Felix Salten
Bambi
Felix Salten

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Alle merkten bald, daß Gobo eine Gewohnheit hatte, die seltsam und bedenklich war. Er schlief bei Nacht, wenn die andern wachten und umhergingen. Des Tages aber, während die andern ihre Verstecke suchten, um zu schlafen, war er munter und ging spazieren. Ja, er trat, wann er wollte, ohne Zögern, aus dem Dickicht und stand im hellen Sonnenlicht seelenruhig mitten auf der Wiese.

Bambi konnte nicht länger dazu schweigen. »Denkst du denn gar nicht an die Gefahr?« fragte er.

»Nein«, antwortete Gobo einfach, »für mich gibt es keine.«

»Du vergißt, mein lieber Bambi«, mengte sich Gobos Mutter ein, »du vergißt, daß Er sein Freund ist. Gobo darf sich mehr erlauben als du oder wir andern.« Und sie war sehr stolz. Bambi sagte nichts mehr. Eines Tages bemerkte Gobo zu ihm: »Weißt du, mitunter kommt es mir seltsam vor, daß ich hier so esse, wann ich will und wo ich will.«

Bambi verstand nicht. »Warum soll das seltsam sein? Das tun wir doch alle.«

»Ja . . . ihr!« meinte Gobo überlegen, »aber mit mir ist das etwas anderes. Ich bin gewohnt, daß man mir mein Essen bringt und mich ruft, wenn es bereit ist.«

Bambi sah Gobo mitleidig an, sah Tante Ena an, Faline und Marena. Aber sie lächelten nur und bewunderten Gobo.

»Ich glaube«, begann Faline, »du wirst dich schwer an den Winter gewöhnen, Gobo. Bei uns hier draußen gibt es im Winter überhaupt kein Heu, keine Rüben und keine Kartoffeln.«

»Das ist wahr«, antwortete Gobo nachdenklich, »daran habe ich noch gar nicht gedacht. Ich kann mir auch gar nicht mehr vorstellen, wie das ist. Es muß schrecklich sein.«

Bambi sagte ruhig: »Nicht schrecklich. Es ist nur schwer.«

»Nun«, erklärte Gobo großartig, »wenn es mir zu schwer wird, gehe ich einfach wieder zu Ihm. Warum soll ich denn hungern? Das hab' ich wirklich nicht nötig.«

Bambi wandte sich ohne ein Wort ab und ging fort.

Als Gobo dann wieder mit Marena allein war, begann er über Bambi zu reden. »Er versteht mich nicht«, sagte er, »der gute Bambi glaubt, ich bin immer noch der dumme, kleine Gobo, der ich früher einmal war. Er kann sich noch immer nicht damit abfinden, daß ich was Besonderes geworden bin. Die Gefahr! Was hat er nur mit der Gefahr? Er meint es ja gewiß recht gut mit mir, aber die Gefahr, das ist etwas für ihn und seinesgleichen, nicht für mich!«

Marena stimmte ihm bei. Sie liebte ihn, und Gobo liebte sie, und sie waren beide sehr glücklich.

»Siehst du«, sprach er zu ihr, »niemand versteht mich so gut wie du! Allerdings, ich kann mich ja nicht beklagen. Man achtet und ehrt mich allgemein. Aber du verstehst mich am besten. Die andern . . . wenn ich ihnen noch so oft erzähle, wie gut Er ist, sie hören mich an, sie denken gewiß nicht, daß ich lüge, doch sie bleiben dabei, daß Er furchtbar sein muß!«

»Ich glaubte stets an Ihn«, sagte Marena schwärmerisch.

»So?« erwiderte Gobo leichthin.

»Erinnerst du dich«, fuhr Marena fort, »an jenen Tag, an welchem du im Schnee liegen bliebst? An jenem Tage sagte ich, Er werde einmal zu uns in den Wald kommen und mit uns spielen . . .«

»Nein«, erwiderte Gobo gedehnt, »daran kann ich mich nicht erinnern.«

Ein paar Wochen verstrichen, und ein Morgen dämmerte, da fanden sich Bambi und Faline, Gobo und Marena in der alten, heimatlichen Haseldickung zusammen. Bambi und Faline kamen eben von ihrer Wanderung heim, waren an der Eiche vorbeigegangen und wollten ihr Lager aufsuchen, als sie Gobo und Marena begegneten. Gobo war im Begriff, auf die Wiese hinauszugehen.

»Bleib doch bei uns«, sagte Bambi, »die Sonne wird gleich herauf sein, jetzt geht niemand mehr hinaus ins Freie.«

»Lächerlich«, spottete Gobo, »wenn niemand geht . . . ich gehe.«

Er schritt weiter, Marena folgte ihm.

Bambi und Faline waren stehengeblieben. »Komm!« sagte Bambi voll Ärger zu Faline. »Komm! Er soll machen, was er will.«

Sie wollten weiter. Da schrillte draußen, auf der andern Seite der Wiese, der Häher, laut und warnend.

Mit einem Ruck kehrte Bambi um und rannte Gobo nach. Knapp vor der Eiche holte er ihn und Marena ein.

»Hörst du?« rief er ihn an.

»Was denn?« fragte Gobo verdutzt.

Wieder schrillte der Häher vom andern Rande der Wiese her.

»Hörst du nicht?« wiederholte Bambi.

»Nein«, sagte Gobo ruhig.

»Es ist Gefahr!« drängte Bambi.

Jetzt schäkerte eine Elster hell auf, gleich nachher wieder eine und augenblicklich hinterdrein eine dritte. Dazwischen kreischte der Häher noch einmal, und hoch aus den Lüften gaben die Krähen Signale.

Auch Faline begann jetzt zu bitten: »Geh nicht hinaus, Gobo! Es ist Gefahr!«

Selbst Marena bat: »Bleib hier! Mir zuliebe, bleib heute hier . . . es ist Gefahr!«

Gobo stand da und lächelte überlegen. »Gefahr! Gefahr! Was kümmert das mich?«

Bambi hatte einen Gedanken, den die Not des Augenblicks ihm eingab: »Laß wenigstens Marena zuerst hinaus, damit wir wissen . . .«

Er hatte noch nicht vollendet, da war Marena schon hinausgeschlüpft.

Sie standen alle drei und schauten ihr nach. Bambi und Faline atemlos, Gobo mit offenkundiger Geduld, als wollte er den andern ihren närrischen Willen lassen.

Sie sahen, wie Marena Schritt vor Schritt in die Wiese trat, langsam, das Haupt erhoben, mit zögernden Beinen. Sie spähte und witterte nach allen Seiten.

Plötzlich eine blitzschnelle Wendung, ein hoher Sprung, und wie vom Sturm gefegt, stob sie in die Dickung zurück. »Er . . . Er ist da!« flüsterte sie mit einer vor Entsetzen erstickten Stimme. Sie bebte am ganzen Leibe. »Ich . . . ich . . . habe . . . Ihn gesehen . . . Er . . . ist da . . .« stammelte sie, »dort drüben . . . bei den Erlen steht Er . . .«

»Fort!« rief Bambi, »auf der Stelle fort!«

»Komm!« flehte Faline. Und Marena, die fast nicht mehr sprechen konnte, flüsterte: »Ich bitte dich, Gobo, komm jetzt . . . ich bitte dich . . .«

Aber Gobo blieb ruhig. »Lauft doch, soviel ihr laufen könnt«, sagte er, »ich hindere euch ja nicht. Wenn Er da ist, will ich Ihn begrüßen.«

Gobo war nicht zu halten.

Sie blieben und sahen, wie er hinausging. Sie blieben, denn seine große Zuversicht übte einen Zwang auf sie, und zugleich hielt die ungeheure Angst um ihn sie fest. Sie konnten sich nicht von der Stelle rühren.

Gobo stand frei auf der Wiese, sah umher und suchte die Erlen. Jetzt schien er sie gefunden, jetzt schien er Ihn erblickt zu haben. Da krachte der Donnerschlag.

Gobo wurde vom Knall in die Höhe gerissen, machte jählings kehrt und flog in geschleuderten Sätzen zurück ins Dickicht.

Sie standen noch, vom Schreck gelähmt, als er herankam. Sie hörten seinen Atem pfeifen, wandten sich mit ihm, der nicht innehielt, sondern in besinnungslosen Sätzen weiterstürmte, nahmen ihn in ihre Mitte und ergaben sich der vollen Flucht.

Gleich darauf aber brach Gobo zusammen.

Marena stand sofort still, ganz nahe bei ihm. Bambi und Faline etwas weiter weg, fluchtbereit.

Gobo lag mit aufgerissener Flanke und blutig herausgequollenen Eingeweiden. Er hob das Haupt in drehender, matter Bewegung.

»Marena . . .« sagte er mühsam, »Marena . . . Er hat mich nicht erkannt . . .« Die Stimme zerbrach ihm.

Es rauschte ungestüm und rücksichtslos im Gebüsch von der Wiese her.

Marena senkte ihr Haupt zu Gobo. »Er kommt!« flüsterte sie drängend. »Gobo . . . Er kommt! Kannst du nicht auf und mit mir . . .?«

Gobo hob wiederum schwach in drehenden Bewegungen den Hals, schlug zuckend mit den Läufen und blieb liegen.

Prasselnd, knackend und rauschend teilten sich die Büsche, und Er trat heran.

Marena sah Ihn ganz nahe. Langsam wich sie zurück, entschwand hinter dem Gestrüpp, eilte zu Bambi und Faline.

Einmal noch wandte sie sich um, da sah sie, wie Er sich über den Gestürzten beugte und nach ihm griff.

Dann hörten sie Gobos klagenden Todesschrei.

 


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