Felix Salten
Bambi
Felix Salten

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Die Kälte zerbrach, und mitten im Winter entstand eine Lücke. In großen Zügen trank die Erde den schmelzenden Schnee, so daß überall schon breite Flächen des Bodens zum Vorschein kamen. Die Amseln sangen noch nicht, aber wenn sie jetzt vom Boden aufflogen, wo sie Würmer suchten, oder wenn sie von Baum zu Baum flatterten, ließen sie ein lang andauerndes, fröhliches Schrillen hören, das fast schon wie Gesang war. Der Specht begann da und dort wieder zu lachen, Elstern und Krähen wurden gesprächiger, die Meisen plauderten lustiger miteinander, und die Fasanen blieben jetzt, wenn sie von ihren Schlafbäumen sich abgeschwungen hatten, beinahe ebenso lange wie zur guten Zeit an einer Stelle stehen, um in der Morgensonne ihr Gefieder zu schütteln und ihren metallisch berstenden Ruf auszukrähen, in kurzen Pausen immer wieder und wieder.

An solch einem Morgen schweifte Bambi weiter umher als sonst. In der ersten Frühdämmerung kam er an den Rand des Grabens. Drüben auf der andern Seite, dort, wo er früher einmal gelebt hatte, regte sich etwas. Bambi blieb im Gestrüpp verborgen und spähte hinüber. Richtig, dort ging jemand von seiner Art langsam hin und her, suchte die schneefreien Flecke und machte sich an den voreilig emporgetriebenen Gräsern zu schaffen.

Eben wollte Bambi sich gleichgültig abwenden und weggehen, da erkannte er Faline. Seine erste Regung war, hervorzuspringen und sie zu rufen. Aber er blieb stehen wie festgebunden. So lange Zeit hatte er Faline nicht gesehen. Sein Herz begann heiß zu klopfen. Faline ging langsam, als wenn sie müde wäre oder traurig. Sie glich jetzt ihrer Mutter, sah aus wie Tante Ena, und Bambi bemerkte das mit einem wunderlich quälenden Staunen.

Faline hob das Haupt und spähte herüber, als fühle sie seine Nähe.

Wieder zog es Bambi, hervorzutreten, aber wieder stand er, von Ohnmacht gelähmt, und konnte sich nicht regen.

Er sah, daß Faline grau geworden war und alt.

Die muntere, dreiste, kleine Faline, dachte er, wie schön ist sie gewesen und wie behende! Die ganze Jugendzeit schimmerte plötzlich in ihm auf. Die Wiese, die Wege, die seine Mutter ihn geführt hatte, die frohen Spiele mit Gobo und Faline, das gute Heupferdchen und der Schmetterling, der Kampf mit Karus und Ronno, in dem er Faline für sich erobert hatte. Er fühlte sich auf einmal wieder glücklich und war dennoch erschüttert.

Drüben ging jetzt Faline, das Haupt zu Boden gesenkt, davon, langsam, müde und traurig. Bambi liebte sie in diesem Augenblick mit hinströmender zärtlicher Wehmut, wollte durch den Graben, der ihn nun schon so lange von ihr und den andern trennte, hinüber, wollte sie einholen, sie anreden und mit ihr von der Jugend sprechen, von allem, was gewesen.

Dabei sah er ihr nach, wie sie durch die kahlen Sträucher fortging und endlich verschwand.

Lang stand er da und blickte hinüber.

Ein Donnerschlag krachte. Bambi fuhr zusammen.

Das war hier, auf dieser Seite des Grabens. Nicht eben nahe, aber doch hier, auf dieser, seiner Seite.

Da krachte noch ein Donnerschlag und gleich darauf wieder einer.

Bambi tat einige Sätze tiefer ins Dickicht zurück, hielt dort inne und lauschte. Alles still. Behutsam schlich er heimwärts.

Der Alte war schon da, hatte sich aber noch nicht niedergetan, sondern stand neben dem gestürzten Buchenstamm, als habe er gewartet.

»Wo bleibst du so lange?« fragte er so ernst, daß Bambi schwieg.

»Hast du vorhin gehört?« fuhr der Alte nach einer Weile fort.

»Ja«, antwortete Bambi, »dreimal . . . Er ist im Walde.«

»Freilich . . .« Der Alte nickte und wiederholte mit besonderer Betonung: »Er ist im Walde . . . wir müssen hingehen.«

»Wohin?« entschlüpfte es Bambi.

»Dorthin«, sagte der Alte, und seine Stimme war schwer, »dorthin, wo Er jetzt ist.«

Bambi erschrak.

»Erschrick nicht«, redete der Alte weiter. »Komm jetzt und sei ohne Furcht. Ich bin froh, daß ich dich hinführen und dir das zeigen kann . . .« Er zögerte und setzte leise hinzu: ». . . ehe ich scheide.«

Bambi blickte den Alten betroffen an und gewahrte mit einem Male, wie verfallen er aussah. Sein Haupt war jetzt ganz und gar weiß, sein Gesicht ganz abgemagert, in seinen schönen Augen war der tiefe Glanz erloschen, sie hatten einen matten, grünen Schein und waren wie gebrochen.

Bambi und der Alte gingen nicht weit, da wehte ihnen der erste Hauch jener scharfen Witterung entgegen, die so viel Drohung und Entsetzen in ihr Herz zu senden vermag.

Bambi blieb stehen. Aber der Alte ging weiter, geradewegs dieser Witterung entgegen. Zögernd folgte Bambi.

In immer schärferen Wellen schlug der aufreizende Geruch heran. Doch der Alte ging unaufhaltsam weiter. In Bambi war der Fluchtgedanke aufgesprungen, zuckte in seiner Brust, fuhr ihm siedend durch Kopf und Glieder und wollte ihn mit sich fortreißen. Er hielt sich gewaltsam und blieb hinter dem Alten.

Nun schwoll diese feindselige Witterung so mächtig an, daß keine andere neben ihr sich mehr fühlen ließ, und daß es kaum noch möglich war, zu atmen.

»Da!« sagte der Alte und trat zur Seite.

Auf zerknicktem Buschwerk im zerwühlten Schnee lag Er am Boden, zwei Schritte vor ihnen.

Ein unterdrückter Schrecklaut entfuhr Bambi, und mit einem jähen Sprung setzte er zur ersehnten Flucht an. Er war beinahe von Sinnen vor Schreck.

»Halt!« hörte er den Alten rufen, blickte sich um und sah, wie der Alte ruhig dort stand, wo Er am Boden lag. Außer sich vor Staunen, herbeigezwungen von seinem Gehorsam, von grenzenloser Neugier und bebendem Erwarten, trat Bambi näher.

»Nur näher . . . ohne Furcht«, sagte der Alte.

Da lag Er, das blasse, nackte Gesicht nach aufwärts gewendet, der Hut ein wenig abseits für sich im Schnee, und Bambi, der nichts von Hüten wußte, meinte, dies furchtbare Haupt sei in zwei Stücke zerschlagen.

Der entblößte Hals des Wildschützen war von einer Wunde durchbohrt, die wie ein kleiner roter Mund offen stand. Blut sickerte noch leise hervor, Blut starrte in den Haaren, unter der Nase und lag in einer breiten Lache im Schnee, der von seiner Wärme zerschmolz.

»Hier stehen wir«, begann der Alte leise, »ganz nahe bei Ihm stehen wir . . . und wo ist nun die Gefahr?«

Bambi sah zu dem Liegenden nieder, dessen Gestalt, dessen Glieder und Fell ihm rätselhaft und grauenvoll erschienen. Er schaute in die gebrochenen Augen, die blicklos zu ihm emporstarrten, und er begriff gar nichts.

»Bambi«, fuhr der Alte fort, »erinnerst du dich an das, was Gobo gesagt hat, an das, was der Hund gesagt hat, an das, was sie alle glauben . . .erinnerst du dich?«

Bambi vermochte nicht zu antworten.

»Siehst du wohl, Bambi«, sprach der Alte weiter, »siehst du nun, daß Er daliegt, wie einer von uns? Höre, Bambi, Er ist nicht allmächtig, wie sie sagen. Er ist es nicht, von dem alles kommt, was da wächst und lebt. Er ist nicht über uns! Neben uns ist Er und ist wie wir selber, denn Er kennt wie wir die Angst, die Not und das Leid. Er kann überwältigt werden gleich uns, und dann liegt Er hilflos am Boden, so wie wir andern, so wie du Ihn jetzt vor dir siehst.«

Eine Stille war.

»Verstehst du mich, Bambi?« fragte der Alte.

Bambi erwiderte flüsternd: »Ich glaube . . .«

Der Alte gebot: »So sprich!«

Bambi erglühte und sprach bebend: »Ein anderer ist über uns allen . . . über uns und über Ihm.«

»Dann kann ich gehen«, sagte der Alte.

Er kehrte sich ab, und sie wanderten beide eine Strecke miteinander.

Vor einer hohen Esche blieb der Alte stehen. »Folge mir nicht mehr, Bambi«, begann er mit ruhiger Stimme, »meine Zeit ist um. Nun muß ich mir einen Platz suchen für das Ende . . .«

Bambi wollte reden.

»Nein«, der Alte schnitt ihm das Wort ab, »nein . . . in der Stunde, der ich jetzt entgegengehe, sind wir ein jeder allein. Leb wohl, mein Sohn . . . ich habe dich sehr geliebt.«

 

Der Sommertag entglühte schon in der ersten Morgenfrühe ohne jeden Windhauch, ohne Dämmerkühle. Es schien, als käme die Sonne heute eiliger als sonst. Schnell stieg sie herauf, brach mit blendenden Flammen aus wie ein ungeheurer Brand.

Der Tau auf den Wiesen und Sträuchern verdampfte im Nu; die Erde wurde ganz trocken, und ihre Schollen zerbröckelten. Im Walde wurde es frühzeitig still. Nur den Specht hörte man hier und da auflachen, und nur die Tauben gurrten in unermüdlicher, inbrünstiger Zärtlichkeit.

Bambi stand auf einer verborgenen kleinen Blöße, die im tiefen Dickicht ein wenig freien Raum bot. Ihm zu Häupten tanzte und sang ein Mückenschwarm in der Sonne. Aus den Blättern des Haselbusches neben Bambi surrte es leise, kam näher, und ein großer Maikäfer flog langsam herbei, flog mitten durch den Mückenschwarm, höher und höher, dem Baumwipfel zu, in dem er bis zum Abend schlafen wollte. Seine Flügeldecken stachen spitz und zierlich von ihm ab, seine Flügel brausten vor Kraft.

»Habt ihr ihn gesehen . . .?« fragten die Mücken untereinander. »Das ist der Alte«, sangen die einen. Und die andern sangen: »Alle von seiner Sippe sind schon tot. Aber er lebt noch.«

Ein paar ganz kleine Mücken fragten: »Wie lange mag er wohl leben?« Die übrigen sangen zur Antwort: »Das wissen wir nicht. Er hat alle die Seinigen überlebt . . . uralt ist er . . . uralt.«

Bambi ging weiter. Mückenlied, dachte er, Mückenlied . . . Ein zartes, ängstliches Rufen drang zu ihm. Stimmen von seiner eigenen Art: »Mutter . . . Mutter!«

Bambi schlüpfte durch die Büsche, folgte dem Rufen. Dort standen zwei Junge beisammen in roten Röckchen, Bruder, Schwester, alleingelassen und verzagt: »Mutter! . . . Mutter! . . .«

Noch ehe sie recht wußten, was geschah, stand Bambi vor ihnen. Sprachlos starrten sie ihn an. »Eure Mutter hat jetzt keine Zeit«, sagte Bambi streng. Er blickte dem Kleinen in die Augen: »Kannst du nicht allein sein?«

Der Kleine und seine Schwester blieben stumm.

Bambi wandte sich ab, schlüpfte in den nächsten Busch und verschwand, noch ehe sich die beiden besinnen konnten. Er ging weiter. »Der Junge gefällt mir . . .« dachte er. »Vielleicht treffe ich ihn wieder, wenn er größer ist . . .« Er ging weiter. »Die Kleine«, dachte er, »auch die Kleine ist nett . . . so hat Faline ausgesehen, als sie noch ein Kind war.«

Er ging weiter und verschwand im Walde.

 


 


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