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Hoffnungen und Sorgen

Ich schrieb schon, daß ich Unterricht erteilte, und vergaß dabei, meinen Neffen Edgar Sandrock zu nennen, den ich vollständig für die Bühne ausgebildet hatte. Er besaß ein sehr schönes Talent, und als ich im Februar mit ihm nach Meiningen fuhr – denn er sollte an der gleichen Stelle anfangen, an der ich meine ersten künstlerischen Eindrücke empfing – sagte der Intendant zu mir: »Ich habe noch nie einen Anfänger gesehen, der so fertig auf der Probe erschienen ist wie Ihr Neffe!«

Beim Gastspiel machte er mir viel Freude, aber als ich kurze Zeit darauf wieder nach Berlin fahren mußte und er sich selbst überlassen blieb, war es aus mit seinem Fleiß, er machte Dummheiten und vernachlässigte sein Studium. Es war schade, ich hatte mir soviel Mühe mit ihm gegeben.

Er spielte noch einen Sommer lang in Pyrmont, später in Braunschweig, dann ging er mit einem deutschen Ensemble auf eine Tournee nach Südamerika. Er blieb in Buenos Aires und wollte sich dort selbständig machen. Ich hatte ihm eine Ausstattung und so viel Geld mitgegeben, wie ich eben entbehren konnte, und hoffte, nun Freude an ihm zu erleben. Zuerst schrieb er auch pünktlich liebe, nette Briefe, aber schon sehr bald hörten wir nichts mehr von ihm. Ich setzte alles in Bewegung, um etwas über seinen Aufenthalt zu erfahren, bemühte das deutsche und das holländische Konsulat, ich bat den Rundfunk, etwas für mich zu unternehmen – es hat alles nichts genützt. Edgar blieb verschollen, und die Ungewißheit über sein Schicksal ist stets ein großer Schmerz für mich und Wilhelmine geblieben. Mein letzter Brief an ihn kam aus Buenos Aires zurück, auf seinem Umschlag stand: »Il est parti.« Ein Meldewesen existiert ja dort nicht, und so ist es sehr schwer, zu erfahren, ob der Junge noch lebt. Mit bangem Herzen warte ich immer noch, ob nicht doch eines Tages ein Lebenszeichen von ihm eintrifft, aber ich fürchte, ich warte umsonst.

Und doch, wie sehr würde ich mich freuen, denn ich werde den Augenblick niemals vergessen, als mein Bruder ihn mir vor vielen Jahren nach Wien brachte. Mein Herz flog dem Kleinen im Sturm zu, er hatte es schon in der ersten Sekunde unseres Beisammenseins erobert, und ich wußte nicht, was ich alles anstellen sollte, um ihm meine Zuneigung zu beweisen. Soviel Spielsachen hat wohl noch kein Kind auf einmal bekommen, denn damals war ich noch am Burgtheater und konnte für den Buben, der einige Monate bei mir zubringen sollte, etwas springen lassen. Es wurde sofort eine Erzieherin genommen, ein Kinderzimmer eingerichtet, und von nun an beherrschte uns Klein-Edgar unumschränkt, denn er war ganz und gar das Abbild seines Vaters, als dieser ebenso klein gewesen war. Die sich aber am meisten von ihm tyrannisieren ließ, war natürlich die Großmutter.

Als dann der Tag kam, an dem der Kleine wieder abgeholt wurde, konnte ich mich kaum von ihm trennen. Mein Bruder wollte ihn nach München nehmen, um ihn dort erziehen zu lassen. Er kam auch bald in eine Pension, aber nicht nach München, sondern nach Bad Salzungen in Thüringen. Wir besuchten ihn im Sommer, während ich im dortigen Theater mit »Alexandra« und »Heimat« gastierte. Edgar spielte eine kleine Rolle, ein Kind, das am Weihnachtsabend beschenkt wird. Er machte seine Sache gut.

Als in Wien plötzlich ein Kind bei mir auftauchte, konnten sich leichtfertige Zungen natürlich nicht genug darin tun, Vermutungen zu äußern, und viele meinten, Edgar sei mein Sohn. Aber das war ja nun doch nicht gut möglich, denn ich stand Tag um Tag auf der Bühne, mußte Rollen gebären und hatte daher für derlei Dinge keine Zeit; hätte ich mir jedoch als Privatiere diesen Luxus erlauben können, ich glaube, ich wäre eine sehr gute Mutter geworden, denn mein kleiner Neffe sagte mir häufig: »Liebe Tante Adele, warum darf ich nicht bei dir bleiben?«

Nun wird man wohl den Schmerz verstehen, der mich erfüllte, als der liebe, hübsche Junge auf einmal verschollen war, und wenn ich nicht schon so alt wäre, hätte ich die Reise nach Südamerika nicht gescheut, um ihn zu suchen oder Näheres über sein Verschwinden zu erfahren. Hoffentlich höre ich noch einmal von ihm, es wäre mein sehnlichster Wunsch.

Es ist seltsam, daß mein Leben ständig von Unruhe und Erregung aufgewühlt wurde, während die Ruhe für mich wirklich eine Notwendigkeit war. Aber das hat wohl etwas mit meinem Stern zu tun, und daß er seinen Ruf vollauf bestätigt hat, kann ich wohl sagen.

Nach den schlimmen Kriegsjahren, in denen ich die geliebte teure Mutter verlor, wurde es keineswegs sofort besser. Ich wurde von der Behörde gezwungen, fremde Menschen, Dollarschieber, in meine Wohnung aufzunehmen. An zwei Personen hatte ich mehrere Zimmer vermietet, und zwanzig bis fünfundzwanzig gingen täglich aus und ein. Mein ruhiges, stilles Heim war auf einmal zum Rummelplatz geworden. Es wurde geraucht, getrunken, gezankt, geprügelt, und in all diesem Lärm bemühte sich meine arme Wilhelmine, die Hausordnung so gut wie möglich aufrechtzuerhalten, was gewiß nicht immer leicht war.

Es war Inflation, das Geld besaß keinen Wert mehr, es hieß immer nur: Wie steht der Dollar? Mein Gott, was war das für eine furchtbare Zeit! Wenn man nicht gleich in ein Geschäft ging, um für das Geld, das man erhielt, etwas zu kaufen, bekam man nichts dafür. Ich erinnere mich an einen Film, den wir in und bei München drehten: »Der Raub der Helena.« Hanna Ralph, Albert Steinrück und ich spielten die Hauptrollen. Wir wohnten in Steinebach am Wörthsee, einem Dorf, das ich aus guten Gründen in »Schweinebach am Neppsee« umtaufte. Dort war es, wo die schönsten Zimmer für die Ausländer reserviert blieben, während die Deutschen in Mansarden hausen durften. Das paßte mir natürlich nicht. Ich zog aus und mietete mir woanders eine möblierte Wohnung. Zwar sagten sich da die Füchse gute Nacht, aber ich war wenigstens anständig untergebracht und trotzdem auch in der Nähe des Ortes, wo die Aufnahmen stattfanden. Die Umstände, unter denen wir arbeiten mußten, waren furchtbar. In Eisenbahnwaggons kleideten wir uns um, und den ganzen Tag brannte die Sonne auf uns herab, so daß wir fast vor Hitze umkamen. Mittags gab es eine trockene Semmel für viertausend und eine »Halbe« für achttausend Mark, und Wilhelmine begnügte sich, ohne ein Wort darüber zu verlieren, mit Fallobst – kleinen, verkrüppelten Äpfeln oder Birnen – das sie am Rand der Landstraße auflas. Und wenn wir dann abends ausgehungert und erschöpft im Wirtshaus erschienen, hieß es fast immer: »Die Saufilmer kommen zu spät, das Feuer ist aus, warmes Essen gibt's nicht.« Nach langen und stürmischen Auseinandersetzungen mit dem Wirt erreichten wir es jedoch, daß wir wenigstens Bratkartoffeln mit Augsburgern oder einen Eierkuchen bekamen – mehr konnten wir uns ohnehin nicht leisten – wozu wir Bier trinken mußten, weil es sonst auch keine Speisen gegeben hätte.

Eines Tages – wir drehten schon wieder in München – erhielt ich die Nachricht, daß uns Zar Ferdinand von Bulgarien und Prinzessin August Wilhelm im Atelier mit ihrem Besuch beehren würden. Ich meldete es sofort der Direktion, und es wurde in aller Schnelligkeit ein Empfang vorbereitet. Wir hatten ja das Glück, den Zaren schon von früher, vom Burgtheater her, zu kennen, als er noch Prinz gewesen war. Und so gestaltete sich dieser Tag zu einem wirklichen Freudentag, den ich in meinem Kalender mal rot anstreichen konnte. Bei dem rasch herbeigeschafften Frühstück plauderten wir so gemütlich, als hätte der Zar zeit seines Lebens nur mit Künstlern verkehrt. Er war bezaubernd, besichtigte die wirklich sehenswerten Dekorationen und verfolgte dann mit Interesse die Aufnahme einiger Szenen, in denen ich zu spielen hatte. Beim Abschied sprach er seine Befriedigung über das Gesehene aus und ließ sich mit uns photographieren. So hatte ich ein schönes Andenken an diese Begebenheit. Ich habe mir die Bilder aufbewahrt und stets in Ehren gehalten.

Auch einer Theatervorstellung durften wir in Begleitung des Zaren beiwohnen. Es gab an diesem Abend »Don Carlos«. Meine Schülerin Emmy Pregler spielte die Königin, und ich hatte allen Grund, mich über ihre große Begabung zu freuen.

Mit den Kollegen, denen ich bei diesem Film begegnete, verband mich gute Freundschaft. So etwa mit Albert Steinrück, der nicht nur ein wundervoller Schauspieler, sondern darüber hinaus auch ein edler und guter Mensch war. Ebenso mit Karl de Vogt und seinem treuen Klärchen. Der Direktor des Münchner Konzerns, für den der Film hergestellt wurde, starb bald darauf den Freitod. Der Film war wohl sein Ruin gewesen, denn wenn man sich vorstellt, daß die Aufnahmen drei Monate lang dauerten und allein zur Entlohnung der vielen Statisten täglich Schubkarren voll Geld – es war ja Inflation – gebraucht wurden, erscheint es einem nicht weiter verwunderlich, daß der Direktor unter der Last zusammenbrach. Überhaupt war dieser Film kein Glücksfilm. Viele der Beteiligten starben noch während der Aufnahmen und manche bald danach. Ich wurde in Gips modelliert und habe den Abdruck aufbewahrt, zum Andenken an die Inflation, an Steinebach am Wörthsee, an München und nicht zuletzt an die Begegnung mit dem kunstsinnigen Monarchen Ferdinand von Bulgarien.

Nach Abschluß der Aufnahmen ging es zurück nach Berlin, zur lebhaften Freude der Schaffner natürlich, denn ich hatte wieder sehr viel Gepäck bei mir, und das Reisen war damals im Krieg ohnehin nicht leicht. Man mußte froh sein, wenn man überhaupt einen Platz bekam und nicht die ganze Fahrt über stehen mußte.

In meiner Wohnung angekommen, fand ich ein wildes Durcheinander vor. Zu keiner Stunde des Tages oder der Nacht war man davor sicher, völlig wildfremden Menschen zu begegnen, und man konnte noch von Glück sagen, wenn sie einmal nicht betrunken waren. Eines Nachts kam Wilhelmine ganz bestürzt in mein Zimmer und sagte: »Dilly, sie schlagen sich. Soll ich nicht die Polizei rufen?« Unser Mieter hatte sich, wie ich später vom Portier erfuhr, schon vorher mit einem Herrn im Hausflur geprügelt, den er zu Recht oder Unrecht für den Liebhaber seiner Frau hielt. Das ging mir denn doch über die Hutschnur. Was sollten denn die anderen Hausbewohner von uns denken?

Ich klopfte also energisch bei ihnen an, trat ein und sagte: »Schämen Sie sich nicht, sich in einer fremden Wohnung so aufzuführen? Daß Sie nicht zu arbeiten brauchen und deshalb die Nacht zum Tage machen können, ist Ihre Sache. Ich aber muß arbeiten, um meinen Lebensunterhalt zu verdienen, und brauche meine Ruhe. Wenn Sie also nicht sofort aufhören, hole ich die Polizei, denn das kann mir niemand zumuten!«

Meine Worte bewirkten wohl, daß sie einsahen, wie ungebührlich sie sich benommen hatten, und für den Augenblick wenigstens war die Ordnung wiederhergestellt. Gott sei Dank waren es die letzten Mieter. Ich habe dieses Unglück viermal mitgemacht, jedesmal in einer anderen, aber darum nicht weniger unangenehmen Form, und niemals stand das, was diese Leute bezahlten, im Verhältnis zu dem, was wirklich ruiniert wurde, denn wenn sie auszogen, mußte ich stets Tischler, Tapezierer und Maler bestellen und die Wohnung nach und nach wieder instand setzen lassen.

Nun war es aber Schluß mit dem Kämmerchen vermieten, dieses letzte Erlebnis hatte das Maß zum Überlaufen gebracht. Ich teilte der Behörde mit, daß ich meine Wohnung in Zukunft nicht mehr anderweitig vergeben könne, da ich sonst nicht mehr in der Lage sei, meiner Arbeit nachzugehen, und am glücklichsten darüber war die arme Wilhelmine, die ja ohne jede Hilfe die Lasten und Sorgen des Vermietens hatte auf sich nehmen müssen und wirklich manchmal nicht gewußt hatte, wo ihr der Kopf stand.

Ich habe damals die Erfahrung gemacht, daß es nichts Unangenehmeres gibt, als sein Heim nicht allein bewohnen zu können. Beim Studieren und Unterrichten stören fremde Menschen gewaltig. Entweder schreien sie laut oder schlagen die Türen, daß es nur so knallt. Auch Schicksalsschläge erträgt man viel leichter, wenn man allein in seinen vier Wänden ist. Für mich war es immer am schlimmsten, wenn ich abends aus dem Atelier oder Theater todmüde und abgespannt nach Hause kam und eine lärmende, überlustige, tobende Gesellschaft vorfand, die sich mit Wodka oder schwedischem Punsch erst in die richtige Stimmung versetzte. In solchen Augenblicken standen uns wirklich manchmal die Haare zu Berge, und man kann verstehen, wie froh wir waren, keine fremden Menschen mehr in die Wohnung aufnehmen zu müssen, die nur dafür Interesse hatten, wie hoch der Dollar stand. »Gott sei dank«, sagten wir, umarmten uns und atmeten auf, denn es war ein langes Martyrium gewesen, und wir konnten nun endlich das schöne Liedchen singen: »Befreit, befreit, o Seligkeit.«

siehe Bildunterschrift

Mit Käthe Gold in dem Film »Amphitrion«

siehe Bildunterschrift

Mit Curt Goetz in »Der Lügner und die Nonne«

siehe Bildunterschrift

Privatbilder aus der letzten Zeit

Der Hauswirt, der mir soviel Schmerz bereitet hatte, verkaufte sein Haus in der Leibnizstraße und zog nach Mecklenburg. Alle seine Pläne waren durchkreuzt worden, er hatte nichts gegen mich erreichen können. Was ich schuldig war, zahlte ich, als ich wieder verdiente, und damit war die Sache für mich erledigt.

Im Jahre 1924 verloren wir unseren Bruder. Meinen Schmerz über diesen Verlust zu schildern, ist fast unmöglich. Ich hatte ihn zur Erholung noch nach Kissingen in ein Sanatorium geschickt, aber er war durch den Krieg zu sehr heruntergekommen, Aufregungen und Kränkungen hatten sein Herz geschwächt, und die Inflation hatte ihm den Rest gegeben, kurz und gut, dieser herrliche Mensch, der stets so lustig und lebensfroh, heiter und sonnig gewesen war, mußte erliegen.

Als ich aus Kissingen die Nachricht erhielt, daß es mit ihm zu Ende ginge, brachen wir unseren Aufenthalt am Walchensee, wo wir mit ihm zusammen noch acht Wochen verbracht hatten, sofort ab und fuhren zu ihm. Frühmorgens trafen wir in Kissingen ein und wurden von unserer Schwägerin mit der Trauerbotschaft erwartet, daß Christel schon hinübergeschlummert sei. Nur sein Sohn Edgar, unser Neffe, meine Schwägerin und wir selbst nebst einigen Freunden waren bei der Beisetzung zugegen. Christel war Historien- und Porträtmaler.

Auch als Schriftsteller hatte er sich viel betätigt. Einer seiner Romane hieß »Lydia«, ein anderes Buch »Die Weinkiste«. Sein Theaterstück »Jeanne« habe ich in Bad Kissingen selbst aus der Taufe gehoben und mit ihm einen sehr schönen Erfolg erzielt. Mein Bruder strahlte damals vor Freude und Glückseligkeit. Er war viele Jahre hindurch in Kissingen, wo er sich stets neue Kräfte für den Winter geholt hatte, zur Kur gewesen, hatte sich dort immer wie zu Hause gefühlt, und ich erfüllte ihm daher seinen Wunsch, dort begraben zu sein.

Für mich und Wilhelmine war Christels Tod ein harter Schlag. In den ersten Wochen war ich unfähig, irgend etwas zu unternehmen, obwohl jeder mir riet und ich selbst mir sagte, daß nur Arbeit und wieder Arbeit mir am ehesten über diesen großen Schmerz hinweghelfen würde. Und so schwer es mir wurde, ich versuchte es. Man bot mir ein Engagement am Metropol-Theater an, und ich schlug ein. Ich weiß nicht, wie oft ich diese kleine Rolle, eine Fürstin in einer Operette Meister Lehars, gespielt habe, aber ihr verdanke ich es, daß ich mich langsam von meinem Schmerz erholen konnte. Über einen Todesfall kommt man ja nie hinweg, und ebensowenig wie ich über den Tod meines Vaters und meiner von mir über alles geliebten Mutter hinwegkam, konnte ich den Verlust meines Bruders Christel verschmerzen.


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