Felix Salten
Bambi
Felix Salten

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Bambi war allein. Er ging an das Wasser, das still zwischen Schilf und Uferweiden hinfloß.

Oft und öfter kam er nun hierher, seit er sich allein hielt. Hier gab es wenig Straßen, und hier traf er fast niemals jemanden von den Seinigen. Gerade das aber wollte er. Denn ihm war nun der Sinn ernst geworden und das Gemüt schwer. Was in ihm vorging, wußte er nicht, dachte auch gar nicht darüber nach. Er grübelte nur planlos verworren vor sich hin, und ihm war, als sei das ganze Leben dunkler geworden.

Am Ufer pflegte er lange zu stehen. Der Wasserlauf, der hier in sanfter Krümmung vorbeifloß, bot einen weiten Blick. Der kühle Atem der Wellen brachte erfrischend bittere, ungewohnte Gerüche mit herauf, deren Witterung Sorglosigkeit und Zutrauen weckte. Bambi stand da und sah den Enten zu, die hier gesellig beisammen waren. Sie redeten unablässig miteinander, freundlich, ernst und klug. Es waren ein paar Mütter, und jede hatte eine ganze Kinderschar um sich her, die beständig unterrichtet wurde und unermüdlich lernte. Manchmal gab die eine oder die andere von den Müttern ein Warnungszeichen. Dann stoben die jungen Enten nach allen Seiten davon; ohne Zögern, wie ausgestreut, glitten sie auseinander, vollkommen lautlos. Bambi sah einen Augenblick, wie die Kleinen, die noch nicht fliegen konnten, im dichten Schilf dahinzogen, behutsam, ohne ein Rohr zu streifen, damit es nicht verräterisch ins Schwanken gerate. Da und dort sah er in den Binsen die dunklen, kleinen Körper langsam verhuschen. Dann sah er gar nichts mehr. Ein kurzer Ruf der Mutter, und im Nu wirbelten sie alle wieder herbei. Im Nu war ihr Geschwader wieder versammelt, und sie begannen, wie vorher, bedächtig zu kreuzen. Bambi bewunderte das immer von neuem. Es war wie ein Kunststück.

Nach einem solchen Alarm fragte er einmal eine von den Müttern: »Was hat's denn vorhin gegeben? Ich habe genau aufgepaßt, aber nichts bemerkt.«

»Es war auch nichts«, antwortete die Ente.

Ein anderes Mal hatte von den Kindern eines das Warnungszeichen gegeben, hatte blitzschnell gewendet, steuerte durchs Rohr gerade zu der Uferstelle, wo Bambi stand, und kam herauf.

Bambi fragte das Kleine: »Was war denn jetzt? Ich habe nichts bemerkt.«

»Es war auch nichts«, gab das Junge zur Antwort, schüttelte altklug die Steißfedern, legte die Spitzen der Schwingen sorglich darüber zurecht und ging wieder ins Wasser.

Trotzdem verließ sich Bambi auf die Enten. Er begriff, daß sie wachsamer waren als er, daß sie schärfer hörten und besser sahen. Wenn er hier stand, gab die stete Spannung, die ihn sonst erfüllte, ein wenig nach.

Er sprach auch gerne mit den Enten. Sie redeten nicht das Zeug, das er von den übrigen so oft schon gehört hatte. Sie erzählten von der weiten Luft, vom Winde und von fernen Feldern, auf denen man in köstlichen Leckerbissen schwelgte.

Manchmal sah Bambi etwas Kleines durch die Luft an sich vorüberzucken, dicht am Ufer entlang, wie einen feuerfarbigen Blitz. »Srrr-ih!« schrie der Eisvogel leise für sich und zuckte vorbei. Ein kleiner, schwirrender Punkt. Er glühte in Blau und Grün, funkelte rot, leuchtete auf und war weg. Bambi staunte begeistert, wünschte sich, den seltsamen Fremden aus der Nähe zu sehen, und rief ihn an.

»Geben Sie sich keine Mühe«, sagte das Rohrhuhn aus dem dichten Schilf zu ihm herauf. »Geben Sie sich nur keine Mühe, der antwortet Ihnen ja doch nicht.«

»Wo sind Sie?« fragte Bambi und spähte im Schilf umher.

Aber an einer ganz andern Stelle lachte das Rohrhuhn hell auf. »Hier bin ich! Der mürrische Kerl, den Sie vorhin angesprochen haben, redet mit niemandem. Es ist ganz umsonst, ihn zu rufen.«

»Er ist so schön!« sagte Bambi.

»Aber schlecht!« gab das Rohrhuhn, wieder von einer andern Stelle her, zurück.

»Warum glauben Sie das?« erkundigte sich Bambi.

Von einer ganz andern Seite her antwortete das Rohrhuhn: »Er kümmert sich um niemanden und um nichts. Da kann geschehen, was will. Er grüßt nie und hat noch nie für einen Gruß gedankt. Er gibt niemandem ein Zeichen, wenn Gefahr in der Nähe ist. Er hat noch nie mit irgend jemandem ein Wort gesprochen.«

»Der Arme . . .« sagte Bambi.

Das Rohrhuhn fuhr fort, und seine munter piepende Stimme klang jetzt wieder von einer andern Seite her: »Er glaubt wahrscheinlich, daß man ihn um seine paar Farben beneidet, und will nicht einmal, daß man ihn genauer anschaut.«

»Sie lassen sich ja auch nicht blicken«, meinte Bambi.

Sofort stand das Rohrhuhn vor ihm. »An mir ist nichts zu sehen«, sagte es einfach. Schmal, glänzend vom Wasser, stand es da in einem schlichten Kleid, mit seiner zierlichen Gestalt, unruhig, beweglich, vergnügt. Und im Husch war es auch schon wieder weg.

»Ich verstehe nicht, wie man so lange auf einem Fleck bleiben kann«, rief es aus dem Wasser. Und wieder von einer andern Seite her fügte es hinzu: »Das ist langweilig und gefährlich, so lange auf einem Flecke zu bleiben.« Abermals von einer andern Seite her jauchzte es ein paarmal hell auf. »Man muß sich bewegen!« rief es fröhlich herüber. »Wenn man sicher leben und satt werden will, dann muß man sich bewegen!«

Ein leises Knistern der Grashalme ließ Bambi aufschrecken. Er sah sich um. Dort, an der Böschung schimmerte es rötlich und verschwand im Schilf. Zugleich kam eine warme, scharfe Witterung in seinen Atem. Dort schlich der Fuchs. Bambi wollte rufen und warnend den Boden stampfen, da rauschte das jäh im Sprunge geteilte Röhricht, das Wasser platschte, und verzweifelt schrie eine Ente. Bambi hörte das Knattern ihrer Schwingen, sah ihren weißen Leib im Grünen aufschimmern und sah jetzt, wie ihre Flügel mit lautem Klatschen dem Fuchs die Wangen peitschten. Dann wurde es still.

Gleich darauf kam der Fuchs die Böschung herauf und hielt die Ente im Maul. Ihr Hals hing schlaff herab, ihre Schwingen bewegten sich noch ein wenig, der Fuchs beachtete es nicht. Er sah mit spöttisch stechenden Augen Bambi von der Seite an und zog langsam ins Dickicht.

Bambi stand bewegungslos.

Knatternd waren ein paar von den alten Enten aufgestiegen und flogen in fassungslosem Schreck davon. Das Rohrhuhn gellte Warnungsrufe nach allen Seiten. Die Meisen im Gebüsch zwitscherten erregt, die jungen Enten stoben im Schilf umher und klagten, verwaist, mit leisen Tönen.

Der Eisvogel zuckte am Ufer entlang.

»Bitte!« riefen die jungen Enten, »bitte, haben Sie unsere Mutter gesehen?«

»Srrr-ih!« schrillte der Eisvogel und zuckte funkelnd vorüber. »Was geht ihr mich an!«

Bambi wandte sich ab und ging. Er wanderte durch eine dichte Wildnis von Goldruten, zog durch einen Plan hoher Buchen, durchquerte altes Haselgebüsch, bis er an den Rand des großen Grabens gelangte. Hier strich er irr umher, in der Hoffnung, dem Alten zu begegnen. Er hatte ihn lange, hatte ihn seit Gobos Ende nicht gesehen.

Jetzt erblickte er ihn schon von weitem und lief ihm entgegen.

Schweigend gingen sie eine Weile nebeneinander her. Dann fragte der Alte: »Nun . . . reden sie noch viel von ihm?«

Bambi verstand, daß Gobo gemeint sei, und erwiderte: »Ich weiß es nicht . . . ich bin jetzt fast immer allein . . .« Er zögerte: ». . . aber . . . ich muß sehr viel an ihn denken.«

»So!« sprach der Alte, »bist du jetzt allein?«

»Ja«, sagte Bambi erwartungsvoll, aber der Alte schwieg.

Sie gingen weiter. Plötzlich blieb der Alte stehen. »Hörst du nichts?«

Bambi lauschte. Nein, er hörte nichts.

»Komm!« rief der Alte und eilte voraus. Bambi folgte ihm.

Wieder blieb der Alte stehen. »Hörst du noch immer nichts?«

Jetzt vernahm Bambi ein Geräusch, das er nicht begriff. Es war wie von Zweigen, die niedergezerrt werden und widerspenstig aufschnellen. Dabei schlug etwas dumpf und unregelmäßig gegen den Boden.

Bambi wollte sich zur Flucht wenden.

»Komm!« rief der Alte und lief in der Richtung des Geräusches. Bambi an seiner Seite wagte die Frage: »Ist keine Gefahr dort?«

»Doch!« antwortete der Alte finster. »Dort ist große Gefahr!«

Bald sahen sie die Zweige, an denen von unten her gezerrt und gerüttelt wurde, sich ruckweise stürmisch bewegen. Sie kamen heran und merkten, daß eine kleine Straße mitten durch den Busch lief.

Freund Hase lag am Boden, schleuderte sich hin und her, zappelte, lag still, zappelte wieder, und jede seiner Bewegungen riß an den Zweigen über ihm.

Bambi gewahrte einen dunklen Strich, gleich einer Ranke. Der wand sich straff von dem einen Zweig zum Hasen nieder und umschlang seinen Hals.

Nun mußte Freund Hase gehört haben, daß jemand kam. Wie rasend warf er sich in die Höhe, fiel zu Boden, wollte flüchten, kugelte niedergerissen ins Gras und zappelte.

»Lieg still!« herrschte ihn der Alte an, und mitleidig, mit einer sanften Stimme, die Bambi durchs Herz ging, wiederholte er ganz nahe bei ihm: »Sei ruhig, Freund Hase, ich bin's! Beweg' dich jetzt nicht. Bleib ganz still liegen.«

Regungslos lag der Hase flach am Boden. Sein geschnürter Atem röchelte leise.

Der Alte nahm den Zweig mit der seltsamen Ranke zwischen die Lippen, zog ihn herab, trat kunstvoll sich wendend darauf, hielt ihn unter den harten Schalen seiner Füße fest an die Erde und knickte ihn nun mit einem einzigen Schlag seiner Krone.

Dann neigte er sich zum Hasen. »Halt still«, sagte er, »wenn's auch weh tut.«

Das Haupt zur Seite geneigt, legte er die eine Stange seiner Krone dicht an das Genick des Hasen, drückte sie ihm hinter den Löffeln fest ins Fell, tastete damit und nickte. Der Hase begann sich zu winden.

Sofort fuhr der Alte zurück. »Ruhig!« befahl er. »Es geht um dein Leben!« Er begann von neuem. Der Hase lag still und röchelnd. Bambi stand in sprachlosem Staunen dabei.

Jetzt hatte die eine Stange des Alten, fest in den Pelz des Hasen gedrückt, die Schlinge unterfahren. Der Alte kniete beinahe, drehte wie bohrend das Haupt, schob die Krone tiefer und tiefer in die Schlinge, die endlich nachgab und sich zu lockern begann.

Der Hase bekam Luft, und sogleich brach seine Angst, brachen seine Schmerzen laut aus ihm heraus. »E . . . e . . . eh!« Er weinte jammernd.

Der Alte hielt inne. »Schweig doch«, rief er mild verweisend, »schweig doch!« Sein Mund lag dicht an des Hasen Schulter, seine Krone stand mit einer Stange zwischen den Löffeln, und es sah aus, als habe er den Hasen gespießt.

»Wie kannst du nur so dumm sein und jetzt weinen«, murrte er ohne Strenge. »Willst du den Fuchs herbeirufen? Ja? Nun also. Halte dich ruhig.«

Er arbeitete weiter, langsam, vorsichtig, angestrengt. Plötzlich gab die Schlinge mit einem langen Rutscher nach. Der Hase schlüpfte heraus und war frei, ohne daß er es im Augenblick wußte. Er machte einen Schritt und blieb betäubt sitzen. Dann hoppte er davon. Zuerst langsam, schüchtern, dann immer schneller. Schließlich rannte er in wilden Sprüngen.

Bambi sah ihm nach. »Ohne zu danken!« rief er verblüfft.

»Er ist noch ganz von Sinnen«, sagte der Alte.

Die Schlinge lag rund am Boden. Bambi stieß leicht dagegen; sie klirrte, und Bambi erschrak. Das war ein Klang, der nicht zum Walde gehörte.

»Er . . .?« fragte Bambi leise. – Der Alte nickte.

Sie schritten still nebeneinander weiter. »Nimm dich in acht«, sagte der Alte, »wenn du auf einer Straße gehst, prüfe die Zweige, strecke die Krone voraus, auf und nieder, und kehre gleich um, wenn du dieses Klirren hörst. Wenn aber die Zeit da ist, in der du keine Krone trägst, dann gib doppelt acht. Ich gehe längst keine Straße mehr.«

Bambi versank in erregtes Grübeln.

»Er ist nicht da . . .« flüsterte er tief erstaunt vor sich hin.

Der Alte antwortete: »Nein . . . jetzt ist Er nicht im Walde.«

»Und dennoch Er!« Bambi schüttelte den Kopf.

Der Alte fuhr fort, und seine Stimme war voll Bitterkeit: »Wie hat euer Gobo doch gesagt . . .? Hat er euch nicht vorgeredet, daß Er allmächtig ist und allgütig . . .?«

Bambi flüsterte: »Ist er denn nicht allmächtig?«

»Ebenso, wie er allgütig ist«, grollte der Alte.

Verzagt meinte Bambi: ». . . zu Gobo . . . zu ihm ist Er doch gütig gewesen . . .«

Der Alte blieb stehen. »Glaubst du das, Bambi?« fragte er traurig. Zum erstenmal nannte er Bambi beim Namen.

»Ich weiß nicht!« rief Bambi gequält. »Ich verstehe es nicht!«

Der Alte sagte langsam: »Man muß leben lernen . . . und auf der Hut sein.«

 


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