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Früh um acht Uhr kam unsere Haustochter Martha leichenblaß in mein Zimmer gestürzt und rief: »Kommen Sie schnell, kommen Sie schnell! Das gnädige Fräulein ...!« Ich sprang sofort aus dem Bett, nahm den Schlafrock über und fand meine teure, geliebte Adele halb bewußtlos auf dem Boden der Toilette liegend vor. Die Wasserflasche lag zerbrochen neben ihr, und ihr Schlafrock war völlig durchnäßt. So hatte die Arme die ganze Nacht gelegen.
Ich war so entsetzt, daß ich im ersten Moment vor Schreck gar nicht wußte, was tun. Ich versuchte, sie aufzuheben und in ihr Bett zu bringen, aber sie war zu schwer, ich schaffte es nicht. In meiner Verzweiflung lief ich zu Schwennickes, unseren Nachbarn, sehr netten Menschen, und holte die Dame und ihren Sohn Paul. Gemeinsam zogen wir nun Adele, die sich nicht erheben konnte, mit Hilfe des Teppichs über den glatten Parkettboden in ihr Schlafzimmer, und dort angelangt, half mir Frau Schwennicke, Adele umzuziehen und ganz vorsichtig ins Bett zu legen. Man durfte sie ja kaum anrühren, da ihr alles weh tat. »Willichen«, fragte sie flüsternd, »wo warst du? Ich habe die ganze Nacht nach dir gerufen, aber du kamst nicht.« »Ich konnte dich ja nicht hören«, erwiderte ich. »Alle Türen waren zu, und du weißt ja, daß ich hinten schlafe.« Darauf verlangte sie nach einem Schluck warmen Tees. Zum Glück war das Getränk schon vorbereitet, so daß ich es ihr gleich geben konnte. Während sie in kleinen Schlucken trank, versuchte ich so gut es ging, ihr das Haar in Ordnung zu bringen, und als ich damit fertig war, lief ich zum Telephon und ließ mich mit Geheimrat Professor Sauerbruch verbinden. Er kam selbst an den Apparat, ich erzählte ihm von dem Unglück, und er erklärte sich bereit, sofort zu kommen.
Es war etwa ein Uhr, als er erschien. Er untersuchte Adele und ordnete an, sie auf der Stelle in die Charité, und zwar in seine Privatklinik zu überführen. Ich bat den Geheimrat, mir zu gestatten, Adele begleiten und bei ihr bleiben zu dürfen, weil sie es allein dort nicht aushalten würde. Er willigte ein. Während Adele schlief, packte ich das Nötigste zusammen. Der Geheimrat gab telephonisch seine Befehle, und um vier Uhr kam ein Krankenwagen. Ein junger Arzt und die Operationsschwester brachten Adele sehr vorsichtig hinunter, und ich fuhr in einer Taxe mit dem Gepäck hinterdrein.
Sechzehn Monate sollte ihr Krankenlager dauern, und sechzehn Monate lang wich ich nicht von ihrer Seite.
Wir erhielten ein Zimmer mit zwei Betten und einem Balkon. Ich war sehr glücklich darüber, daß ich Tag und Nacht zur Stelle sein konnte, wenn Adele etwas brauchte, denn die Nachtschwestern hatten sehr viel zu tun, und so konnte ich aushelfen oder auch rufen, wenn sie benötigt wurden. »Willichen«, sagte Adele an einem der ersten Tage, »du gehst doch nicht fort, gelt?« »Nur wenn es unbedingt sein muß«, beruhigte ich sie, »sonst kommt es natürlich gar nicht in Frage.«
Ich packte nun aus und brachte gleich alles in die richtige Ordnung. Bei Adele stellte sich eine Lungenentzündung ein, die aber Gott sei Dank bald vorüberging. Danach bekam sie den Streckverband, und es hatte zuerst den Anschein, als ob die Sache normal verlaufen würde. Man mußte sich eben in Geduld üben und abwarten.
Manchmal gab es nun dringende Angelegenheiten, die unser Freund und treuer Berater Eugen Nase von der Dresdner Bank nicht ohne mich erledigen konnte, und die mich zwangen, Adele für kurze Zeit allein zu lassen. Dann saß ich oft unten im Saal der Charité, zitternd und bebend um Adele, und erledigte alles so schnell als möglich, denn sie weinte jedesmal, wenn ich fortgehen mußte, und auch mir brach fast das Herz. Es mußte aber sein, es ging nicht anders. Bei solchen Gelegenheiten kam gewöhnlich eine frühere Schülerin meiner Schwester, Frau Traute Lieb, und blieb so lange bei ihr, bis ich wieder zurückkehrte.
Besuche waren selten, nur unser Freund Nase durfte öfters kommen. In der Not lernt man seine Freunde kennen, und Eugen Nase war uns in dieser schweren Zeit wirklich ein Freund. Auch später, als sich Adelens Befinden immer mehr verschlimmerte, konnte ich mich in jeder Beziehung auf ihn verlassen.
Hunderte, Tausende von Briefen trafen in der Charité für uns ein, aus der ganzen Welt, von überallher. Die schönsten Blumen kamen stets von Herrn Reichs- und Propagandaminister Dr. Joseph Goebbels. Er nahm großen Anteil an dem Unglück meiner Schwester und ließ sich häufig nach ihrem Ergehen erkundigen. Die Fürstin Anna Donnersmarck brachte Adele Obst, der Fürst schickte Kaviar, weil er wußte, wie gern sie diese seltene Speise aß. Es kamen Harry Liedtke und Hubert v. Meyrinck, Ralph Arthur Roberts, Käthe Dorsch, Reinhold Schünzel, Viktor de Kowa, alle schickten Blumen und Briefe. Adelens Zimmer glich förmlich einem Blumengarten. Zum Glück war meiner Schwester ein großes Zimmer, ebenfalls mit Balkon, eingeräumt worden, da sich das erste sehr bald als zu klein erwiesen hatte.
Die Ärzte wünschten, daß Adele früh aufstehen sollte, aber sie konnte es nicht, es war ihr einfach unmöglich. Ihr hohes Alter, der Schreck über den Unfall und nicht zuletzt die Diabetes trugen wohl dazu bei, den Fall zu erschweren, aber sie sagte sich mit Goethe: »Jedes Ereignis mit Ehrfurcht betrachten und eine höhere Leitung darin erkennen.« Und das tat sie auch. Gott hatte ihr so viel Schönes in ihrem reichen Künstlerleben geschenkt, daß sie auch das Traurige und Unerbittliche von seiner Hand annehmen mußte. Nie kam eine Klage über ihre Lippen, immer war sie geduldig. Wenn sie sich etwas besser fühlte, sagte sie oft zu mir: »Ist es nicht merkwürdig? Mit Applaus bin ich zur Welt gekommen, und mit Applaus scheide ich von ihr.« »Aber liebe, gute Adele«, erwiderte ich und konnte die Tränen kaum zurückhalten, »wie kannst du nur so etwas denken? Du bist doch bald wieder gesund und wirst noch in sehr vielen Filmen spielen. Angebote liegen schon stoßweise da, und fortwährend ruft man an, um sich zu erkundigen, wie es dir geht und wann du wieder aufstehen kannst.« »Du willst mir ja nur Mut machen.« »Nein, mein Engel, es geht wirklich vorwärts.«
Adele trug ihre Krankheit mit philosophischer Ruhe. Sie sprach sehr wenig und dachte dafür um so mehr. Die Zeit in der Klinik war genau eingeteilt. Adele frühstückte um zehn Uhr, ich eine Stunde früher, nachdem ich leise aufgestanden war und mich ebenso leise angekleidet hatte. Nach dem Frühstück wurde sie schön gemacht; für die Ärzte, wie sie immer sagte. Es folgte die Ausführung der ärztlichen Anordnungen, und wenn Adele auch das hinter sich hatte, ging ich aus, um in aller Eile die notwendigsten Besorgungen zu machen. Manchmal benutzte ich diese Gelegenheit auch, um in die Kirche zu gehen.
Um halb zwei wurde gegessen. Verspätete ich mich, war alles böse auf mich, am meisten aber die Pflegerin. Anfangs ging beim Essen alles glatt, später stellten sich Beschwerden ein, und es zerbrach mir fast das Herz, wenn ich Adele so leiden sah. Gibt es denn überhaupt etwas Schlimmeres, als einen Menschen, den man liebt, leiden zu sehen und ihm nicht helfen zu können?
Waren die Störungen vorüber, wurde dunkel gemacht und geschlafen. Manchmal schlief sie, manchmal nicht. Punkt vier Uhr trat die Privatschwester ein, um Adele anzukleiden und das Bein zu wickeln. Darauf wurde auf dem langen Gang vor dem Zimmer ein Spaziergang gemacht, bei dem Adele von zwei Schwestern gestützt wurde, denn sie hatte viel zuviel Angst, um allein zu gehen. Sie konnte aber schon sehr schön laufen. Nach dem Spaziergang wurde der Tee eingenommen, bei gutem Wetter auf dem Balkon, meistens aber im Zimmer. Dann kam die Visite, hin und wieder auch der Geheimrat selbst, und so verging ein Tag nach dem andern. Einmal war es besser, einmal schlechter. Bis schließlich die Bestimmung getroffen wurde, Adele in eine andere Klinik zu überführen. Nach dem Chirurgen sollte nun ein Internist, Professor Siebeck, die Behandlung weiterführen.
Es wurde also alles eingepackt, und das war nicht wenig, denn seit dem Unglück waren immerhin zwölf Monate vergangen, und in dieser Zeit hatte sich allerlei angehäuft. Adele fügte sich und sagte: »Wie Gott will, ich halte still.« Ich hatte aber auch zu Hause alles so einrichten lassen, wie sie es aus der Charité gewöhnt war: ein Nickelbett stand in ihrem Schlafzimmer, mit einer Vorrichtung zum Hochziehen des Beins, und ein schöner Lehnstuhl mit einem großen Fußkissen, auf dem das Bein hätte ruhen können. Alles war bereit, sie hätte sich nur hinzulegen brauchen, aber sie wollte nicht und meinte stets: »Es ist zu schwer für dich. Das kann ich dir nicht zumuten. Ich kann dich nicht belasten, ich muß dich entlasten.« Und ich hätte sie ja so gerne zu Hause gehabt! Nichts wäre mir zu schwer geworden, wenn ich sie nur hätte am Leben erhalten können.
Als Adele vier Monate in der neuen Klinik zugebracht und ich die Überzeugung gewonnen hatte, daß es statt besser immer schlimmer wurde, sprach ich mit Professor Siebeck und bat ihn, mir die Erlaubnis zu geben, Adele nach Hause überführen zu lassen. Er war einverstanden, lehnte aber jede Verantwortung ab. »Die Verantwortung nehme ich auf mich, vor Gott und vor der Welt«, erwiderte ich. »Ich möchte, daß Adele das Gefühl hat, zu Hause zu sein.« So schnell ich nur konnte, packte ich also mit dem Aufgebot meiner letzten Kraft alles zusammen und ließ meine Schwester in einem Krankenwagen nach Hause bringen. Ein Arzt fuhr mit, ebenso Schwester Gusti, die Adele bis zuletzt treu gepflegt hatte.
Zu Hause angekommen, wurde Adele sofort zu Bett gebracht, der Arzt verabschiedete sich von uns, gab noch Anweisungen für die Nacht, und dann übernahm Dr. Paul Claßmann die Behandlung. Es war am 14. August 1937.
Nun hatte sie auf einmal den Wunsch, wieder gesund zu werden, und sooft Dr. Claßmann kam, sagte sie zu ihm: »Lieber Herr Doktor, bringen Sie mich doch wieder auf die Beine.« Er kam dreimal täglich, oft noch nachts, wenn es nötig war. Am 19. August war Adelens 73. Geburtstag. Sie erhielt Blumen über Blumen, die Diele stand voll, ebenso die Balkons. Die ganze Wohnung glich einem Blumenhain. Ich zeigte meiner geliebten Adele jeden Brief, jedes Telegramm, jeden Blumenstrauß, der gebracht wurde, und freute mich, wenn sie ein bißchen lächelte. Alle gratulierten ihr und wünschten, daß es nun bald besser werden möge, aber sie konnte ja schon fast nichts mehr essen. Sie sagte mir: »Morgen, liebes Willichen, morgen werde ich ganz bestimmt essen, heute kann ich nicht. Hebe die Blumen auf, bis ich wieder gesund bin. Du darfst nicht weinen, denn schau, wenn es Gottes Wille war, dann war es auch der meinige. Und nun laß mich schlafen. Wenn ich gesund bin, sehe ich mir alles an. Nein, weine nicht, es tut mir so weh.«
Vierzehn Tage hatte sie auf diese Weise wenigstens noch das Gefühl, in ihrer Wohnung zu sein. Manchmal verlangte sie nach Muttis Bild. Es lag stets neben ihr auf dem Nachttisch, und auch im Tode gab ich es ihr mit.
Dr. Glaßmann bemühte sich Tag und Nacht, aber das Ende war nicht mehr aufzuhalten, der Körper war zu geschwächt, und die vielen Lungenentzündungen hatten das Herz angegriffen. So wurde sie mitten aus ihrer bis zuletzt von Erfolg gekrönten Arbeit unbarmherzig herausgerissen. Es war am 30. August, abends um halb sieben Uhr, beim Schein der untergehenden Sonne, als ich erschüttert und gebrochen am Totenbett meiner geliebten Schwester Adele stand. Sie starb in meinen Armen, ich konnte ihr die Augen zudrücken, ich war ihr getreu bis in den Tod.
Nun kamen für mich schwere Stunden, doppelt schwer, weil ich selbst am Ende meiner Kraft war, aber es half nichts, ich mußte mich zusammenreißen. Meine erste Aufgabe war es, allen Freunden den Tod Adelens anzuzeigen. Ich tat es mit folgenden Worten:
Allen Menschen die tieferschütternde Nachricht, daß meine geliebte, teure Schwester,
Adele Sandrock,
am 30. August, abends um halb sieben Uhr, beim Sonnenuntergang, nach sechzehnmonatigem, mit größter Geduld ertragenem Krankenlager ihre edle Seele ausgehaucht hat. Ihre große Kraft zerbrach, ihr Herz hat aufgehört zu schlagen, und die schönen Augen werden sich nie mehr auftun. In tiefer Trauer im Namen aller Hinterbliebenen
Wilhelmine Sandrock.
Ich stand in meinem Schmerz nicht allein. Herr Reichs- und Propagandaminister Dr. Joseph Goebbels gab Anweisung zu einer offiziellen Trauerfeier, und da es der Wunsch meiner geliebten Adele gewesen war, neben meinen Eltern in Wien beerdigt zu werden, wurde mir auch die Einreise nach Österreich nach Möglichkeit erleichtert, denn damals gehörte Österreich ja noch nicht zum Reich. Ich bin Herrn Reichsminister Dr. Goebbels von Herzen dankbar für all das, was er in dieser Zeit an Aufmerksamkeit und Teilnahme meiner verstorbenen Schwester und mir erwiesen hat. Auch Dank an alle die, die sich an der Feier beteiligten und Adele damit die letzte Ehre erwiesen. Die Ansprache des deutschen Botschafters, Exzellenz von Papen, und die im Namen unseres geliebten Führers und Reichskanzlers Adolf Hitler erfolgende Niederlegung eines prachtvollen Kranzes waren für Wien Ereignisse, die Unzählige, die damals in und um den Friedhof standen, in tiefster Ehrerbietung miterlebten. Auch Reichsmarschall Göring sprach mir in seinem und seiner Gattin Namen telegraphisch sein Beileid aus, kurzum, es war eine Anteilnahme, deren Größe und Herzlichkeit mich erschütterten. Angehörige des ehemaligen Kaiserhauses, Fürst und Fürstin Donnersmarck, der damalige holländische Gesandte, fast alle Schauspieler der Berliner Theater und ihre Direktoren, ja fast alle Theater Deutschlands schickten Blumen, Kränze, Telegramme oder Beileidsbriefe. Vom Renaissance-Theater und dessen Leiter, Direktor Bernau, kam ein herrlicher Kranz, von Direktor Hans Horak ein Gebinde der gleichen prachtvollen Rosen, mit denen er Adele so oft bei Premieren oder Festen erfreut hatte. Von mir hielt sie eine Rose und ein Sträußchen Vergißmeinnicht in den Händen, und ein großes Kreuz aus Blumen lag oben auf ihrem Sarg.
Ich hatte Adele in ihrem Salon sehr schön aufbahren lassen, wohl an viertausend Menschen gingen an ihrem Sarg vorbei. Dabei spielten sich sehr bewegte Szenen ab: Menschen, die ihren Schmerz über den Verlust nicht unterdrücken konnten, jammerten und weinten laut.
Bei der schlichten Totenfeier, die ebenfalls in der Wohnung stattfand, sang Frieda Langendorf zwei sehr ergreifende Lieder, nachdem der Pastor der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche in seiner Ansprache unvergleichliche Worte des Gedenkens gefunden hatte.
Das Programm der Gedächtnisfeier im Theater in der Saarlandstraße sah als Auftakt das Vorspiel zu Parsifal von Richard Wagner vor, ausgeführt vom Orchester der Volksoper unter Leitung von Erich Ortmann. Hieran schlossen sich eine Ansprache Eugen Klopfers, Monologe aus Medea und Sappho, gesprochen von Hermine Körner, eine Ansprache Hans Helmut Zerletts und schließlich das Adagio op. 59 von Ludwig van Beethoven.
Ein bis an die Decke gefülltes Haus wohnte der Feier bei. Meine Schwägerin Emmy Sandrock, meine Nichte Jutta Tügel und deren Gatte begleiteten mich. Als ich halb gebrochen ankam, wurde mir die Ehre zuteil, von Herrn Reichsminister Dr. Goebbels am Arm in den Festraum geführt zu werden. Nachdem die Musik verklungen war und die Künstler ihre Vorträge gehalten hatten, dankte ich dem Herrn Reichsminister und allen, die gekommen waren, meinen Schmerz mit mir zu tragen.
Am 4. September, frühmorgens um sechs Uhr, verließ sie das Haus, die Wohnung, wo wir so viele Jahre zusammen gelebt und Freude und Leid miteinander geteilt hatten. Sie wurde hinausgetragen auf Nimmer-, Nimmerwiedersehen. Ich fiel Fräulein Dr. Gertrud Haupt, die gekommen war, um noch einmal von ihr Abschied zu nehmen, fast ohnmächtig in die Arme.
Drei Autos brachten uns nach Wien, eins für die Kränze und Blumen, das Auto mit der teuren Verstorbenen und das Auto, in dem ich fuhr. Meine Schwägerin, Frau Emmy Sandrock, Frau Traute Lieb und die Krankenschwester Gusti begleiteten mich. Auch diesmal hatte mir unser Freund Nase wieder alle Schwierigkeiten vorsorglich aus dem Wege geräumt, so daß ich mich um nichts zu sorgen brauchte.
Die Fahrt ging ziemlich glatt vonstatten, das Auto wurde überall, auch in Österreich, mit dem Deutschen Gruß geehrt. Ich saß in meiner Ecke und weinte. Hatten wir irgendwo Aufenthalt, wurden die Autos sofort von Neugierigen umringt. Wenn sie aber Adelens Namen hörten oder auf den Kranzschleifen lasen, zeigten sie sich sofort bedrückt und ergriffen und schauten voll Mitleid auf mich. Manche näherten sich auch und sprachen mir ihr Beileid aus.
Am ersten Tag fuhren wir bis Regensburg, wo wir übernachteten. Die Fahrt selbst war für mich sehr aufregend. Wie lustig und heiter war ich doch früher mit Adele durch die Lande gereist! Wir hatten stets viel Spaß unterwegs gehabt, und nun mußte ich allein hinter ihrem Sarg herfahren. Mein ein und alles war nicht mehr, und ich konnte es noch immer nicht fassen.
Es war ein Glück, daß ich die Fahrt mit dem Auto machen konnte, denn eine Reise mit der Bahn hätte ja noch viel schmerzlichere Erinnerungen aufgerührt, und ich weiß nicht, ob ich sie wirklich bis zum Ende durchgehalten hätte.
Von Regensburg aus ging es durch das schöne Donautal, an so vielem vorbei, was Adele auf Reisen früher so sehr geliebt und bewundert hatte. Vielleicht begleitete sie mich auf diesem schmerzlichen Weg vom Himmel aus.
Am 6. September trafen wir abends um sieben Uhr in Hietzing ein. Ich wollte sie die Nacht über noch dort lassen, erhielt aber den Bescheid, daß es besser sei, sie sofort zum Friedhof zu bringen. Auf dem Wege dorthin ließ ich Adele noch um das Burgtheater, das Deutsche Volkstheater und am Theater an der Wien vorbeifahren, wo sie ihre ersten Erfolge errungen hatte. Es war eine traurige Fahrt.
Es war bald Mitternacht, als wir endlich auf dem Friedhof ankamen. Adele wurde sogleich aufgebahrt, aber ich war so erschöpft, daß ich in mein Hotel zurückkehren mußte, um für das, was mir noch bevorstand, frische Kräfte zu sammeln. Eine schwere Arbeit hatte ich jedoch noch vor dem Schlafengehen zu erledigen: ich mußte an unsere Wiener Freunde Todesanzeigen verschicken. Alle Behörden, sämtliche Zeitungen und vor allem die Theaterdirektoren, Künstler und Künstlerinnen – niemand durfte vergessen werden. Frau Traute Lieb half mir dabei, und so blieben mir nach Bewältigung dieser traurigen Aufgabe doch noch ein paar Stunden Zeit, um wenigstens vorübergehend meinen Schmerz zu vergessen. Ich habe mich oft und oft gefragt, wie es nur möglich war, daß ich all dieses ausführen und ertragen konnte, und ich bin zu dem Schluß gekommen, daß ich die Kraft dazu nur meiner grenzenlosen Liebe zu Adele und meinem Gottvertrauen zu verdanken hatte.
Am folgenden Tage ging ich zum Friedhof, um mit Pastor Rieger über die Leichenfeier zu sprechen und mir die Aufbahrung anzusehen. Es war ein Gang, der wohl sehr schmerzlich war, aber doch getan werden mußte. Man hatte alles auf das schönste vorbereitet, die Kränze waren aufgefrischt worden, und der schöne, schlichte Altar, die vielen Lichter machten einen erhebenden Eindruck.
Am 8. September, nachmittags um drei Uhr, fand die Beisetzung statt. Zuerst wurde gebetet, darauf spielte die Orgel, und dann trat Pastor Rieger zum Altar, der sich hinter dem Sarge meiner geliebten Adele befand, und hielt eine tief empfundene Ansprache, in der er hervorhob, daß drei Nationen, Deutschland, Holland und Österreich, um diese Tote trauerten. Als Pastor Rieger geendet hatte, kamen die Träger, um den Sarg zu holen, und der Trauerzug setzte sich in Bewegung. Es war Adelens letzter Weg. Ich schritt hinter dem Sarge her, gefolgt von den übrigen Trauergästen. Exzellenz von Papen, der deutsche Botschafter, brachte den herrlichen Kranz des Führers und legte ihn in seinem Namen nieder. Nach ihm sprachen der Direktor des Burgtheaters, der Stellvertreter des Oberbürgermeisters der Stadt Wien, die Abgesandten des Deutschen Volkstheaters, die Schauspielerin Pepi Klöckner und andere. Als die letzte Rede verklungen war, trat Exzellenz von Papen auf mich zu und sagte, indem er sich von mir verabschiedete: »Größere Ehren sind wohl noch keinem Sterblichen zuteil geworden. Leben Sie wohl, Fräulein Sandrock.«
Nach Beendigung der Feier strömten alle die Menschen herein, die keine Einladung bekommen hatten, weil man befürchtete, die Gräber könnten zertreten werden, und das wäre gewiß nicht im Sinne Adelens gewesen. Ich kann wohl sagen, daß die Beisetzung einen äußerst würdigen und eindrucksvollen Verlauf nahm. Die Teilnehmer waren tief ergriffen, viele weinten und schluchzten, und auch mein Schmerz war furchtbar. Er ist es heute noch, und niemals werde ich meine innig geliebte Adele auch nur einen Augenblick vergessen.
Bald nach der Beisetzung reiste meine Schwägerin, Frau Emmy Sandrock, nach Meiningen zurück, und Frau Traute Lieb fuhr mit Schwester Gusti wieder nach Berlin. Ich blieb allein mit meinem Schmerz und konnte mich nun ganz meiner Adele widmen. Tag und Nacht gedachte ich ihrer, sogar im Traum sah ich sie in zweierlei Gestalt, als tragische und als heitere Muse, von kleinen Engeln umgeben, am Grabe stehen.
Dieser Traum ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Hatte Adele in ihrem künstlerischen Schaffen nicht beide verkörpert? War diese Vision nicht das vollendete Sinnbild ihres Strebens?
Der Gedanke daran ließ mich nicht los, während ich die Entwürfe zu einem Denkmal für Adele prüfte, die mir von verschiedenen namhaften Bildhauern zugeschickt worden waren. Da erhielt ich eines Tages einen sehr netten Brief von Professor Karl Zinsler, der meine Schwester früher in Wien oft gesehen hatte und ein großer Verehrer ihrer Kunst war. Er bat mich um eine Zusammenkunft, um mir die Entwürfe einiger seiner Denkmäler zu zeigen. Ich sah sie mir an, sie waren großartig, eines schöner als das andere, aber keines so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Für Adele mußte es eben etwas Besonderes sein.
Endlich erzählte ich ihm von meinem Traum und fragte, ob er diesen Traum in Marmor umsetzen könne. Er erklärte, er wolle es versuchen. Die Idee sei prachtvoll, aber in Marmor nicht leicht auszuführen. Ich bat ihn, vorläufig ganz unverbindlich einen Entwurf zu machen, da ich mich erst in Berlin mit der Behörde ins Einvernehmen setzen müsse.
Ich fuhr nun ziemlich bedrückt nach Berlin zurück, da ich fürchtete, die für das Denkmal notwendigen Devisen nicht bewilligt zu bekommen. Und so war es auch. Meine Wünsche konnten nicht berücksichtigt werden, und ich zweifelte schon daran, daß sich meine Absicht, das Denkmal Adele zu ihrem fünfundsiebzigsten Geburtstag zum Geschenk zu machen, verwirklichen lassen würde. Schwierigkeiten über Schwierigkeiten türmten sich vor mir auf, und ich sah kein Ende. Da geschah über Nacht ein Wunder. Man kann es nicht anders nennen. Durch die geniale Politik unseres Führers und Reichskanzlers Adolf Hitler fielen am 12. März 1938 die Grenzen. Österreich kam zum Reich, und in kürzester Frist waren alle Hindernisse beseitigt. Es war möglich, wieder nach Wien zu fahren, wann man wollte, und das tat ich nun auch. Ich sah mir den Entwurf an, konnte das Denkmal bestellen und bezahlen und sah nun doch noch meine Hoffnung in Erfüllung gehen.
Die Enthüllung des Denkmals an Adelens fünfundsiebzigsten Geburtstag fand unter der größten Beteiligung aller Persönlichkeiten der Behörden, der Kollegen, der Presse und nicht zuletzt der Wiener Bevölkerung statt. Nun steht es auf ihrem Grab in aller Pracht und Schönheit, ein bleibendes Mal für Zeit und Ewigkeit!
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Die in diesem Werk veröffentlichten Privataufnahmen und Rollenbilder der Wiener Zeit stammen aus dem Besitz von Frau Wilhelmine Sandrock.
Die Photos der Partner und Direktoren Adele Sandrocks stellte die Nationalbibliothek, Wien, zur Verfügung.
Die Filmbilder und die Theaterphotos der letzten Zeit sind Aufnahmen der Ufa, Cine-Allianz, Terra, K. U.-Film und des Ateliers Foßhag.
Die Privatbilder auf Seite 177 lieferten die Ateliers Gerstenberg-Dührkoop und Binder.