Felix Salten
Bambi
Felix Salten

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Bambi suchte den Alten. Nächtelang streifte er umher, wanderte um die Stunde des Sonnenaufgangs und zur Stunde der Morgenröte auf ungebahnten Wegen, ohne Faline.

Manchmal trieb es ihn noch zu Faline, manchmal war er noch ebenso gerne mit ihr beisammen wie früher, fand es schön, mit ihr umherzugehen, ihr Plaudern zu hören, mit ihr auf der Wiese oder am Saum der Dickungen Mahlzeit zu halten; aber das genügte ihm nicht mehr so ganz.

Früher hatte er im Beisammensein mit Faline nur selten einmal und nur flüchtig seiner Begegnungen mit dem Alten gedacht. Jetzt war er auf der Suche nach dem Alten, empfand ein unerklärlich dringendes Verlangen, ihn zu sehen, und erinnerte sich nur zwischendurch einmal an Faline. Sie konnte er immer haben, sooft er wollte. Mit den anderen aber, mit Gobo, mit Tante Ena zusammenzusein, lockte ihn wenig. Er vermied es, wo er konnte.

Das Wort, das der Alte über Gobo gesagt hatte, klang in Bambi nach. Er war davon merkwürdig stark getroffen worden. Gobo hatte ihn gleich vom ersten Tage seiner Wiederkehr an sonderbar gerührt. Bambi wußte nicht, warum, aber Gobos Anblick hatte sofort auch etwas Quälendes für ihn gehabt. Bambi schämte sich für Gobo, ohne zu wissen, weshalb; und er bangte für ihn, ohne zu wissen, warum. Wenn er aber jetzt mit dem arglosen, selbstbewußten, vergnügt hochmütigen Gobo beisammen war, kam ihm beständig das eine Wort in den Sinn: Unglücklicher! Er wurde es nicht los.

In einer dunklen Nacht jedoch, in der Bambi dem Käuzchen zu Gefallen wieder einmal beteuert hatte, daß er arg erschrocken sei, fiel es ihm plötzlich ein, zu fragen: »Wissen Sie vielleicht, wo der Alte jetzt sein mag?«

Das Käuzchen gurrte, es habe keine blasse Ahnung. Aber Bambi merkte, daß es nur nicht mit der Sprache herausrücken wollte.

»Nein«, sagte er, »das glaube ich Ihnen nicht. Sie sind so klug, Sie wissen alles, was im Walde vorgeht . . . Sie wissen sicherlich auch, wo der Alte steckt.«

Das Käuzchen, das ganz aufgeplustert war, legte seine Federn an den Leib und wurde schmal. »Natürlich weiß ich es«, gurrte es noch leiser, »aber ich darf es nicht sagen . . . ich darf wirklich nicht . . .«

Bambi begann zu bitten: »Ich werde Sie nicht verraten . . . wie könnte ich das auch, wo ich Sie doch so sehr verehre . . .«

Das Käuzchen wurde wieder zu einer schönen, weichen, graubraunen Kugel, verdrehte seine klugen, großen Augen ein wenig, wie immer, wenn ihm wohl zumute war, und fragte: »Soso, Sie verehren mich also wirklich? Und warum?«

Bambi zögerte nicht. »Weil Sie so weise sind«, sagte er aufrichtig, »und trotzdem so lustig und so freundlich. Und weil Sie so gut imstande sind, andere zu erschrecken. Es ist so klug, die anderen zu erschrecken, so ganz besonders klug. Ich wollte, ich könnte das auch, das würde mir von sehr großem Nutzen sein.«

Das Käuzchen hatte den Schnabel tief in den Brustflaum gesenkt und war glücklich.

»Nun«, sagte es, »ich weiß, daß der Alte Sie gut leiden mag . . .«

»Glauben Sie das?« rief Bambi dazwischen, und sein Herz begann freudig zu klopfen.

»Ja, ich glaube es wohl«, antwortete das Käuzchen, »er mag Sie gut leiden, und deshalb denke ich, daß ich es wagen darf, Ihnen zu sagen, wo er jetzt ist . . .« Es zog seine Federn dicht an den Leib und wurde plötzlich wieder ganz dünn. »Kennen Sie den tiefen Graben, wo die Weiden stehen?«

»Ja«, nickte Bambi.

»Kennen Sie auf der anderen Seite die junge Eichendickung?«

»Nein«, gestand Bambi, »ich bin noch niemals auf der anderen Seite gewesen.«

»So merken Sie gut auf«, das Käuzchen flüsterte, »auf der andern Seite ist die Eichendickung. Da müssen Sie durch. Dann kommt Gebüsch, viel Gebüsch, Hasel und Silberpappel, Weißdorn und Liguster. Mitten drin liegt eine alte, vom Winde gebrochene Buche. Sie müssen danach suchen, denn da unten, von Ihnen aus, kann man sie sicher nicht so leicht sehen wie von oben, aus der Luft. Dort wohnt der Alte. Unter dem Stamm. Aber . . . verraten Sie mich nicht!«

»Unter dem Stamm?«

»Ja!« Das Käuzchen lachte. »An einer Stelle ist dort in der Erde eine Mulde. Der Stamm liegt hohl darüber. Und dort ist er.«

»Ich danke«, sagte Bambi herzlich. »Ich weiß nicht, ob ich ihn finden werde, aber ich danke tausendmal.«

Rasch lief er fort.

Lautlos flog ihm das Käuzchen nach und fing dicht über ihm zu gellen an. »U-j? U-ij!«

Bambi fuhr zusammen.

»Sind Sie erschrocken?« fragte das Käuzchen.

»Ja . . .«, stammelte er und sagte diesmal die Wahrheit.

Das Käuzchen gurrte ganz vergnügt und meinte: »Ich wollte Sie nur noch einmal erinnern – verraten Sie mich nicht!«

»Gewiß nicht!« beteuerte Bambi und lief davon. Als er an den Graben kam, tauchte aus der nachtfinstern Tiefe der Alte vor ihm auf, so lautlos und so plötzlich, daß Bambi wiederum erschreckt zusammenfuhr.

»Ich bin nicht mehr dort, wo du mich suchst«, sagte der Alte.

Bambi schwieg.

»Was willst du von mir?« fragte der Alle.

»Nichts . . .« stotterte Bambi, »oh . . . nichts . . . verzeihen Sie . . .«

Der Alte sagte nach einer Weile, und es klang milde: »Du suchst mich nicht erst seit heute.«

Er wartete. Bambi schwieg. Der Alte fuhr fort: »Gestern bist du zweimal ganz nahe bei mir vorbeigegangen und heute morgen wieder zweimal, ganz nahe . . .«

»Warum . . .« Bambi nahm seinen Mut zusammen, »warum haben Sie das von Gobo gesagt . . .?«

»Meinst du, daß ich unrecht habe?«

»Nein«, rief Bambi leidenschaftlich, »nein! Ich fühle, daß es wahr ist!«

Der Alte nickte kaum merklich, und seine Augen sahen Bambi an, so gütig wie nie vorher.

Bambi sagte in diese Augen: »Aber . . . warum? . . . Ich kann es nicht begreifen!«

»Es genügt, daß du es fühlst. Du wirst es später begreifen. Leb wohl.«

 


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