Felix Salten
Bambi
Felix Salten

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Bambi blieb noch oft allein. Doch er ängstigt sich nicht mehr so arg darüber wie die ersten Male. Die Mutter verschwand, und dann mochte er rufen, soviel er wollte, sie kam nicht. Aber unversehens erschien sie wieder.

Eines Nachts ging er wieder ganz verlassen umher. Nicht einmal Gobo und Faline hatte er gefunden. Der Himmel wurde schon fahlgrau, und es begann zu dämmern, so daß über dem Unterwuchs des Strauchwerks die Wölbungen der Baumwipfel sichtbar wurden. Da rauschte es im Gebüsch, ein langer Streifen von Brausen fuhr durch die Blätter hin, und die Mutter stob vorüber. Dicht hinter ihr drein fegte ein anderer. Bambi wußte nicht, wer es gewesen war. Tante Ena oder der Vater, oder sonst jemand. Die Mutter aber hatte er gleich erkannt, so geschwind sie auch an ihm vorbeigerast war. Er hatte ihre Stimme vernommen. Sie schrie, und Bambi schien es, als ob das im Scherz gewesen sei, doch es kam ihm vor, daß auch ein wenig Furcht mitgeklungen habe.

Ein anderes Mal war es bei Tage. Bambi strich durch die Dickungen, stundenlang. Endlich begann er zu rufen. Nicht etwa, weil ihm bange war. Er wollte nur nicht mehr so ganz allein bleiben, und er fühlte, daß ihm bald recht jämmerlich zumute sein würde. Also fing er an, nach der Mutter zu rufen.

Plötzlich stand einer von den Vätern vor ihm und sah ihn strenge an. Bambi hatte ihn nicht kommen hören, und er erschrak. Der Alte war gewaltiger anzuschauen als die andern, höher und stolzer. Sein Rock flammte in tiefer, dunkler Röte, aber sein Gesicht schimmerte schon silbergrau; und mächtig überragte eine hohe, schwarzgeperlte Krone die spielenden Lauscher. »Warum rufst du?« fragte der Alte streng. Bambi erzitterte vor Ehrfurcht und wagte keine Antwort. »Deine Mutter hat jetzt nicht Zeit für dich!« fuhr der Alte fort. Bambi war ganz vernichtet von dieser gebieterischen Stimme, zugleich aber bewunderte er sie. »Kannst du nicht allein sein? Schäme dich!« Bambi wollte sagen, daß er ganz gut allein sein könne, daß er schon oft allein gewesen sei, aber er brachte nichts heraus. Er war gehorsam und schämte sich fürchterlich. Der Alte kehrte sich ab und war fort. Bambi wußte nicht, wieso, noch wohin, wußte nicht, ob der Alte schnell oder langsam gegangen sei. Er war eben fort, so plötzlich, wie er gekommen war. Bambi lauschte angestrengt, aber er hörte keinen Schritt, der sich entfernte, hörte kein Blatt, das bewegt wurde. Er meinte deshalb, der Alte müsse noch ganz in der Nähe sein, und prüfte die Luft nach allen Seiten. Sie brachte ihm keine Witterung. Bambi atmete erleichtert auf, weil er nun wieder allein war, dabei aber fühlte er ein heftiges Verlangen, den Alten noch einmal zu sehen und seine Zufriedenheit zu erringen.

Als dann die Mutter kam, erzählte er ihr nichts von seiner Begegnung. Er rief auch nicht mehr nach ihr, wenn sie wieder verschwand. Er dachte an den Alten, während er allein umherstrich; er wünschte sich's heftig, ihm zu begegnen. Dann wollte er ihm sagen: »Sehen Sie, ich rufe nicht.« Und der Alte würde ihn loben.

Aber zu Gobo und Faline sprach er, als sie wieder zusammen auf der Wiese waren. Sie lauschten gespannt und konnten ihm kein Erlebnis berichten, das diesem vergleichbar gewesen wäre. »Hast du dich nicht gefürchtet?« fragte Gobo aufgeregt. Doch! Bambi gestand, daß er sich gefürchtet habe. Nur ein bißchen. »Ich hätte mich entsetzlich gefürchtet«, erklärte Gobo. Bambi erwiderte, nein, eine ganz große Angst habe er nicht gehabt, denn der Alte sei herrlich gewesen. Gobo meinte: »Das hätte mir wenig geholfen. Ich wäre vor Angst gar nicht imstande gewesen, ihn anzusehen. Wenn ich Angst habe, flimmert es mir gleich vor den Augen, daß ich nichts mehr sehe, und mein Herz klopft so stark, daß ich nicht atmen kann.« Faline war bei Bambis Erzählung sehr nachdenklich geworden und sagte gar nichts.

Das nächste Mal aber, als sie sich trafen, kamen Gobo und Faline in großer Hast herangesprungen. Sie waren wieder allein, wie Bambi auch. »Wir suchen dich schon die ganze Zeit«, rief Gobo. »Ja«, sagte Faline wichtig, »denn wir wissen jetzt ganz genau, wer das war, den du gesehen hast.« Bambi machte einen Sprung vor Neugierde. »Wer . . .!?«

Faline erzählte feierlich: »Es war der alte Fürst.«

»Woher wißt ihr das?« drängte Bambi.

»Von unserer Mutter!« erwiderte Faline.

Bambi zeigte sich erstaunt. »Habt ihr denn die Geschichte erzählt?« Die beiden nickten. »Es war doch ein Geheimnis!« rief Bambi entrüstet.

Gobo entschuldigte sich augenblicklich. »Ich bin es nicht gewesen. Faline hat es getan.« Aber Faline rief munter: »Ach was, Geheimnis! Ich wollte wissen, wer das ist. Jetzt wissen wir's, und das ist viel interessanter!« Bambi brannte darauf, alles zu hören, und war beschwichtigt. Faline sagte ihm alles. »Er ist der Vornehmste im ganzen Walde. Er ist der Fürst. Es gibt keinen zweiten, der ihm gleichkäme. Niemand weiß, wie alt er ist. Niemand kann sagen, wo er wohnt. Niemand kann seine Verwandtschaft nennen. Nur wenige haben ihn jemals gesehen. Manchmal hieß es schon, er sei tot, denn er war so lange nicht sichtbar gewesen, daß man es glaubte. Dann wurde er doch wieder erblickt, nur für einen Augenblick, und so erfuhr man, daß er noch am Leben sei. Niemand hat es je gewagt, ihn zu fragen, wo er gewesen. Er spricht mit niemandem, und keiner wagt es, ihn anzureden. Er geht Wege, auf denen kein anderer geht; er kennt den Wald bis in die fernsten Fernen. Und für ihn gibt es keine Gefahr. Die andern Prinzen kämpfen bisweilen untereinander, manchmal nur zur Probe und zum Scherz, manchmal im Ernst. Mit ihm hat seit vielen Jahren keiner mehr gekämpft. Und von denen, die früher einmal mit ihm gekämpft haben, vor langer Zeit, ja, von denen lebt nun kein einziger mehr. Er ist der große Fürst.«

Bambi verzieh es Gobo und Faline, daß sie sein Geheimnis ihrer Mutter ausgeplaudert hatten. Er war sogar zufrieden damit, denn nun hatte er ja alle diese wichtigen Dinge erfahren. Aber er freute sich doch, daß Gobo und Faline nicht alles so genau wußten. Daß der große Fürst gesagt hatte: »Kannst du nicht allein sein?«, daß er gesagt hatte: »Schäme dich!«, wußten sie nicht. Bambi war jetzt froh darüber, diese Zurechtweisung verschwiegen zu haben. Faline hätte das genau so erzählt wie alles übrige, und dann hätte der ganze Wald davon gesprochen.

In dieser Nacht, als der Mond aufging, kam Bambis Mutter wieder einmal zurück. Sie stand plötzlich unter der großen Eiche am Wiesenrand und sah sich nach Bambi um. Er gewahrte sie gleich und lief zu ihr. In dieser Nacht erlebte Bambi wieder etwas Neues. Die Mutter war müde und hungrig. Sie gingen nicht so weit umher wie sonst. Die Mutter sättigte sich auf der Wiese, wo auch Bambi schon die meisten seiner Mahlzeiten zu halten pflegte. Miteinander naschten sie dann noch an den Sträuchern und gerieten in dieser beschaulich vergnügten Art weiter und immer weiter in den Wald hinein. Da kam ein großes Rauschen durchs Gebüsch einher. Ehe Bambi noch ahnte, was sich begab, fing seine Mutter laut zu schreien an, wie manchmal, wenn sie sehr erschrak oder von Verwirrung befallen wurde. »A-oh!« schrie sie, machte einen Sprung, blieb stehen und schrie: »A-oh, ba-oh!« Nun erblickte Bambi gewaltige Erscheinungen, die in dem großen Rauschen vorüberzogen. Ganz nahe kamen sie vorbei. Sie glichen Bambi und Bambis Mutter, glichen Tante Ena und allen andern seiner Sippe, aber sie waren riesenhaft, sie waren so gewaltig an Wuchs, daß man überwältigt zu ihnen emporschauen mußte. Bambi fing gleichfalls zu zetern an. »A-oh . . . Ba-oh . . . Ba-oh!« Er wußte kaum, daß er schrie, er konnte nicht anders. Der Zug rauschte langsam vorüber. Drei, vier riesenhafte Erscheinungen hintereinander. Zuletzt kam einer, der war noch größer als die übrigen, hatte eine wilde Mähne am Halse und trug einen ganzen Baum als Krone. Es war atembeklemmend, das zu sehen. Bambi stand da und plärrte aus voller Brust, denn ihm war unheimlich zumute wie noch nie. Er hatte Angst, aber auf eine besondere Art. Er kam sich selbst erbärmlich klein vor, und sogar die Mutter schien ihm jammervoll verkleinert. Er schämte sich, ohne zu ahnen, warum, zugleich aber schüttelte ihn das Grauen, und er zeterte drauf los. »Ba-oh . . . Ba-a-oh!« Es wurde ihm leichter, wenn er so schrie.

Der Zug war vorüber. Man sah nichts mehr und hörte nichts mehr von ihm. Auch die Mutter schwieg. Nur Bambi plärrte von Zeit zu Zeit noch einmal kurz auf. Es stieß ihn noch immer.

»Sei schon ruhig«, sagte die Mutter, »sie sind ja fort.«

»Oh, Mutter«, flüsterte Bambi, »wer war das?«

»Ach, im Grunde ist es nicht so gefährlich«, sprach die Mutter, »das waren unsere großen Verwandten . . . ja . . . sie sind groß und sie sind vornehm . . . noch vornehmer als wir . . .«

»Und sie sind nicht gefährlich?« fragte Bambi.

»Für gewöhnlich nicht«, erklärte die Mutter. »Es soll freilich schon manches vorgekommen sein. Man spricht darüber das und jenes, aber ich weiß nicht, ob an diesen Geschichten etwas Wahres ist. Mir haben sie noch nie etwas getan, und auch sonst niemandem von meiner Bekanntschaft.«

»Warum sollten sie uns etwas tun«, meinte Bambi, »wenn sie doch unsere Verwandten sind?« Er wollte ruhig sein, allein er zitterte noch immer.

»Nein, sie tun uns wohl nichts«, antwortete die Mutter, »aber ich weiß nicht, ich erschrecke doch jedesmal, wenn ich sie sehe. Ich kann mich gar nicht fassen. Jedesmal geht es mir so.«

Bambi wurde durch dieses Gespräch nach und nach beschwichtigt, doch blieb er nachdenklich. Gerade über ihm, in den Zweigen einer Erle, gellte der Waldkauz aufsehenerregend. Doch Bambi war zerstreut und vergaß diesmal, sich anzustellen, als sei er erschrocken. Trotzdem kam der Waldkauz gleich herbei und erkundigte sich: »Hab' ich Sie vielleicht erschreckt?«

»Gewiß«, antwortete Bambi, »Sie erschrecken mich immer.«

Der Waldkauz lachte leise; er war zufrieden. »Hoffentlich nehmen Sie mir das nicht übel«, sagte er, »das ist nun mal so meine Art.« Er plusterte sich auf, daß er aussah wie eine Kugel, senkte den Schnabel in das flaumweiche Gefieder und machte ein furchtbar nettes, ernstes Gesicht. Er war vergnügt.

Bambi schüttete ihm sein Herz aus: »Wissen Sie«, begann er altklug, »ich habe vorhin einen noch viel größeren Schrecken gehabt.«

»So?« fragte der Waldkauz unzufrieden.

Bambi erzählte ihm von der Begegnung mit den riesigen Verwandten.

»Hören Sie mir mit den Verwandten auf«, rief der Waldkauz. »Ich habe auch Verwandte. Aber ich brauche mich nur am Tage irgendwo blicken zu lassen, so fallen sie gleich alle über mich her. Nein, Verwandte haben nicht viel Zweck. Sind sie größer als wir, so taugen sie nichts, und sind sie kleiner, taugen sie noch viel weniger. Sind sie größer als wir, dann können wir sie nicht leiden, weil sie stolz sind, und sind sie kleiner, dann können sie uns nicht leiden, weil dann wir die Stolzen sind. Nein, ich mag von der ganzen Geschichte nichts wissen.«

»Aber . . . ich kenne meine Verwandten gar nicht . . .« sagte Bambi schüchtern und sehnsüchtig. »Ich habe nie von ihnen gehört und habe sie heute zum erstenmal gesehen.«

»Kümmern Sie sich nicht um diese Leute«, riet ihm der Waldkauz. »Glauben Sie mir«, er verdrehte die Augen bedeutungsvoll, »glauben Sie mir, es ist das beste. Verwandte sind niemals so gut wie Freunde. Sehen Sie, wir beide sind gar nicht verwandt, aber gute Freunde sind wir, und das ist sehr angenehm.«

Bambi wollte noch etwas sagen, doch der Waldkauz fuhr fort: »Ich habe in diesen Dingen meine Erfahrung. Sie sind noch so jung. Glauben Sie mir, ich weiß das besser, Übrigens fällt es mir nicht ein, mich in Ihre Familienangelegenheiten einzumischen.« Er verdrehte die Augen so gedankenvoll und sah mit seinem ernsten Gesicht so bedeutend aus, daß Bambi bescheiden schwieg.

 


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