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Burgtheater

Es gab wieder einen rührenden Abschied vom Kapitän, der mich sehr verwöhnt und mir als besonderes Zeichen seiner Gunst sogar erlaubt hatte, auf der Kommandobrücke zu stehen, aber ich war trotzdem froh, daß nun auch das glücklich überstanden war. Zwei Tage lang mußte ich mich von den Strapazen ausruhen, dann fuhren wir alle zusammen nach Wien. Wilhelmine hatte während meiner Abwesenheit eine schöne Wohnung in der Babenberger Straße gemietet und sie mit unseren Möbeln aus Berlin und Rußland ausgestattet. Auch Papa war aus Berlin in Wien eingetroffen und erwartete uns am Bahnhof, und während Wilhelmine es übernahm, meine Garderobe auszupacken und alles in Ordnung zu bringen, fuhr ich mit meiner Mutter und meinem Bruder, die ebenfalls erholungsbedürftig waren, auf den Semmering, um einmal gründlich auszuspannen. Von dort aus telephonierte ich mit der Direktion des Deutschen Volkstheaters, meldete, daß ich wieder in Wien eingetroffen sei, und fragte, wann mein Wiederauftreten stattfinden sollte. Es war für den 5. Mai vorgesehen, und zwar in »Eva« von Voß, meiner Lieblingsrolle, mit Dr. Tyrolt.

siehe Bildunterschrift

Brief Direktor Burckhards an Adele Sandrock

Mit meiner Erholung ging es nur sehr langsam voran. Wir machten schöne Ausflüge in die Umgebung, fuhren nach Mariaschutz und Mariazell, und als die Zeit um war, kehrten wir gekräftigt nach Wien zurück, und ich bereitete mich für mein erstes Auftreten nach der Amerikareise vor. Ganz plötzlich war der 5. Mai da, und der Abend wurde zu einem Erfolg, wie ich ihn kaum erwartet hatte. Minutenlange Pausen mußte ich machen, bevor ich überhaupt ein Wort sprechen konnte. Die Begeisterung hielt die ganze Vorstellung über an, Blumen, nichts als Blumen, und zum Schluß wurden mir die Pferde vom Wagen gespannt, und unter Jubel und Hochrufen zogen mich Studenten bis vor meine Wohnung, die nicht weit vom Volkstheater entfernt war. Mein Wiederauftreten gestaltete sich auf diese Weise zu einem vollen Sieg, alle Stücke, in denen ich spielte, waren ausverkauft, und es schien, als sei ich niemals von Wien fortgewesen. So zeigten mir die Wiener ihre Liebe und Verehrung, die mich wahrhaft glücklich machten, und die ich damit dankend quittierte, daß ich meine ganze Kraft und Kunst dem Deutschen Volkstheater und seinem Publikum widmete.

Schon lange vorher, im September 1890, hatte ich einen Antrag an das k. u. k. Hofburgtheater erhalten, die höchste Auszeichnung, die einem Schauspieler zuteil werden konnte, denn das Hofburgtheater stand damals in vollster Blüte, und ich sollte die erste Stelle einnehmen, die der Tragödin, und das als Nachfolgerin Charlotte Wolters. In den Zeitungen wurde natürlich die einzig dastehende Tatsache, daß man ganze fünf Jahre auf mich warten mußte, weidlich erörtert. So schrieb das Neue Wiener Tageblatt vom 15. September 1890: »Fräulein Adele Sandrock wurde von Herrn Direktor Max Burckhard für das Burgtheater engagiert. Das ist allerdings eine die Theaterfreunde Wiens interessierende Tatsache, die von keiner Seite dementiert werden dürfte. Die beliebte Schauspielerin, die Hauptzugkraft des Deutschen Volkstheaters, wurde für das Burgtheater gewonnen. Die Damen des Burgtheaters brauchen sich jedoch darüber kein graues Haar wachsen zu lassen, und die lieben Kolleginnen im Deutschen Volkstheater haben vorderhand noch keinen Grund, Halleluja oder Gaudeamus zu singen, denn Fräulein Adele Sandrock wird erst im Jahre 1895 ihr Engagement am Burgtheater antreten können ... Die Direktion des Volkstheaters denkt keinen Augenblick daran, Fräulein Sandrock vor Ablauf ihres Vertrages freizugeben.«

Das Fremdenblatt vom gleichen Tage schrieb:

»Fräulein Adele Sandrock, welche derzeit dem Verband des Deutschen Volkstheaters angehört und für die Dauer von fünf Jahren an dieses Institut gebunden ist, hat einen Vertrag mit Direktor Burckhard abgeschlossen, laut welchem Fräulein Sandrock nach Ablauf ihres Engagements am Deutschen Volkstheater in den Verband des Hofburgtheaters tritt. Die junge Künstlerin hat in Wien verhältnismäßig sehr rasch, man kann wohl sagen, über Nacht Karriere gemacht. Als Gast trat sie im Theater an der Wien in dem Dumasschen Sensationsstück ›Der Fall Clémenceau‹ in der Rolle der Iza zum erstenmal auf und hatte sich sozusagen die Gunst des Publikums im Sturm erobert. Nachdem sie ihr Gastspiel im Theater an der Wien beendet hatte, folgte sie einem Ruf an das Deutsche Volkstheater, zu dessen ersten und künstlerisch erprobtesten Mitgliedern die Künstlerin zählt. Eine Reihe von überaus großen Erfolgen dieser Bühne ist mit der Darstellungskunst des Fräulein Sandrock ewig und innig verknüpft. Wir erinnern nur an ihre Sanda in der ›Hochzeit von Valeni‹, an ›Eva‹, ›Alexandra‹, ›Marcianna‹ und viele andere. In allen Rollen bekundete Fräulein Sandrock eine ganz außergewöhnliche, geniale Begabung, und so konnte es nicht fehlen, daß die Aufmerksamkeit der Kreise unseres Hoftheaters auf sie gelenkt wurde. Erst nach fünf Jahren tritt sie in den Verband des Hofburgtheaters.«

Diese Nachricht wirkte wie eine Bombe. Im Deutschen Volkstheater war alles aufgeregt, und das Publikum konnte es zuerst kaum fassen, daß ich vom Volkstheater scheiden sollte. Ich selbst war innerlich sehr befriedigt, denn ich sah in dieser frühen Verpflichtung einen Beweis für die Wertschätzung, die man mir im Hofburgtheater entgegenbrachte. Ein Honigschlecken waren diese fünf Jahre jedoch nicht. Sie waren für mich eine Kampfzeit, und ich hatte viel, sehr viel zu überwinden und mußte mich sehr zusammennehmen, um meine Geduld zu bewahren und keinen unüberlegten Schritt zu tun. Viel Ehr', viel Neid, dieses Sprichwort hat sich in meiner Künstlerlaufbahn bewahrheitet. In meinem Lexikon war das Wort Neid allerdings nicht vertreten. Im Gegenteil, ich freute mich, wenn meine Kollegen und Kolleginnen Großes leisteten, und meine Begeisterung stieg oft bis zum Siedepunkt, wenn ich durch die Darstellung eines Friedrich Mitterwurzer, Ludwig Wüllner, Ernesto Rossi, Ermete Zacconi, einer Charlotte Wolter oder Eleonore Duse Augenblicke höchster künstlerischer Bewährung erleben durfte. Solche Leistungen fanden stets meine restlose Bewunderung.

Das Volkstheater hatte inzwischen Helene Odilon engagiert. Sie wurde auch sehr geschätzt, schadete sich aber durch ihre Ehe mit Girardi, die sehr unglücklich auslief und sogar zu einem Skandal Anlaß gab. Ich bin immer der Ansicht gewesen, daß eine Künstlerin, die es ernst mit ihrer Kunst meint, nicht heiraten soll. Entweder leidet die Kunst, oder es leidet der Mann. Selten nur kommt es vor, daß man beides vereinigen kann, und so habe ich aus Liebe zu meiner Kunst auf die Ehe verzichtet. Auch meine Mutter war sehr gegen eine Heirat, und wenn sich ein Neugieriger heranwagte, konnte er schnell schauen, daß er weiterkam.

Ich will nun nicht sagen, daß ich keinen Freund hatte. Ich brauchte immer einen Menschen, mit dem ich mich über das, was mich beschäftigte, unterhalten konnte, denn nicht alles war mit der geliebten Mutter zu besprechen. Trotzdem blieb sie für mich mein ganzes Leben lang Nummer eins, und ich hätte sie niemals eines Mannes wegen verlassen. Sie war und blieb bis zu ihrem Lebensende mein Glück und meine Seligkeit. Ich habe für sie gesorgt, gearbeitet und es ihr an nichts fehlen lassen. Sie wurde sechsundachtzig Jahre alt, und Wilhelmine, die sie während ihrer langen Krankheit Tag und Nacht pflegte, dachte ebenso wie ich. Auch sie blieb ledig aus Liebe zur Mutter. Eine tiefe, sehr tiefe Neigung trug ich im Herzen, aber diese geht mit mir ins Grab, und niemand wird erfahren, wem sie gegolten hat.

Nun kam der Zeitpunkt heran, an dem ich das Volkstheater verlassen sollte, um mein Engagement am Hofburgtheater anzutreten. Als Abschiedsrolle hatte ich die Thekla in »Kameraden« gewählt. Es war ein Zugstück und hatte einen derartigen Erfolg, daß es stets ausverkauft war, wenn es auf dem Spielplan stand. Und nun erst an meinem Abschiedsabend. Aus dem einen Abend wurden fünf, denn ich mußte die Rolle am 27., 28., 29., 30. und 31. Januar 1895 spielen. Das Publikum war einfach nicht zu bändigen, jeder wollte bei meinem Abschied dabeigewesen sein. Es war aber auch ein Abschied, der sich sehen lassen konnte. Vier große Wagen mit Blumen mußten in meine Wohnung befördert werden, und als ich am allerletzten Abend die Bühne betrat, ging ein Blütenregen aus den Soffitten auf mich hernieder, eine Spende der Theaterarbeiter und des technischen Personals an ihre Adele. Die Direktion schenkte mir ein Bild mit der Widmung: »Dem Stolz, der Zier, dem Stern des Deutschen Volkstheaters, unserer Sandrock. Emmerich von Bukowics.« Die Abschiedsrede des Direktors war wundervoll. Ich sollte auch sprechen, aber es war mir nicht möglich, ich war zu erregt. Nur »Dank, Dank für Ihre Liebe«, konnte ich hervorstammeln, »und erhalten Sie mir Ihre Liebe an der neuen Kunststätte.«

Ich weiß nicht, wie oft ich an diesem Abend hervorgerufen wurde, ich weiß nur, daß ich auf einem Stuhl zusammensank und stöhnte: »Ich kann nicht mehr, Direktor. Bitte, gehen Sie für mich und sagen Sie dem Publikum, daß ich erschöpft bin.« Als schließlich auch das vorüber war, drängte man sich auf der Bühne um mich, und jeder fiel mir um den Hals, um Abschied zu nehmen. Nur meine Ankleiderin Anna Schönfeld begleitete mich ja an meine neue Wirkungsstätte. Ich hatte mich so an sie gewöhnt, daß es mir unmöglich war, mich von ihr zu trennen, und meine diesbezügliche Bitte war von meiner neuen Direktion auch ohne weiteres erfüllt worden.

Meinen Vertrag hatte ich vom Burgtheater erhalten, und mein Auftreten war für den 7. Februar angesetzt. Die Antrittsrollen waren »Maria Stuart«, »Feodora« und die Hero in »Des Meeres und der Liebe Wellen«. In diesem Stück sollte ich mit Wilhelmine zusammen spielen. Vorerst aber hatte ich noch zahllose Besuche abzustatten. Ich mußte zum Fürsten Liechtenstein, zum Fürsten Montenuovo, dem Intendanten Baron Bezecny, Direktor Burckhard und anderen Standespersönlichkeiten. Gelegentlich meines Besuches bei Charlotte Wolter in Hietzing schrieb ein besonders witziger Journalist »Adelens Wallfahrt nach Hietzing«, statt nach Kevelaer.

siehe Bildunterschrift

Medea

Allmählich kam der Abend heran, an dem ich die berühmten Bretter des Hofburgtheaters betreten sollte. Wenn ich mir auch schon in den vorhergegangenen Jahren einen Namen erworben hatte, so konnte ich mich doch bei dem Gedanken an das bevorstehende Ereignis einer heiligen Scheu nicht erwehren, denn es waren lauter große Künstler, die dort spielten: Bernhard Baumeister, Josef Lewinsky, Charlotte Wolter, Friedrich Mitterwurzer, Zerline Gabillon, Stella Hohenfels, Emmerich Robert, Georg Reimers, die Wessely, Meixner, Devrient, Schöne, Helene Hartmann und, nicht zu vergessen, ihr Mann Ernst Hartmann, das waren alles Namen, die in der damaligen Kunstwelt viel zu bedeuten hatten. An ihrer Seite sich zu behaupten, war eine Bewährungsprobe, die erst bestanden werden wollte.

siehe Bildunterschrift

Magda in »Heimat«

Die »Maria Stuart« hatte ich ja schon im Deutschen Volkstheater gespielt und brauchte daher nicht mehr viel zu probieren. Am Abend der Vorstellung war der ganze Hof anwesend, Kaiser Franz Joseph an der Spitze. Jede Loge war mit einer Fürstlichkeit besetzt. Es war ein Parkett- und Logenpublikum, wie es sich nur bei besonderen Gelegenheiten in Wien zusammenfinden konnte. Der Direktor hatte seinen Platz auf dem Ecksitz der zweiten Parkettreihe und kam nach jedem Akt zu mir auf die Bühne, um mich über die Stimmung im Publikum zu unterrichten. Nach der großen Szene zwischen Maria und Elisabeth: »Der Thron von England ist durch einen Bastard entweiht, der Briten edelherzig Volk durch eine list'ge Gauklerin betrogen! Regierte Recht, so läget Ihr vor mir im Staube jetzt, denn ich bin Euer König!« brach ein Beifallssturm los, wie ihn das Burgtheater wohl selten zu hören bekommen hat. Ein ganzer Akt wurde durchapplaudiert. Ich mußte mich wohl dreißigmal verbeugen, und alles strahlte vor Freude, am meisten aber meine Mutter und Wilhelmine, die mir stets prophezeit hatten, daß ich die höchste Stufe in der Kunst erreichen würde, auch damals schon, als noch niemand so recht an mein Talent glauben wollte. Und nun war er da, dieser Moment! Nun wurde ihre Zuversicht vom Publikum bestätigt, und wie!

Ich war sehr glücklich, als der Direktor auf die Bühne gestürzt kam und sagte: »Kindele, Kindele, Sie haben gesiegt! Der Kaiser hat mit dem Applaus zuerst angefangen, und das ist maßgebend. Sie haben einen großen Erfolg, Sie haben sich selbst übertroffen, Adele! Ich gratuliere Ihnen von Herzen.«

Und nicht anders war es mit jeder weiteren Antrittsrolle. Als die Fürstin in »Feodora«, neben mir Ernst Hartmann als Loris Ipanow, und als Hero in »Des Meeres und der Liebe Wellen« wurde ich ebenso stürmisch gefeiert. Man gratulierte dem Direktor zum Engagement und sprach die Hoffnung aus, daß man mich nun festhalten würde, denn es gäbe nicht viele Talente vom Schlage einer Sandrock.

»... schon nach der ersten großen Szene ging ein rauschender Beifall durch das Haus«, konnte man in der Presse lesen. »In dem Gespräch mit Burleigh führte die neueste Maria Stuart ihre Sache mit Energie ... in der Zwiesprache zwischen ihr und Elisabeth waren alle weichen Stellen, alles Rührende, Bittende, Flehende mit herzlicher Wahrheit gesprochen. Auch das Stürmische und Zürnende war nicht ohne eine gewisse Größe, ja Fräulein Bleibtreus Elisabeth war gegen sie doch nur ein zürnendes Kätzchen, das sich den Angriffen einer Löwin ausgesetzt sieht ... Man schien allgemein zu empfinden, daß Fräulein Sandrock mit Zeit und Weile dem Burgtheater viel werden könne. Das stark zerrüttete klassische Repertoire des Burgtheaters muß in der nächsten Zukunft von Grund aus wieder aufgebaut werden, und bei diesem so notwendigen Werke wird man auf Fräulein Sandrocks Talent rechnen und bauen müssen.«

Nur wer eine Vorstellung davon hat, wie zurückhaltend und kritisch man einem Neuling auf den Brettern des Burgtheaters gewöhnlich entgegenkam, kann beurteilen, was dieses Lob zu bedeuten hatte.

»Unter den zeitgenössischen deutschen Schauspielerinnen aber ist keine, welche als Heroine auch nur annähernd an die Kraft und künstlerische Anmut von Adele Sandrock heranreichte«, schrieb ein anderer Kritiker, der mein Spiel in Ibsens »Klein Eyolf« folgendermaßen würdigte: »Als Rita Almers entfaltete Adele Sandrock ihr Talent zur vollsten Geltung. Die heißblütige Sinnlichkeit des Weibes war durch eine herzbezwingende Liebenswürdigkeit gemildert, die Rätselsprache Ibsens war durch ein instinktives Erfassen ihrer Meinung in allen ihren Stimmungen geklärt, reizvoll gesteigert und abgestuft, die Größe des seelischen Konfliktes in diesem Weibe war imponierend veranschaulicht. Rita Almers war die Heldin der Vorstellung ganz so, wie sie die Heldin des Stückes ist. Und solcher Erfolg geriet der Künstlerin neben Schauspielern wie das Ehepaar Mitterwurzer und neben der Herzbezwingerin Stella Hohenfels!«

Vom 7. Februar 1895 bis zum 18. Oktober 1899 spielte ich im Burgtheater einunddreißig Premieren, dazu noch Gastspiele in Prag, Brünn, Marienbad und Karlsbad, im Sommer auch in Franzensbad und Teplitz, kleine Abstecher, die ich so nebenbei leicht erledigen konnte, und die mir stets Geld und Ruhm einbrachten. Ich kann wohl sagen, daß ich Tag und Nacht studiert und gearbeitet habe, und wenn mir eine Szene besonders glückte, dann ging ich auch nachts noch zu meiner Mutter und weckte sie mit den Worten: »Mutti, Mutti, jetzt habe ich's 'raus. Höre mich bitte an, Liebe, und sei nicht böse, daß ich dich im Schlaf störe, aber ich freue mich so sehr, daß ich die Szene endlich erfaßt habe.« Ob es sich nun um die Lady Macbeth oder die Judith oder die Messalina handelte, sie war immer bereit, mich anzuhören und mir zu sagen, ob es gut war oder nicht. Und sie hatte stets recht. Meine Erfolge haben es bewiesen.

Ich spielte im Burgtheater die Kleopatra, Adrienne Lecouvreur, Feodora, die Rita Almers in »Klein-Eyolf«, Elisabeth in Sudermanns »Glück im Winkel«, die Judith, die Adelheid in »Götz von Berlichingen«, die Prinzessin Eboli in »Don Carlos«, die Messalina. Alle diese Rollen brachten mir glänzende Erfolge, die um so höher zu bewerten waren, als Charlotte Wolter sozusagen ein Monopol auf sie besaß.

Man kann sich wohl denken, daß diese dauernden Erfolge auch Neid erregten, wie das ja im Leben stets der Fall ist. Aber die Neider vergessen, wieviel Arbeit, wieviel Mühe, wieviel schlaflose Nächte es kostet, die höchste Stufe auf der Leiter der Kunst zu erklimmen, und daß Entsagungen und Opfer auf allen anderen Gebieten Vorbedingungen dafür sind. Ich konnte ja immer nur nachts studieren, wenn alles im Hause ruhig und still war. Dann war es für mich eine Wonne, meine Rolle zu nehmen und mich in den Charakter zu vertiefen, den ich darstellen sollte. Und es ist keine Übertreibung, wenn ich sage, daß ich mich so in ihn versenkte, daß sich immer etwas von ihm auf meine Person übertrug, solange ich mich mit dem Studium dieser Rolle befaßte.

Am Tage war meistens Probe. Hatte ich mal keine und wollte ich vormittags ein oder zwei Stunden studieren, wurde ich jeden Augenblick gestört, entweder durch das Telephon oder durch meine Köchin. Sie klopfte in der Regel an, kam entsetzt herein, bevor ich abwehren konnte, und sagte: »Gnädiges Fräulein, entschuldigen bitte, Knödli sind zerfallen und die Bratwurst ist zerplatzt«, oder etwas Ähnliches von gleicher Wichtigkeit. Meine Stimmung war natürlich vollständig hin, und mit dem Studium war es aus. Ich warf meine Rolle an die Wand, ging wütend in den Prater, und bis ich mich endlich wieder beruhigt hatte, war es auch schon wieder Zeit zum Essen.

Ich war stets pünktlich. Um drei Uhr mußte das Essen serviert werden, wenn ich nicht durch Proben verhindert war. Danach kam die Nachmittagsruhe, die nur an Premierentagen ausfiel, da ich mich bei derartigen Gelegenheiten bis zum letzten Augenblick mit meiner Rolle beschäftigte. An solchen Tagen durfte sich überhaupt niemand mucksen, und ich war für niemand zu sprechen.

Im Burgtheater kam es höchst selten vor, daß noch am Tage der Premiere eine große Generalprobe stattfand. Meistens war sie einen Tag vorher, und in ihrem Verlauf wurden dann die letzten Änderungen oder Striche vorgenommen, so daß man meistens während der entscheidenden Stunden Ruhe hatte. Es war ein herrliches Arbeiten. Die Leseproben gefielen mir besonders gut. Die Schauspieler saßen um einen großen Tisch herum, jeder mit einem Bleistift bewaffnet, und der Regisseur, der das Stück inszenierte, hielt eine kleine Ansprache, und jeder Schauspieler las seine Rolle nun im Ton des Stückes. Dadurch gewann man nicht nur einen besseren Überblick, sondern konnte sich auch sofort ein Bild machen, wie dieses oder jenes im einzelnen wirken würde. Natürlich fanden solche Leseproben nur bei ganz neuen Stücken statt, bei älteren nicht.

Während meiner Burgtheaterzeit kam ich mit vielen ausländischen Schauspielern zusammen, unter anderen mit Ernesto Rossi, Italiens größtem Tragöden, Ermete Zacconi, Caruso, Eleonore Duse und Sarah Bernhardt. Ibsen lernte ich ebenfalls kennen. Er war zur Premiere von »Klein Eyolf« aus Norwegen gekommen und machte Mitterwurzer und mir Komplimente über unser Spiel.

Auf dem großen Bankett, mit dem man das Ereignis feierte, wurde er sehr geehrt. Auch die beiden Coquelins gehörten zu meinen Bewunderern. Sie alle hatten mich im Hofburgtheater spielen sehen und schätzten mich sehr.

Damals und auch später habe ich es nie versäumt, während meiner Reisen nach Frankreich, Italien, Rußland, Holland oder Belgien, ob sie nun mit Gastspielen verbunden waren oder nicht, die Theater dieser Länder zu besuchen, und zwar Schauspiel und Oper. Auf diese Weise lernte ich auch die fremden Künstler kennen und bewundern.

Die Gastspiele bildeten für mich auch eine Zerstreuung, denn ich hatte am Burgtheater fortwährend kleinliche Eifersüchteleien durchzukosten und war Anfeindungen ausgesetzt, die mich tief kränkten. Es gab Wochen, in denen ich mich keinen Mittag zu Tisch setzen konnte, ohne daß mir die Tränen herunterliefen, und meine Mutter viel zu tun hatte, mich zu trösten. Diese Quertreibereien spielten sich aber stets im geheimen ab und nie war jemand auf frischer Tat zu ertappen.

Dann versetzte uns der Tod unseres geliebten Vaters in tiefste Trauer. Nach dem großen Glück kam auf einmal eine traurige Zeit für uns, denn auch Wilhelmines Vertrag ging zu Ende und wurde nicht erneuert. Wie sollten wir, die wir uns alle so liebten und ein in der ganzen Kunstwelt fast sprichwörtlich glückliches Familienleben führten, diese Schicksalsschläge ertragen? Ich machte die Angelegenheit meiner Schwester sofort zu der meinigen, denn ich konnte es nicht überwinden, daß man eine Künstlerin, die dem Burgtheater vierzehn Jahre hindurch ein wertvolles Mitglied gewesen war, so plötzlich auf die Straße setzte. Mein innerstes Wesen empörte sich gegen diese Behandlung, ich verschaffte mir eine Audienz bei Kaiser Franz Joseph und trug ihm mein Anliegen vor. Man sollte meine Schwester wieder in Gnaden einstellen, da sie so viele Jahre voll und ganz ihre Pflicht erfüllt hatte oder uns beide in Gnaden entlassen. Der Kaiser erwiderte, daß er sich über die Angelegenheit Bericht erstatten lassen werde. Der Bescheid werde uns zugehen. Wir waren die einzigen weiblichen Wesen unter lauter hohen Offizieren in ordensgeschmückten und goldbestickten Uniformen, und unsere Herzen klopften mächtig, denn es war sehr aufregend, vom Kaiser empfangen zu werden. Jedenfalls wäre Wilhelmine beim Hofknicks bald umgefallen, so zitterte sie.

Nun hieß es, auf Antwort warten. Es vergingen ungefähr vierzehn Tage, dann kam ein Schreiben vom Obersthofmeisteramt, in dem es hieß, Adele Sandrock werde nicht entlassen, und Wilhelmine Sandrock erhalte eine Gnadenpension in Höhe von zweitausendvierhundert Kronen, und zwar vom 1. September 1898 ab, dem Tage, an dem sie das Burgtheater verließe. Ich konnte nun nichts mehr tun und mußte mich vorderhand damit zufrieden geben, aber ich war doch froh, daß sie wenigstens eine Gnadenpension bekommen hatte.

Da Wilhelmine sehr beliebt war und sich überdies eine ausgezeichnete Stellung am Burgtheater errungen hatte, brachten die Zeitungen spaltenlange Artikel über ihre Entlassung. Niemand konnte verstehen, warum man sie gehen ließ, und mein Schmerz über diese Handlungsweise wurde schließlich so groß, daß er alle vernünftigen Überlegungen über den Haufen warf. Trotz meines guten Willens erschien es mir einfach nicht mehr möglich, länger am Burgtheater auszuhalten, weil die Liebe zu meiner Schwester stärker war als das Verlangen, an einer Stätte zu bleiben, an der ich mich ohne sie dauernd unglücklich gefühlt hätte. Denn was mir meine geliebte Schwester bedeutete, kann niemand erfassen. Sie war für mich der Inbegriff alles Edlen und Guten, stets bereit, zu trösten, zu helfen und zu besänftigen. Niemals setzte sie jemand hinter seinem Rücken herab, im Gegenteil, sie hatte für alles noch Worte der Entschuldigung. Und diese schöne Gemeinschaft sollte nun auf einmal zu Ende sein? Gegen meine unsichtbaren Widersacher sollte ich allein weiterkämpfen? Nein, nein und tausendmal nein, ich konnte und wollte es nicht! Lieber gab auch ich meine Stellung am Burgtheater auf. Wilhelmine hätte natürlich von diesem Schritt abgeraten, aber sie war schon in Berlin, als ich mich dazu entschloß, und als ich ihr meinen Standpunkt mitteilte, schrieb sie mir genau so, wie ich vorausgesehen hatte: »Dillichen, tu es nicht, bleib am Burgtheater. Du hast es nun erreicht. Warum willst du meinetwegen diese schöne Stellung von Dir werfen?«

Es war jedoch schon zu spät. Mein Herz war mir stets für meine Handlungen maßgebend, so auch in diesem Fall. Ich hatte sehr viel zu arbeiten, und die unaufhörlichen kleinen Nörgeleien machten mich wahnsinnig. Vielleicht waren aber auch meine Nerven durch den Verlust unseres Vaters so angegriffen, daß ich nicht mehr Ruhe genug besaß, alles zu überlegen und dabei gleichgültig zu bleiben.


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