Rahel Sanzara
Die glückliche Hand
Rahel Sanzara

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VII

Der Knabe, ein zartes Kind, wuchs auf, in der ersten Jugend schon sehr empfänglich für den Zwiespalt in der Gefühlswelt, die ihn umgab. Die Großmutter, mit der er zeitlich und räumlich am engsten zusammenlebte in den bedeutungsvollen Jahren erster Kindheit, verbarg ihre Zuneigung zu ihm unter eisiger Zurückhaltung und ausgeglichener, aber nie aussetzender Strenge. Die Hände, die ihn von klein auf gefüttert, gewaschen, angekleidet, beim Laufenlernen gestützt, ihn zu Bette gelegt und nach dem Schlaf wieder aufgehoben hatten, hatten es fertiggebracht, dies alles ohne den geringsten Ausdruck von Zärtlichkeit oder wenigstens Zartheit zu tun, so daß das Kind, wenn auch nicht mit Grobheit, so doch mit einer Art geschäftsmäßiger Kühle und Härte behandelt wurde. Das Bewußtsein, daß er im Grunde unerwünscht, nicht am Platz, als hingenommenes Unglück zu betrachten sei und auch so betrachtet wurde, wuchs dadurch, ohne daß der Knabe seine Lage ganz begriff, als dumpfe Bedrückung mit dem zunehmenden Erfassen und Umfassen des Daseins auf. Das Kind war von Anfang an etwas scheu und zaghaft, und das Vorhandensein eines gesunden, liebenswürdigen, lebhaften, kindlichen Temperamentes war eigentlich nur dann bei ihm zu erkennen, wenn es längere Zeit mit dem Großvater zusammen war. – Dieser wiederum goß im Gegensatz zu seiner Frau einen wahren Strom unbeholfener, kräftiger Zärtlichkeit über das Kind aus, verwöhnte und beschenkte es, verlockte es zu den wildesten Spielen und tobte mit ihm in der kleinen Wohnung umher, was dem Kind sonst stets verboten war, wovon sich aber der Großvater durch kein Murren und noch so scharfes Zischen seiner Frau abhalten ließ. Aber dieses Gegengewicht gegen die Härte und Kälte der Großmutter war zu heftig und zu unvermittelt, trat vor allem zu selten in Wirkung, als daß es das verzagte Wesen des Knaben wahrhaft hätte aufhellen und seinen Lebensmut stärken können. Der Großvater, seit einigen Jahren vom Maurerpolier zum Bauinspektor aufgerückt, befand sich viel auf Bauten auswärts, da er bei einer Firma beschäftigt war, die besondere technisch komplizierte Aufträge ausführte, und ihn, der außerordentlich zuverlässig und auch besonders geschickt im Umgang mit den Arbeitern war, stets mitnahm. Im Winter suchte sich der arbeitsfreudige und kräftige Mann Gelegenheitsarbeiten und hatte auch da seine »gewissen« sicheren Stellen. So war er im ganzen wenig zu Hause, war eine ferne, mächtige Gestalt für den Knaben, und diese Bedeutung vertiefte sich noch durch ein kleines Erlebnis, das sich ereignete, als der kleine Hermann einmal mit der Großmutter dem Großvater auf einem nicht allzuweit entfernten Bau das Essen zutrug. Es erregte schon sein kindliches Erstaunen, als er den großen, breitschulterigen Mann hoch oben auf einem Gerüst erblickte, und es erbebte sein kleines Herz, als dann dieser Mann die hohe, steile, in mehrfacher Zickzackunterbrechung angelegte Gerüstleiter herunterlief, gewandt und flink, mit dem Gesicht nach vorn, wie eine gewöhnliche Treppe, dann ihm in einer geraden Linie entgegenstürmte, ihm, der sich eben noch winzig klein und bedrückt fühlte und im nächsten Augenblick aber schon hoch oben über des Großvaters grauschwarzmelierten Kopf hin- und hergeschwungen wurde, so daß ihm schwindeln mußte. – Von diesem Augenblick an war die Liebe des Knaben und seine Freude, mit der er bis dahin stets des Großvaters angesichtig geworden war, mit einer lebhaften, zugleich grauen- und wonnevollen Furcht gemischt, der unbewußten Liebesfurcht vor dem Leben.

In der Hauptsache hing das Kind aber doch zu sehr von der Großmutter ab, als daß nicht ihr, das Leben zwar befestigender, aber düsterer Einfluß der stärkere gewesen wäre. Keines der oft prächtigen Spielsachen, die besonders Schwester Laura durch Lotte dem Knaben schickte, durfte er nach Herzenslust benützen. Die Großmutter schloß sie ihm fort, erlaubte ihm nur hie und da eine kurze Weile mit dem oder jenem Stück zu spielen, damit sich des Kindes Sinn »nicht zu sehr an diese Götzen hänge«, wie sie sagte, denn es schien ihr unnatürlich und bekämpfenswert, mit welch innigem Gefühl das Kind ein kleines Holzpferdchen zu lieben begann, von dem es sich Tag und Nacht nicht trennen wollte, und das sie deshalb in den Tiefen des Wäscheschrankes vor ihm versteckte. So wagte das Kind zuletzt gar nicht mehr, seine Geschenke in Besitz zu nehmen, sondern brachte sanft, still und traurig, freiwillig alles der Großmutter hin, daß sie es aufhebe. Die höchste Belohnung, welche ihm die Großmutter für sein artiges Benehmen zuteil werden ließ, waren Bilderbogen mit Figuren aus der biblischen Geschichte, die der Knabe ausschneiden und aufkleben durfte. Dabei lernte sich das Kind, das eine vielleicht sogar von der Großmutter ererbte Neigung zu Frömmigkeit und religiösem Gefühl an noch sinnlich ergreifbare Zeugnisse band, schon sehr hüten, seine Vorliebe für die Tiere auf diesen Bilderbogen – die Kamele, Schafe und Ziegen von Jakobs Herden, seine Rührung über das Eselein des Heilandes – merken zu lassen. Einmal setzte er es, bis zu Tränen von diesem Wunsch aufgestachelt, bei der Großmutter durch, daß er ein junges, verschmutztes, halbverhungertes graues Kätzchen, das sich vor dem Eingang einer Kohlenhandlung herumtrieb, von der Straße mit in die Wohnung nehmen, es dort füttern und pflegen durfte. Doch das Tierchen blieb merkwürdig scheu, und als es eine ebenso scheue Liebkosung des Knaben mit einem schmerzenden Schlag seiner Krällchen beantwortete, blieb ein tiefes Entsetzen in dem Kind zurück, ein Entsetzen, in welchem die Strenge der Großmutter für immer recht behielt, und als die Katze gar eines schönen Frühlingstages spurlos verschwunden war, bedeutete dies dem Knaben eine so schwere Enttäuschung, daß sein empfindliches Gemüt sie nie ganz verwinden konnte.

Vor Lotte, seiner Mutter, hatte der Knabe eine respektvolle Scheu. Sie verdiene Geld für ihn, hieß es, sie müsse nachts arbeiten und am Tag Ruhe haben, deshalb dürfe er sich nicht rühren, wenn sie in der Schlafstube in dem Bett lag, in dem er des nachts geschlafen hatte. An den freien Tagen aber, an denen Lotte nicht schlief, probierte sie ihm fast immer irgendein Kleidungs- oder Wäschestück an, nicht selten mußte der Knabe dann stundenlang stille stehen, bis die Mutter mit dem Stecken, Heften und Abzeichnen, wozu sie nicht allzu geschickt war, fertig wurde und ihn, wenn er beinahe vor Erschöpfung nicht mehr konnte, unter Seufzern der Ungeduld ermahnte, gerade zu stehen, sonst sei es ja kein Wunder, daß nichts recht sitze bei ihm. Und nicht selten war es dann die Großmutter, die das »hoffärtige Anputzen« überhaupt nicht mochte, die den Knaben von den Qualen der Anprobiererei befreite. – Gewiß war es schön, wenn Lotte, die Mutter, ihn einmal mitnahm zu einer Besorgung, dann ging es immer in eine ganz andere Stadtgegend, sie fuhren mit der Straßenbahn oder mit dem Omnibus und träumten beide vor den Auslagen der Geschäfte. Aber eine reine Freude konnte auch das nicht für den Knaben sein, denn Lotte, die Mutter, führte ihn wohl nicht an der Hand, welche Haltung ihm stets unangenehm war, doch sie ließ ihn auch nicht allein für sich seine Schritte setzen, sondern wollte immer, daß er sich bei ihr »einhänge« wie ein feiner Kavalier. Das bereitete ihm anfangs bei seiner noch kleinen Gestalt Schmerzen in der hochgereckten Schulter, so daß er immer von Zeit zu Zeit den Arm zurückziehen mußte, dabei aber die traurige Empfindung hatte, daß etwas von ihm erwartet wurde, was er nicht geben konnte – und diese feine Empfindung war auch noch geblieben, als der Knabe später schon über Hüfthöhe seiner Mutter hinausgewachsen war und es mit dem Einhängen viel leichter ging. Wohl fühlte sich so das Kind auch mit Lotte, der Mutter, verbunden, aber es war ein Band, das ihn an etwas unausgesprochen Forderndes knüpfte, als ahne sich der Knabe schon als Schuldner der großen Erwartungen, die seine Mutter in der Zukunft für ihn hegte, und von denen sie ja auch hie und da in leidenschaftlichen, wenn auch unverständlichen Andeutungen zu ihm sprach.

Daß er keinen Vater hatte, kam dem Knaben in der ersten Jugend nicht so sehr zu Bewußtsein, zumal von dem Großvater in der kleinen Familie nur als »vom Vater« gesprochen wurde. »So, kannst Vatern mal die Zeitung bringen«, sagte die Großmutter zu ihm, als er noch kaum laufen konnte, und steckte dem Knirps das Papier ins Händchen. – »Na komm, auf Vaters Knie, einen forschen Galopp reiten!« so lud ihn ein andermal der Großvater ein, indem er mit den derben Händen auf seine kräftigen Schenkel klatschte. Einmal indes, mitten im fröhlichen Spiel mit dem Großvater, wobei dem Knaben am ehesten das Herz aufging, fragte er unvermittelt: »Vater, bist du der Mann von der Lotte?«

»Von der Lotte?« fragte der Großvater verblüfft zurück.

»Ja – weil sie doch meine Mutter ist!«

Der Großvater brach in ein dröhnendes Gelächter aus – die Liebe macht den einfachen Mann zum Diplomaten.

»Ich bin hier der Mann im Haus – jawohl, mein kleiner Hermann, ich und du, wir sind hier allemal die Männer zu den Weibsen –«

Aber wie so oft durch des Großvaters kraftvolles Wesen fühlte sich der Knabe auch durch diese Antwort ein wenig erschreckt und unsicher gemacht und nicht befriedigt.

Mit andern Kindern kam der Knabe fast nie zusammen. In dem Bemühen, den kleinen Hermann von »Fremden« fernzuhalten, waren sich der Großvater und seine Frau einig. – Als der Charakter des Knaben sich nun einigermaßen entwickelt und gefestigt hatte, war er ein schüchternes, auch körperlich ein wenig kümmerliches Kind von durchschnittlicher Intelligenz. Er sah vorerst dem Großvater und dadurch, daß sie viel Ähnlichkeit mit ihrem Vater hatte, auch Lotte ähnlich. Ein fremdes Erbteil sprach nur aus den kleinen, feinen, eng anliegenden Ohren und dem krausen Haar, denn sowohl der Großvater als auch Lotte hatten ausgesprochen große, abstehende Ohren, die Lotte sich stets bemühte, durch ihre Haarfrisur zu verstecken. Auch die Großmutter hatte wohl anliegende, aber übermittelgroße, sehr in die Länge gezogene, fleischige Ohren. Krauses Haar war in keinem Teil der Familie bekannt, gemahnte also am meisten an des Knaben geheime Herkunft. Trotzdem entzückte es den Großvater ganz besonders an dem Jungen, er zauste und zupfte mit Vorliebe darin umher, neckte ihn, er habe ja krumme Haare, was aber den Knaben nur verletzte und zum Weinen brachte. Sonst aber besaß der Großvater den Takt gütiger Herzen, und als die Schulzeit für den Knaben herankam, ging er selber hin, ihn anzumelden, ließ sich zum Direktor und zum zukünftigen Klassenlehrer führen und verhandelte mit ihnen über die beste Art, wie man dem Kind bei der Einführung Erregung und Kummer über seine Geburt ersparen könne. Der Klassenlehrer versprach, den kleinen Hermann bei der Frage nach dem Vater zu übergehen.

 

Der Knabe betrat die Schule voll fiebriger Freude und lernte voll ebensolchen Eifers während der ersten Zeit. Nachts wachte er nicht selten aus dem Schlaf auf, setzte sich im Bette hoch und sagte seine kleinen Aufgaben her, im Traume sah er Buchstaben und Zahlen vor sich. Da er bisher ohne jede Gesellschaft von Gleichaltrigen gelebt hatte, gab er sich in dem ganzen fieberhaft gesteigerten Zustand der ersten Schulwochen ungehemmt der neuen Gemeinschaft mit den vielen Altersgenossen hin, tobte, schrie und lachte in den Pausen auf dem Schulhof umher, zum erstenmal ein Kind unter Kindern. In diesem Zustande war er auch lange Zeit ganz unempfänglich gegen das Wort und den Begriff »Vater«, welche oft genug um ihn herum auftauchten. Wenn die Kinder in ihren Reden erwähnten: »mein Vater, meine Mutter«, so sprach er ebenso unbefangen von seiner Großmutter und von »Vater daheim«. – Als ein Kind ihn fragte: »Hast du keine Mutter?« nickte er eifrig: »Doch!«

Einmal aber, als in der Stunde des Sprachunterrichts die Glieder einer Familie aufgezählt wurden, fing er an nachzudenken, ernsthaft und eifrig, denn für alles, was gelehrt wurde, hatte er ja eine sehr bereite Aufmerksamkeit. Der Lehrer ließ am nächsten Tage die Kinder eine Lektion der Geschlechtsbestimmung der Worte an den Beispielen »der Mann, die Frau – der Vater, die Mutter – das Kind« wiederholen und forderte die Schüler auf, von ihren Familien zu erzählen. Er vergaß gerade in diesem Augenblick des Besonderen im Falle des kleinen Hermann, und erinnerte sich erst daran, als das Kind, auf die Aufforderung hin, von Vater und Mutter zu berichten, unbeholfen herumstotterte. Lotte, die den Eindrücken seiner ersten Kindheit eigentlich fernste und am wenigsten begriffene Gestalt, wurde dem Knaben in diesen Augenblicken plötzlich in all ihrer unzweifelhaften Bedeutung klar und wahr: sie war die Mutter, und er, Hermann, das Kind. Aber weiter ging es nicht. Wer war »der Mann« – »die Frau« daheim und bildete »den Vater« –, »die Mutter«, von denen dann er, »das« Kind abgeleitet wurde? – Eine nicht begriffene, aber tief gefühlte Einsamkeit, eine rätselhafte Verlorenheit ins Regellose, für das der Knabe, begabt mit einem höheren Ordnungssinn, ein frühes Empfinden hatte, umdrängte die Seele des Kindes und verwandelte das Schulzimmer, bevölkert von Lehrer und Kindern, in eine unerreichbare, dennoch gefährliche Welt.

»Ach ja, richtig, der kleine Hermann Schuhmacher ist ja eine arme Waise, er hat keinen Vater mehr« – so glaubte sich der Lehrer, das unter Stirnrunzeln und angestrengten Blicken hervorgebrachte Stottern des Schülers unterbrechend, am besten aus der Affäre zu ziehen.

Der kleine Hermann aber fragte, als er das nächstemal mit ihm allein war, in traurig-geheimnisvollem Tone seinen Großvater: »Der Lehrer hat gesagt, ich bin ja eine arme Waise, Vater?«

Der Maurerpolier wurde rot unter seiner groben, von Sonne und Wind gegerbten Haut. Der Knabe hätte von ihm eine Antwort: »nein, das bist du nicht« gern und gläubig hingenommen, ja, obwohl es ihm auch schwerfallen wollte, anzunehmen, daß ein Lehrer unrecht haben sollte, erwartete er dennoch keine andere. So traf es ihn noch einmal, als der Mann sagte, seine große Hand um den Kopf des Kindes legend: »Na ja, das bist du ja auch wohl, aber laß mal, wir sorgen ja für dich –«

Das alles konnte aber der Knabe nicht ganz verstehen, und das freudig begonnene Schuljahr endete mit einem neuen, tiefen, geheimnisvollen Kummer, mit dem bedrückenden Bewußtsein: ich bin eine arme Waise, das sich mit allem anderen Bedrückenden seiner Jugend vereinte. Eine Zeitlang hatte er sogar Unlust zu dem geliebten Unterricht, und dem sonst so scheu verehrten Lehrer gegenüber, von dem ihm eine so traurige Lehre zuteil geworden war, entstand eine schmerzende Abneigung, aber nach und nach blieb ihm doch nichts anderes übrig, als sich mit der Freude am Lernen wieder zu begnügen. Er wurde jedoch den anderen Kindern gegenüber wieder sehr zurückhaltend, entsetzte sich über deren Wildheit und Grausamkeiten, hier und da bahnte sich wohl eine nähere Bekanntschaft mit einem anderen stillen Kinde an, die aber nie zu einer wirklichen, festen Freundschaft von Dauer wurde.

Jedes Jahr, wenn der Knabe in eine neue Klasse aufrückte, was ihm ziemlich mühelos auf dritten oder vierten Plätzen gelang, erschien der Großvater vorher bei dem Lehrer und bat immer wieder, den Jungen nur ja nichts von seiner unehelichen Herkunft merken zu lassen. Ein Lehrer meinte: »Einmal muß er es aber doch erfahren –«, – »nicht in der Schule, nicht in der Schule«, beschwor ihn daraufhin der alte Mann.

 

So blieben dem Kinde Hohn und Spott erspart, er lernte und kam voran, konnte zu Lottes Stolz und dank ihres Fleißes in eine höhere Schule umgeschult werden – die größeren Anforderungen, die dort an ihn gestellt wurden, stachelten seine Energie auf und stärkten dadurch sein Lebensgefühl. Der Großvater wurde immer stolzer auf seinen Jungen, auch Lotte sah ihn bereits zu der Idealgestalt entwickelt, in die sie ihn schon so lange hineingeträumt und gedichtet hatte. Sie kleidete ihn in hübsche dunkelblaue, im Sommer sogar weiße Matrosenanzüge, die sie noch immer selber nähte. Schließlich war der Knabe nun auch bis zu einem gewissen Grade der bedrückenden Übermacht der Großmutter entwachsen, welchen Vorgang er innerlich mit unbewußter Energie unterstützte, indem er mit der Zunahme seiner neuen Schulkenntnisse die alte Kinderfrömmigkeit und allgemeine religiöse Hinneigung in sich unterdrückte und sich so allerdings ein größeres Freiheitsempfinden verschaffte, aber auch sich einer Stütze für später beraubte. – Seine Freude an den Tieren ließ ihn, sooft es sein kleines Taschengeld erlaubte, in den Zoologischen Garten gehen, oder aber auf dem Schulwege vor einer Vogelhandlung stehenbleiben, wenn auch neben dem kindlich-hellen Entzücken der unermüdlichen Betrachtung seine Liebe zu den durch das Gitter oder die Fensterscheibe von ihm getrennten Geschöpfen etwas Trauriges, Sehnsüchtig-Verzagtes hatte. Den Wunsch, ein Tier wirklich zu besitzen, es zu berühren, zu pflegen, hatte er seit dem frühen Erlebnis mit dem Kätzchen nicht mehr. Einmal besorgte er sich Plastilin und versuchte, aus der Knetmasse sich selber Tiere zu schaffen, mußte aber bald erkennen, daß es ihm nicht gelang, einen Körper nur halbwegs richtig nach der Natur und gar nicht nach seinem vorgestellten Bild zu formen, und er schüttelte über sich selbst den Kopf: »nein, zu einem Bildhauer tauge ich nicht –«. – Auch Umgang mit Altersgenossen hatte er noch immer nicht, suchte auch keinen. Dagegen war er ein guter Freund für ein paar ABC-Schützen in seiner Wohngegend, denen er zuerst seine bunte Knetmasse fortschenkte, dann kam es dazu, daß er ihnen bei den Schulaufgaben half, später verteilte er die Schokolade an sie, mit der er noch immer reichlich von Lotte beschenkt wurde. Er ließ die »Knirpse«, wie er sie nannte, in seine Hosentasche langen und sich »was Süßes angeln«. Doch mit der Zeit hatte er dann wieder Mühe, sich vor der Balgerei um seine Taschen zu retten. – Diese meist nur kurzen Begegnungen mit den um vieles jüngeren Kindern und auf der anderen Seite wieder die Freundschaft mit dem Großvater, die er mit der alten, gleich starken Freude genoß, genügten dem Bedürfnis des Knaben nach Geselligkeit.

»Wir beiden Männer machen jetzt mal einen kleinen Bummel «, sagte der Großvater ostentativ zu seiner stillen, verkniffenen Frau und ging mit dem Enkel los. Sie schlenderten durch die sonntäglich stillen Straßen, und der Großvater erklärte die verschiedenen Bauarten der Häuser, erzählte von den wildbewegten Spekulationsgeschichten ihrer Grundstücke aus der Zeit, wo im »neuen Westen« noch die Pferdebahn gegangen und auf den jetzt pikfeinen Geschäftsstraßen Gras gewachsen sei – oder aber er hielt ihm Vorträge über seine »gewerkschaftliche Organisation«. Er war sehr stolz auf seinen Beruf. – »Siehst du, Hermann, jetzt bin ich nun Inspektor, sozusagen. Aber das Feinste ist und bleibt: Maurerpolier. Und warum? Das will ich dir erklären. Der Baumeister und der Architekt, siehst du, die verstehn es wohl, aber die können es nicht. Und der Maurer, der kann es wohl, aber der versteht es nicht. Aber ich, der Maurerpolier, siehst du wohl, mein Junge, der versteht es, und der kann es auch. – Bauen nämlich.« – Und als der Knabe lächelnd zustimmte, fügte der Mann hinzu: »Aber du, mein Sohn, du sollst was noch viel Feineres werden!« – Über das »was« freilich war er sich auch noch nicht im klaren, und hatte überhaupt manchmal seine Bedenken und Zweifel am Wesen des geliebten Enkels. So nahm er den Jungen gern zu seinen Kegelpartien mit, munterte ihn zum Trinken und Spielen auf, wäre zu allerhand Streichen willig gewesen, wenn es den Enkel dazu verlockt hätte, und manchmal dachte er sorgenvoll-enttäuscht: »Zu gut ist der Junge, vielleicht ein bißchen zu weich – aber nicht eine Stunde lang hat er Sorgen oder Ärger gemacht, das muß man schon sagen –«, denn trotz seiner Zartheit hatte das Kind nicht einmal durch eine ernstere Krankheit Kummer bereitet.


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