie unerreichbaren Frau zerschmolz oder in edelmütiger Weise für einen verräterischen Freund bürgte, dabei Geld und Ehre verlor, oder aber aus irgendwelchem anderen Grunde auswandern mußte oder gar sich erschoß. Jedenfalls ging auffallenderweise, ohne daß es Lotte so recht klar wurde, die zuerst mit aller Glorie ausgestattete Figur zum Schluß stets elend zu Grunde. – Eine gewisse sinnliche Intensität, die diesen Geschichten innewohnte, ihr Verharren auf der Idee eines himmelstürmenden Glückes bei allem tragischen Untergang des Helden, ihr eigenartig unbeholfener und doch mitreißender Stil machte sie indes lesbar und fesselnd, und wieder bewies sich Lottes glücklich genannte Hand – denn als sie ihr Geschreibsel auf Zureden ihrer ersten begeisterten Leserin, der Oberschwester Laura, an die Zeitschrift einschickte, aus der die beiden Frauen die Schnittmuster für die Kleider des Knaben durchpausten, da wurden sie ohne weiteres gut aufgenommen, unter dem Namen Charlotte vom Berg gedruckt und in steigendem Maße honoriert.

 

Lotte verdiente also mehr und mehr Geld, lernte stolz darauf zu sein, und sparte eifrig dafür, ihren Knaben später auf eine höhere Bürgerschule oder gar auf eine Realschule schicken zu können, um ihn so möglichst seinen erdichteten Vorbildern anzunähern. Über die augenblickliche Existenz des Kindes, das auf zarten, ein wenig gekrümmten Beinen, blassen, etwas aufgedunsenen Gesichtchens umherwackelte, hatte sie zuletzt gelernt, da sie ja nichts anderes konnte und durfte, in einer unwissentlichen, aber grandiosen Entsagung seelenabwesend hinwegzublicken – und wenn sie ihm die Kleidungsstücke anprobierte, die sie ihm nähte, so hatte sie sich hüten gelernt, sein Lockenköpfchen allzu vertieft zu betrachten, seinen kleinen Leib allzu innig zu berühren, seinem leisen, aber süßen Geplapper allzu gierig zu lauschen, um den Schmerz der Eifersucht nicht zu wecken, daß sie diesen Kinderkörper nicht herzen, nicht waschen und pflegen, nicht zu blühendem Gedeihen bringen durfte mit ihren mutterzärtlichen Händen. Ja, sie brachte es eines Tages sogar fertig, den Knaben zu schelten, als er sie durch sein Spielen in ihrem Tagesschlaf gestört hatte, und zuletzt sah sie es nicht ungern, wenn die Mutter mit ihm ausgegangen war und sie sich in der stillen Wohnung ausruhen konnte von ihrer Tätigkeit und ihren schriftstellerischen Phantasien in der Nacht. – »Ich bin auch nur ein Mensch«, dachte sie, sich vor sich selbst entschuldigend, erkannte aber nicht, daß sie beinahe schon Übermenschliches leistete in der Überwindung ihres eigentlichen Selbst.

Indes, was der Mutter gerade noch gelingen konnte, einem anscheinend unausweichlichen Zwang des Lebens zu gehorchen, und im Mütterlichen verarmend, sich zu bemühen, die Stelle eines Vaters einzunehmen, das wurde, in der ewigen Bindung von Mutter und Kind, zum Verhängnis für ihren Knaben.


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