Felix Salten
Bambi
Felix Salten

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Tief im Dickicht gab es ein Plätzchen, das Bambis Mutter gehörte. Es lag nur ein paar Schritte abseits von der schmalen Straße der Rehe, die hier den Wald durchlief, aber es war kaum zu finden, wenn man den kleinen Einschlupf im dichten Buschwerk nicht kannte.

Eine ganze enge Kammer war es, so eng, daß nur die Mutter und Bambi darin ein wenig Raum hatten, und so niedrig, daß Bambis Mutter, wenn sie stand, das Haupt schon mitten in den Zweigen barg. Haselstrauch, Stechginster und Hartriegel wuchsen hier ineinander und fingen das wenige Sonnenlicht, das durch die Baumwipfel kam, so daß es niemals bis zum Boden dringen konnte. Hier in dieser Kammer war Bambi zur Welt gekommen und hier war seine und seiner Mutter Wohnung.

Die Mutter lag jetzt an die Erde gedrückt und schlief. Auch Bambi hatte ein wenig geschlummert. Nun war er plötzlich ganz munter geworden. Er stand auf und blickte umher.

Hier innen dämmerten die Schatten, daß es beinahe dunkelte. Man hörte den Wald leise rauschen. Hin und wieder zirpten die Meisen, hier und da klang das helle Auflachen eines Spechtes oder der freudlose Ruf einer Krähe. Sonst war alles still, weit und breit. Nur die Luft kochte in der Hitze des Mittags, und das konnte man vernehmen, wenn man aufmerksam lauschte. Hier innen war es dunstig zum Verschmachten.

Bambi sah zur Mutter nieder: »Schläfst du?«

Nein, die Mutter schlief nicht. Sie war sofort erwacht, als Bambi sich erhoben hatte.

»Was tun wir jetzt?« fragte Bambi.

»Nichts«, antwortete die Mutter, »wir bleiben, wo wir sind. Leg' dich schön hin und schlafe.«

Aber Bambi hatte keine Lust zu schlafen. »Komm«, bat er, »komm auf die Wiese.«

Die Mutter hob das Haupt: »Auf die Wiese? Jetzt . . . auf die Wiese . . .?« Sie sprach so erstaunt und so voll Schrecken, daß Bambi ganz ängstlich wurde.

»Kann man denn jetzt nicht auf die Wiese?« fragte er schüchtern.

»Nein«, gab die Mutter zur Antwort, und es klang sehr entschieden. »Nein, das ist jetzt nicht möglich.«

»Warum?« Bambi merkte, daß hier etwas Unheimliches im Spiele sei. Er wurde noch ängstlicher, zugleich aber reizte es ihn, alles zu erfahren. »Warum kann man jetzt nicht auf die Wiese?«

»Du wirst das später alles kennenlernen, wenn du etwas älter bist . . .«, beschwichtigte die Mutter.

Bambi drängte: »Sag' mir's doch lieber jetzt.«

»Später«, wiederholte die Mutter. »Jetzt bist du noch ein kleines Kind«, fuhr sie zärtlich fort, »und mit Kindern redet man nicht von solchen Dingen.« Sie war ganz ernst geworden. »Jetzt . . . auf die Wiese . . . ich mag nicht einmal daran denken. Am hellichten Tag . . .!«

»Aber«, wendete Bambi ein, »als wir auf die Wiese gingen, war es ja auch heller Tag.«

»Das ist etwas anderes«, erklärte die Mutter, »es war am frühen Morgen.«

»Darf man nur am frühen Morgen hin?« Bambi war zu neugierig.

Die Mutter hatte Geduld. »Nur am frühen Morgen oder am späten Abend . . . oder des Nachts . . .«

»Und nie bei Tag? Niemals . . .?«

Die Mutter zögerte. »Doch«, sagte sie endlich, »manchmal . . . einige von uns gehen manchmal auch bei Tag hinaus. Aber das sind besondere Umstände . . . ich kann dir das nicht so erklären . . . du bist noch zu klein . . . manche gehen . . . aber sie sind dabei in der größten Gefahr . . .«

»Wieso sind sie in Gefahr?« Bambi war nun ganz voll Spannung.

Die Mutter jedoch wollte nicht recht mit der Sprache heraus. »Sie sind eben in Gefahr . . . du hörst ja, mein Kind, daß du diese Dinge jetzt noch nicht begreifen kannst . . .«

Bambi dachte, daß er alles begreifen könne, nur nicht, warum ihm die Mutter keine genaue Auskunft geben wollte. Aber er schwieg.

»Wir müssen so leben«, sprach die Mutter weiter, »wir alle. Wenn wir auch den Tag lieben . . . und wir lieben den Tag, besonders in unserer Kindheit . . . wir müssen doch so leben, daß wir uns bei Tag stillhalten. Erst vom Abend bis zum Morgen dürfen wir umhergehen. Verstehst du das?«

»Ja.«

»Nun, mein Kind, deshalb müssen wir jetzt hier bleiben, wo wir sind. Hier sind wir sicher. So! Und nun leg' dich wieder hin und schlafe.«

Doch Bambi wollte sich jetzt nicht hinlegen. »Warum sind wir hier sicher?« fragte er.

»Weil alle Sträucher uns bewachen, weil die Zweige an den Büschen knistern, weil das dürre Reisig am Boden knackt und uns warnt, weil das welke Laub vom vorigen Jahre auf der Erde liegt und raschelt, um uns ein Zeichen zu geben . . . weil der Häher da ist und die Elster ebenso, die Wache halten, und weil wir dadurch schon von weitem wissen, wenn jemand kommt . . .«

»Was ist das«, erkundigte sich Bambi, »das Laub vom vorigen Jahre?«

»Komm, setze dich zu mir«, sagte die Mutter, »ich will es dir erzählen.« Da setzte sich Bambi willig hin, schmiegte sich dicht an die Mutter, und sie erzählte ihm, daß die Bäume nicht immer grün bleiben, daß die Sonne und die schöne Wärme verschwinden. Dann wird es kalt, die Blätter werden gelb vor Frost, braun und rot, und sie fallen langsam ab, so daß die Bäume wie die Sträucher die kahlen Äste zum Himmel strecken und vollständig verarmt aussehen. Die welken Blätter aber liegen am Boden, und wenn ein Fuß sie berührt, so rascheln sie: Es kommt jemand! Oh, sie sind gut, diese dürren Blätter vom vorigen Jahre. Sie leisten treffliche Dienste, so eifrig und so wachsam wie sie sind. Jetzt noch, mitten im Sommer, halten sich viele von ihnen unter dem jungen Bodenwuchs versteckt und warnen schon von weitem vor jeder Gefahr.

Bambi drückte sich eng an die Mutter. Er vergaß die Wiese. Es war so behaglich, hier zu sitzen und zuzuhören, wenn die Mutter erzählte.

Als dann die Mutter schwieg, dachte er nach. Er fand es zu lieb von den guten, alten Blättern, daß sie so fleißig aufpaßten, obwohl sie doch welk und erfroren waren und schon so viel durchgemacht hatten. Er überlegte, was das wohl eigentlich sein könnte, die Gefahr, von der die Mutter immer redete. Aber das viele Nachdenken strengte ihn an; es war still ringsumher, man hörte nur, wie die Luft kochte vor Hitze. Und er schlief ein.

 


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